HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2024
25. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

927. BGH 2 StR 382/23 – Urteil vom 27. März 2024 (LG Köln)

BGHSt; Selbstleseverfahren (übrige Beteiligten: Nebenklage, Auslegung; Revision des Angeklagten: Rüge der Nichtbeteiligung der Nebenklage, Rechtskreis des Angeklagten; Feststellung des Vorsitzenden: Durchführung ohne Beteiligung der Nebenklage, Auslegung; Disponibilität der Teilnahme am Selbstleseverfahren: Nebenklage, keine gesonderte Protokollierung, ungewollte Abwesenheit wegen Verhinderung; fehlendes Einverständnis der Nebenklage: Auslegung).

§ 249 Abs. 2 StPO; § 261 StPO; § 337 StPO

1. Nebenkläger und deren bestellte anwaltliche Vertreter rechnen zu den übrigen Beteiligten im Sinne des § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO und haben das Recht, dass ihnen Gelegenheit zur Kenntnisnahme von den in der Selbstleseanordnung genannten Urkunden gewährt wird. (BGHSt)

2. Die Teilnahme am Selbstleseverfahren ist für Nebenkläger und deren bestellte anwaltliche Vertreter disponibel. Ein Selbstleseverfahren kann auch ohne deren Beteiligung durchgeführt werden. (BGHSt)

3. Waren Nebenkläger und/oder deren anwaltliche Vertreter an einem Selbstleseverfahren nicht beteiligt, müssen diese auch nicht von der Feststellung des Vorsitzenden nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO umfasst sein, um den ordnungsgemäßen Abschluss des Selbstleseverfahrens und damit die ordnungsgemäße Einführung der in das Selbstleseverfahren gegebenen Urkunden in die Hauptverhandlung zu bewirken. (BGHSt)


Entscheidung

876. BGH 5 StR 393/23 – Beschluss vom 13. März 2024 (LG Bremen)

Glaubhaftmachung bei Beweisantrag nach Fristablauf (hinreichende Wahrscheinlichkeit; pflichtgemäßes Ermessen; Mittel der Glaubhaftmachung; „parate“ Beweismittel; ladungsfähige Anschrift des Zeugen).

§ 244 Abs. 6 StPO

1. Gemäß § 244 Abs. 6 Satz 5 StPO sind diejenigen Tatsachen, die eine Einhaltung der für Beweisanträge bestimmten Frist unmöglich gemacht haben, mit dem nach Fristablauf gestellten Antrag glaubhaft zu machen. Als Ergebnis der Glaubhaftmachung müssen die entscheidungsrelevanten Tatsachen zwar nicht in einer Weise bewiesen sein, dass sie zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Das Gericht muss die relevanten Umstände – insoweit gilt nichts anderes als etwa bei § 45 Abs. 2 StPO – aber zumindest für hinreichend wahrscheinlich ansehen, wobei es nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat.

2. Zur Glaubhaftmachung sind grundsätzlich „parate“ Beweismittel zu verwenden. Dies folgt aus Sinn und Zweck der Glaubhaftmachung, die dem Gericht eine sofortige Entscheidung ermöglichen soll, ohne dass weitergehende Untersuchungen über die Hintergründe der Verspätung, die das Verfahren weiter verzögern würden, erforderlich sind. Dieser Zweck würde konterkariert, wenn ein Zeuge, der in der Hauptsache gehört werden soll, auch als Mittel der Glaubhaftmachung herangezogen wird und dieser insofern lediglich mit ladungsfähiger Anschrift im Antrag angegeben ist.


Entscheidung

877. BGH 5 StR 413/23 – Urteil vom 28. Februar 2024 (LG Bremen)

Absoluter Revisionsgrund bei Verstoß gegen Vorschriften über den Ausschluss der Öffentlichkeit (erneute Zeugenvernehmung; neuer Beschluss; restriktive Interpretation des absoluten Revisionsgrundes).

§ 338 Nr. 6 StPO; § 171b GVG; § 174 GVG

1. Die strafrechtliche Hauptverhandlung ist grundsätzlich öffentlich (§ 169 GVG). Die Öffentlichkeit kann nur ausnahmsweise nach Maßgabe der §§ 171 ff. GVG ausgeschlossen werden. Stets ist hierfür nach § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG ein Beschluss des erkennenden Gerichts notwendig. Dies gilt auch, wenn ein Zeuge in der laufenden Hauptverhandlung – nach seiner Entlassung (§ 248 StPO) – erneut unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommen werden soll. Der erforderliche neue Beschluss kann nicht durch eine Anordnung des Vorsitzenden ersetzt werden, in der auf einen vorangegangenen, die Öffentlichkeit ausschließenden, Beschluss Bezug genommen wird. Eine Ausnahme hiervon kann nur in ganz engen zeitlichen Grenzen in Betracht kommen, etwa wenn die Entlassung des Zeugen sofort zurückgenommen und sich die erneute Vernehmung zusammen mit der vorausgegangenen als eine einheitliche Vernehmung darstellt.

2. Trotz des eindeutigen Wortlauts des § 338 Nr. 6 StPO hat der Bundesgerichtshof für den Fall des Fehlens eines von § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG vorgeschrieben Gerichtsbeschlusses eine restriktive Auslegung des § 338 Nr. 6 StPO für den Ausschluss der Öffentlichkeit für die Schlussanträge (§ 171b Abs. 2 Satz 3 GVG) angenommen (vgl. BGH HRRS 2019 Nr. 716). Denn wenn die Öffentlichkeit von der Verhandlung wegen einer in § 171b Abs. 2 GVG genannten Straftat ganz oder teilweise ausgeschlossen war, ist sie nach § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG für die Schlussanträge zwingend auszuschließen, ohne dass es eines hierauf gerichteten Antrags bedarf. Diese Folge steht ab dem Öffentlichkeitsausschluss mithin für alle Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit fest. Ein derartiger tatbestandlicher Rückbezug auf eine feststehende innerprozessuale Tatsache lässt sich der Regelung des § 171b Abs. 3 Satz 1 GVG indes nicht entnehmen, weshalb hier mit Blick auf die hohe Bedeutung der Öffentlichkeitsmaxime im demokratischen Rechtsstaat eine vergleichbar restriktive Interpretation von § 338 Nr. 6 StPO nicht in Betracht kommt.


Entscheidung

879. BGH 5 StR 469/23 – Beschluss vom 21. Mai 2024 (LG Berlin)

Keine Hinweispflicht in der Revisionsinstanz bei beabsichtigter Schuldspruchänderung.

§ 265 StPO; § 354 Abs. 1 StPO

Das Revisionsgericht ist weder einfachgesetzlich noch verfassungsrechtlich verpflichtet, den Verurteilten auf seine Rechtsauffassung oder den Inhalt seiner beabsichtigten Entscheidung hinzuweisen. Dies gilt auch dann, wenn es eine entsprechend § 354 Abs. 1 StPO zulässige Schuldspruchverschärfung vornimmt. Eine solche Hinweispflicht ergibt sich insbesondere nicht aus § 265 StPO, denn die auf die Besonderheiten der Tatsacheninstanz zugeschnittene Vorschrift ist im Revisionsverfahren nicht anwendbar.


Entscheidung

869. BGH 5 StR 85/24 – Beschluss vom 10. April 2024 (LG Berlin)

Hinweispflicht (Eindeutigkeit; bloße Bezeichnung abweichender Gesetzesbestimmungen; Tatsachen).

§ 265 StPO

1. Nach § 265 Abs. 1 StPO hat das Gericht einen förmlichen Hinweis zu erteilen, wenn infolge einer anderen rechtlichen Beurteilung bei gleichbleibendem Sachverhalt oder wegen neuer Erkenntnisse in tatsächlicher Hinsicht eine Verurteilung wegen eines anderen als dem in der Anklage bezeichneten Strafgesetzes in Betracht kommt. Der Hinweis muss geeignet sein, dem Angeklagten Klarheit über die tatsächliche Grundlage des abweichenden rechtlichen Gesichtspunktes zu verschaffen und ihn vor einer Überraschungsentscheidung zu bewahren.

2. Der Hinweis muss eindeutig sein und den Angeklagten und seinen Verteidiger in die Lage versetzen, die Verteidigung auf den neuen rechtlichen Gesichtspunkt einzurichten. Daher muss für den Angeklagten und den Verteidiger aus dem Hinweis allein oder in Verbindung mit der zugelassenen Anklage nicht nur erkennbar sein, auf welches Strafgesetz nach Auffassung des Gerichts eine Verurteilung möglicherweise gestützt werden kann, sondern auch, durch welche Tatsachen das Gericht die gesetzlichen Merkmale des Straftatbestandes als möglicherweise erfüllt ansieht.

3. Im Einzelfall kann bei einem Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO auch die bloße Bezeichnung der neu in Betracht kommenden Gesetzesbestimmungen ausreichen; dies gilt insbesondere bei unveränderter Sachlage, aber auch, wenn die tatsächlichen Grundlagen des neu in Betracht gezogenen Straftatbestandes für den Angeklagten ohne Weiteres zweifelsfrei ersichtlich sind.

4. Durch den mit Gesetz vom 17. August 2017 geschaffenen § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist der Umfang der Hinweispflicht nach § 265 Abs. 1 StPO nicht erweitert worden.


Entscheidung

887. BGH 6 StR 117/24 (alt: 6 StR 295/23) – Beschluss vom 29. April 2024 (LG Würzburg)

Entscheidung bei Gesetzesänderung, Schuldspruchänderung (Teilrechtskraft); Meistbegünstigungsprinzip (milderes Gesetz); Konsumcannabisgesetz; Handeltreiben mit Cannabis.

§ 2 Abs. 3 StGB; § 354a StGB; § 354 StGB; § 34 Abs. 1 Nr. 4 KCanG

Das Revisionsgericht hat eine nach der Entscheidung des Tatgerichts eingetretene, das angewendete Strafgesetz mildernde Gesetzesänderung trotz Rechtskraft des Schuldspruchs jedenfalls dann zu berücksichtigen, wenn nur die Strafandrohung gemildert worden oder die Strafbarkeit entfallen ist. Dies gilt gleichermaßen, wenn nur noch die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung anhängig ist.


Entscheidung

835. BGH 2 ARs 176/23 (2 AR 68/23) – Beschluss vom 14. Februar 2024

Zuständigkeitsbestimmung durch das gemeinschaftliche obere Gericht (nachträgliche Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung oder Verwarnung mit Strafvorbehalt: Nichtigkeit einer gerichtlichen Entscheidung, keine Rechtswirkung, fehlerhafte richterliche Entscheidung, Geist der Strafprozessordnung, Bewährungswiderrufsentscheidung, Aufhebung nach Eintritt der Rechtskraft).

§ 14 StPO; § 453 StPO

1. Nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen leiden gerichtliche Entscheidungen unter derart schwerwiegenden Mängeln, dass sie nichtig sind und von ihnen aufgrund dessen keine Rechtswirkungen ausgehen.

2. Eine fehlerhafte richterliche Entscheidung in diesem Sinne ist nur dann unbeachtlich, wenn es für die Rechtsgemeinschaft geradezu unerträglich wäre, die Entscheidung wegen des Ausmaßes und des Gewichts ihrer Fehlerhaftigkeit als gültig anzuerkennen, weil die Entscheidung ihrerseits dem Geist der Strafprozessordnung und wesentlichen Prinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung widerspricht und dies offenkundig ist. Ob eine fehlerhafte gerichtliche Entscheidung in diesem Sinne noch hinnehmbar ist, bestimmt sich nicht allein nach der Schwere des Fehlers und der Offenkundigkeit seines Vorliegens, sondern auch nach der sachlichen Bedeutung der gerichtlichen Entscheidung für das Verfahren. Ein und derselbe Verfahrensfehler hat deshalb nicht bei jeder von ihm betroffenen Entscheidung dieselbe Folge.


Entscheidung

836. BGH 2 ARs 408/23 (2 AR 170/23) – Beschluss vom 4. April 2024

Sachliche Zuständigkeit in Auslieferungssachen (Annexkompetenz; Unanfechtbarkeit: verfassungskonforme Auslegung).

§ 13 IRG; Art. 19 Abs. 4 GG

Die in § 13 Abs. 1 Satz 2 IRG geregelte Unanfechtbarkeit von Entscheidungen des Oberlandesgerichts, die für alle Entscheidungen im Auslieferungsverfahren gilt, beruht auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Gegen § 13 Abs. 1 Satz 2 IRG werden im Schrifttum im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht, die der Senat nicht teilt. Die dort teilweise vorgeschlagene „verfassungskonforme Auslegung“, die dazu führen soll, über § 77 Abs. 1 IRG in entsprechender Anwendung des § 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 eine Beschwerde zum Bundesgerichtshof zuzulassen, ist verfassungsrechtlich nicht geboten und scheidet im Übrigen

im Hinblick auf den Wortlaut und den klar erkennbaren gesetzgeberischen Willen aus.


Entscheidung

796. BGH 2 StR 528/23 – Beschluss vom 16. Mai 2024 (LG Hanau)

Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens (Eröffnungsbeschluss: Unterzeichnung, Wirksamkeitsvoraussetzung, mündliche Beschlussfassung, Verfahrenshindernis).

§ 199 StPO

Zwar ist die Unterzeichnung eines Eröffnungsbeschlusses durch die erlassenden Richter als solche keine Wirksamkeitsvoraussetzung. Vielmehr kann auch anderweit nachgewiesen werden, dass der Beschluss tatsächlich von allen hierzu berufenen Richtern gefasst worden ist. Das setzt jedoch eine mündliche Beschlussfassung oder eine dahin zu verstehende gemeinsame Besprechung oder Beratung voraus.


Entscheidung

807. BGH 3 StR 373/23 – Beschluss vom 21. Februar 2024 (LG Mainz)

Pflicht zur Aushändigung einer schriftlich übersetzten Anklage (verspätete Überlassung an den Angeklagten; Ausnahmen; Aussetzung; Unterbrechung); Recht auf ein faires Verfahren.

Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK; § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 265 Abs. 4 StPO; § 187 Abs. 2 GVG

Im Falle einer verspäteten Überlassung einer schriftlich übersetzten Anklage an den Angeklagten besteht keine allgemeine Pflicht zur Aussetzung der Hauptverhandlung; im Einzelfall kann eine Unterbrechung der Aussetzung vielmehr vorzuziehen sein.


Entscheidung

809. BGH 5 StR 26/24 – Beschluss vom 21. Mai 2024 (LG Hamburg)

Keine Erwähnung von Aussagen der Jugendgerichtshilfe in der Beweiswürdigung; Ausschöpfungsrüge.

§ 261 StPO; § 344 StPO; § 38 JGG

1. Allein die Nichterwähnung eines erhobenen Beweises (hier: der Aussage der Jugendgerichtshilfe zum Reifegrad des Angeklagten) belegt nicht, dass das Ergebnis der Beweiswürdigung nicht in die Überzeugungsbildung eingeflossen ist. Entscheidend ist vielmehr, ob das Gericht alle nach den Umständen des Einzelfalls relevanten Umstände erörtert hat (Klarstellung gegenüber BGH HRRS 2011 Nr. 565).

2. Eine sogenannte Ausschöpfungsrüge verspricht nur Erfolg, wenn in den Urteilsgründen eine Auseinandersetzung mit Beweisergebnissen (hier: dem Bericht der Jugendgerichtshilfe) fehlt, obwohl diese im Hinblick auf die vollständige Erfassung des relevanten Beweisstoffes und die inhaltliche Richtigkeit der Feststellungen geboten war. Ob dies der Fall ist, kann in aller Regel nur beurteilt werden, wenn auch –unter Beachtung des Rekonstruktionsverbots – der Inhalt des nach dem Beschwerdevorbringen zu berücksichtigenden Beweisergebnisses vorgetragen wird.


Entscheidung

801. BGH 4 StR 173/23 – Beschluss vom 12. März 2024 (LG Münster)

Ausschluss der Einziehung des Tatertrages oder des Wertersatzes (Auslegung von Verträgen durch den Tatrichter: beschränkte Revisibilität, D&O-Versicherung, Wissentlichkeitsklausel, Risikoausschluss, Haftpflichtschuld, Tilgung, Haftpflichtversicherung für fremde Rechnung; Erlöschen des Ersatzanspruches: Gesamtschuld, Vergleich; Übergang von Ersatzansprüchen: D&O-Versicherung).

§ 73e StGB; § 86 VVG; § 267 BGB; § 362 BGB; 426 BGB

Die Auslegung von Verträgen durch den Tatrichter unterliegt als wertender Akt einer nur eingeschränkten revisionsrechtlichen Kontrolle. Das Revisionsgericht kann sie nur auf Rechtsfehler hin überprüfen, insbesondere darauf, ob sie in sich widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, die Beweismittel nicht ausschöpft oder (sonst) gegen Denk- oder Erfahrungssätze verstößt.


Entscheidung

878. BGH 5 StR 447/23 – Beschluss vom 1. Februar 2024 (LG Berlin)

Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers (Anschlussberechtigung des Verletzten; gerichtliche Entscheidung).

§ 395 StPO; § 396 Abs. 2 StPO; § 400 Abs. 1 StPO

1. Nach § 400 Abs. 1 StPO kann der Nebenkläger das Urteil nicht mit dem Ziel anfechten, dass der Angeklagte wegen einer Gesetzesverletzung verurteilt wird, die nicht zum Anschluss des Nebenklägers berechtigt. Der Prüfungsumfang bei der Nebenklägerrevision erstreckt sich selbst dann nicht auf rechtswidrige Taten im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB, die nicht zum Anschluss des Nebenklägers berechtigen, wenn diese materiellrechtlich mit der zum Anschluss berechtigenden Straftat in Tateinheit stehen.

2. Zum Anschluss berechtigt ist bei einer rechtswidrigen Tat aus einer Deliktsgruppe des § 395 Abs. 3 StPO (hier der §§ 249 bis 255 StGB) nur der Verletzte, über dessen Berechtigung zum Anschluss als Nebenkläger das Gericht durch den Zulassungsbeschluss nach § 396 Abs. 2 StPO positiv entschieden hat. Denn anders als in den Fällen des § 395 Abs. 1 und 2 StPO kommt der gerichtlichen Zulassung hier angesichts der Notwendigkeit einer wertenden gerichtlichen Entscheidung über das Vorliegen der besonderen Gründe im Sinne von § 395 Abs. 3 StPO konstitutive Bedeutung zu.

3. Die Rechtsmittelbefugnis des Nebenklägers nach § 400 Abs. 1 StPO ist in diesen Fällen mithin davon abhängig, dass er gemäß § 395 Abs. 3 StPO für eine rechtswidrige Tat aus einer der dort genannten Deliktsgruppen gerichtlich als Nebenkläger zugelassen ist. Nur insoweit kann er das Urteil anfechten. Leitet der Verletzte seine Anschlussbefugnis als Nebenkläger aus einer rechtswidrigen Tat im Sinne von § 395 Abs. 3 StPO ab, so ist für das Revisionsverfahren mithin der hierfür konstitutive Zulassungsbeschluss nach § 396 Abs. 2 Satz 2 StPO maßgeblich.


Entscheidung

851. BGH 3 StR 121/24 – Beschluss vom 14. Mai 2024 (LG Kleve)

Unzulässige Würdigung des Schweigens des Angeklagten (Schweigerecht; Selbstbelastungsfreiheit; faires Verfahren; anfängliches Schweigen); Verschlechterungsverbot (Schuldspruchänderung zum Nachteil des

Angeklagten); Raub und räuberische Erpressung (Abgrenzung; tateinheitliches Zusammentreffen).

§ 249 StGB; § 255 StGB; § 136 Abs. 1 S. 2 StPO; § 358 Abs. 2 StPO; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG

1. Um das Schweigerecht des Angeklagten als elementarer Bestandteil eines fairen Verfahrens nicht zu entwerten, dürfen weder aus einem durchgängigen noch einem anfänglichen Schweigen eines Angeklagten für diesen nachteilige Schlüsse gezogen werden.

2. Raub und räuberische Erpressung sind nach dem äußeren Erscheinungsbild des Tatgeschehens abzugrenzen, und zwar danach, ob der Täter dem Opfer die betreffende Sache unter Anwendung beziehungsweise Androhung körperlicher Gewalt wegnimmt (Raub) oder das Opfer sie ihm eingedenk der Gewaltanwendung beziehungsweise -androhung herausgibt (räuberische Erpressung).

3. Raub und räuberische Erpressung können tateinheitlich zusammentreffen, wenn die Wegnahme auf ein anderes Tatobjekt gerichtet ist als die Herausgabe eines Vermögensbestandteils.


Entscheidung

860. BGH StB 28/24 – Beschluss vom 29. Mai 2024 (OLG Stuttgart)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen Ablehnung der Aussetzung des Strafrests zur Bewährung (technische Probleme; Versäumnisse der Verteidigung; Legalprognose).

§ 44 StPO; § 45 StPO; § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB

Im Rahmen einer sofortigen Beschwerde nach § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO gelten grundsätzlich die gleichen Maßstäbe für das Verschulden eines Beschwerdeführers in Fällen der Versäumung einer Frist wie bei Rechtsbehelfen gegen den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch. Soweit Beteiligte in Teilbereichen des Strafverfahrens für das Verschulden ihres anwaltlichen Vertreters einzustehen haben), stellt dies die Ausnahme dar und betrifft jedenfalls nicht Entscheidungen über das „Ob“ ihrer Haft.


Entscheidung

906. BGH 6 StR 458/23 – Urteil vom 14. Mai 2024 (LG Hof)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Überzeugung; Gesamtwürdigung des Beweisstoffs, Indiztatsachen).

§ 261 StPO

Ist eine Vielzahl einzelner Erkenntnisse angefallen, so ist eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Erst sie entscheidet letztlich darüber, ob der Richter die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten und den sie tragenden Feststellungen gewinnt. Auch wenn keine der Indiztatsachen für sich allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreicht, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtschau dem Tatrichter die entsprechende Überzeugung vermitteln. Dabei müssen die Indizien zueinander in Bezug gesetzt und gegeneinander abgewogen werden.