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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 835

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 176/23, Beschluss v. 14.02.2024, HRRS 2024 Nr. 835


BGH 2 ARs 176/23 (2 AR 68/23) - Beschluss vom 14. Februar 2024

Zuständigkeitsbestimmung durch das gemeinschaftliche obere Gericht (nachträgliche Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung oder Verwarnung mit Strafvorbehalt: Nichtigkeit einer gerichtlichen Entscheidung, keine Rechtswirkung, fehlerhafte richterliche Entscheidung, Geist der Strafprozessordnung, Bewährungswiderrufsentscheidung, Aufhebung nach Eintritt der Rechtskraft).

§ 14 StPO; § 453 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen leiden gerichtliche Entscheidungen unter derart schwerwiegenden Mängeln, dass sie nichtig sind und von ihnen aufgrund dessen keine Rechtswirkungen ausgehen.

2. Eine fehlerhafte richterliche Entscheidung in diesem Sinne ist nur dann unbeachtlich, wenn es für die Rechtsgemeinschaft geradezu unerträglich wäre, die Entscheidung wegen des Ausmaßes und des Gewichts ihrer Fehlerhaftigkeit als gültig anzuerkennen, weil die Entscheidung ihrerseits dem Geist der Strafprozessordnung und wesentlichen Prinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung widerspricht und dies offenkundig ist. Ob eine fehlerhafte gerichtliche Entscheidung in diesem Sinne noch hinnehmbar ist, bestimmt sich nicht allein nach der Schwere des Fehlers und der Offenkundigkeit seines Vorliegens, sondern auch nach der sachlichen Bedeutung der gerichtlichen Entscheidung für das Verfahren. Ein und derselbe Verfahrensfehler hat deshalb nicht bei jeder von ihm betroffenen Entscheidung dieselbe Folge.

Entscheidungstenor

Für die weitere Bewährungsaufsicht und die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung beziehen, ist das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge zuständig.

Gründe

Die Amtsgerichte Detmold und Neustadt am Rübenberge streiten über die Zuständigkeit für die weiteren nachträglichen Entscheidungen, die sich auf eine Strafaussetzung zur Bewährung beziehen.

I.

Das Amtsgericht Detmold hat gegen den Verurteilten am 25. Januar 2022 unter Einbeziehung einer Einzelstrafe aus einer früheren Verurteilung eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Dem Verurteilten wurde auferlegt, eine Schadenswiedergutmachung in Höhe von 2.520 Euro in monatlichen Raten von 70 Euro an den Geschädigten zu zahlen.

Nachdem der Verurteilte nach Auffassung des Amtsgerichts Detmold seiner Auflage zur Schadenswiedergutmachung nicht nachgekommen und einem gerichtlichen Anhörungstermin unentschuldigt ferngeblieben war, sowie auch im Übrigen nicht auf gerichtliche Schreiben geantwortet hatte, hat das Amtsgericht Detmold mit Beschluss vom 30. Juni 2022, rechtskräftig seit dem 16. Juli 2022, die Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe gemäß § 56f Abs. 1 StGB widerrufen; tatsächlich hatte der Verurteilte die ihm auferlegten Zahlungen jedoch erbracht. Das von ihm gestellte Gnadengesuch wies das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen zurück, weil es nicht ausgeschlossen erscheine, dass das Amtsgericht Detmold seine Widerrufsentscheidung selbst aufheben werde. Daraufhin hat das Amtsgericht Detmold am 24. November 2022 den rechtskräftigen Beschluss vom 30. Juni 2022 „zurückgenommen“ und die Feststellung getroffen, dass der Bewährungsbeschluss vom 25. Januar 2022 mit Ausnahme der Zahlungsauflage „wiederauflebt“.

Wegen des Wohnsitzwechsels des Verurteilten im Dezember 2022 hat das Amtsgericht Detmold die weiteren die Strafaussetzung zur Bewährung betreffenden Entscheidungen mit Beschluss vom 5. Januar 2023 gemäß § 462a Abs. 2 Satz 2, § 453 Abs. 1 StPO an das als Wohnsitzgericht zuständige Amtsgericht Neustadt am Rübenberge übertragen. Das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge hat die Übernahme abgelehnt, weil das Bewährungsverfahren mit der Rechtskraft der Widerrufsentscheidung vom 30. Juni 2022 seinen Abschluss gefunden habe; die Aufhebung dieses Beschlusses sei unzulässig gewesen.

Die Staatsanwaltschaft Detmold hat die Sache dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreites vorgelegt.

II.

1. Der Bundesgerichtshof ist nach § 14 StPO als gemeinschaftliches oberstes Gericht der Amtsgerichte Detmold (Bezirk des Oberlandesgerichts Hamm) und Neustadt am Rübenberge (Bezirk des Oberlandesgerichts Celle) zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits berufen.

2. Für die weitere Bewährungsaufsicht und die nachträglichen Entscheidungen, die sich auf die Strafaussetzung zur Bewährung beziehen, ist das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge zuständig.

a) Die Zuständigkeit des Amtsgerichts Neustadt am Rübenberge folgt aus § 462a Abs. 2 Satz 2, § 453 Abs. 1 StPO. Demnach kann das Gericht des ersten Rechtszugs die nach § 453 StPO zu treffenden Entscheidungen an das Amtsgericht abgeben, in dessen Bezirk der Verurteilte seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hat. Diese Abgabeentscheidung ist gemäß § 462a Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz StPO grundsätzlich bindend.

Eine solche Abgabeentscheidung hat das Amtsgericht Detmold getroffen. Eine willkürliche Abgabe, die die Bindungswirkung entfallen ließe (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Januar 1992 - 2 ARs 577/91, NStZ 1992, 399; KK-StPO/Appl, 9. Aufl., § 462a Rn. 27 mwN), liegt nicht vor. Das Vorgehen des Amtsgerichts Detmold entspricht den gesetzlichen Vorschiften, weil der Verurteilte seinen Wohnsitz im Bezirk des Amtsgerichts Neustadt am Rübenberge genommen hat.

b) Das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge konnte die Übernahme des Verfahrens insbesondere nicht mit der Begründung ablehnen, dass die „Zurücknahme“ des rechtskräftigen Bewährungswiderrufs vom 30. Juni 2022 rechtsfehlerhaft gewesen sei und deshalb keine Wirkungen entfalte.

aa) Nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen leiden gerichtliche Entscheidungen unter derart schwerwiegenden Mängeln, dass sie nichtig sind und von ihnen aufgrund dessen keine Rechtswirkungen ausgehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. November 1984 - 2 BvR 1350/84, NJW 1985, 125; BGH, Urteil vom 14. Mai 1957 - 5 StR 145/57, BGHSt 10, 278; Beschluss vom 16. Oktober 1980 - StB 29/80, BGHSt 29, 351, 352 f.; Urteile vom 24. Januar 1984 - 1 StR 874/83, NStZ 1984, 279, und vom 16. Januar 1985 - 2 StR 717/84, BGHSt 33, 126, 127; OLG Köln, Beschluss vom 2. August 2002 - Ss 290/02, NStZ-RR 2002, 341 f.; OLG München, Beschluss vom 17. Mai 2013 - 2 Ws 1149, 1150/12, NJW 2013, 2371, 2375).

Eine fehlerhafte richterliche Entscheidung in diesem Sinne ist nur dann unbeachtlich, wenn es für die Rechtsgemeinschaft geradezu unerträglich wäre, die Entscheidung wegen des Ausmaßes und des Gewichts ihrer Fehlerhaftigkeit als gültig anzuerkennen, weil die Entscheidung ihrerseits dem Geist der Strafprozessordnung und wesentlichen Prinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung widerspricht und dies offenkundig ist (BGH, Beschluss vom 16. Oktober 1980 - StB 29/80, BGHSt 29, 351, 353; Urteil vom 24. Januar 1984 - 1 StR 874/83, NStZ 1984, 279). Ob eine fehlerhafte gerichtliche Entscheidung in diesem Sinne noch hinnehmbar ist, bestimmt sich nicht allein nach der Schwere des Fehlers und der Offenkundigkeit seines Vorliegens, sondern auch nach der sachlichen Bedeutung der gerichtlichen Entscheidung für das Verfahren. Ein und derselbe Verfahrensfehler hat deshalb nicht bei jeder von ihm betroffenen Entscheidung dieselbe Folge (BGH, Beschluss vom 16. Oktober 1980 - StB 29/80, BGHSt 29, 351, 353 f.).

bb) Ausgehend von diesen Maßstäben kann dahinstehen, ob das Amtsgericht Detmold seinen Bewährungswiderrufsbeschluss vom 30. Juni 2022 aufheben durfte. Denn selbst wenn man dies - wozu der Senat neigt - für rechtsfehlerhaft hält, würde das Vorgehen des Amtsgerichts Detmold keinen derart schwerwiegenden Fehler darstellen, dass aus ihm die Nichtigkeit des „Rücknahmebeschlusses“ folgte.

(1) In der Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob Bewährungswiderrufsentscheidungen nach Eintritt der Rechtskraft aufgehoben werden können, wenn sich nachträglich herausstellt, dass sie materiell unrichtig sind.

Insbesondere in älteren Entscheidungen haben sich verschiedene Obergerichte für die Möglichkeit der Aufhebung eines Bewährungswiderrufs in entsprechender Anwendung der §§ 359 ff. StPO ausgesprochen (vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 22. Februar 1962 - 1 Ws 42/62, NJW 1962, 1169; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4. September 1978 - 2 Ws 215/78, Justiz 1978, 474; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Juli 1992 - 4 Ws 214/92, MDR 1993, 67; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 453 Rn. 17).

Inzwischen wendet sich die überwiegende Rechtsprechung jedoch gegen die Möglichkeit der Aufhebung eines rechtskräftigen Bewährungswiderrufsbeschlusses; insoweit komme dem Vertrauen in die Rechtskraft von Entscheidungen eine besondere Bedeutung zu, zumal das Gnadenverfahren offen stehe, wenn nachträglich die materielle Fehlerhaftigkeit einer solchen Entscheidung zutage tritt (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 1. August 1996 - 1 Ws 120-121/96, NStZ 1997, 55; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 6. Mai 1999 - 2 Ws 1/99, juris Rn. 9 ff., OLG Stuttgart, Beschluss vom 26. Januar 2001 - 2 Ws 16/01, wistra 2001, 239; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 1. Dezember 2003 - III-3 Ws 454/03, juris).

(2) Der Senat kann offenlassen, welcher Auffassung zu folgen ist. Denn die Aufhebung des Bewährungswiderrufs ist jedenfalls angesichts der Rechtsprechung verschiedener Oberlandesgerichte nicht unvertretbar, weshalb die Entscheidung des Amtsgerichts Detmold vom 24. November 2022 nicht in derart gravierender Weise fehlerhaft ist, dass sie unbeachtlich wäre. Die Abgabeentscheidung des Amtsgerichts Detmold ist mithin nicht willkürlich und bindet das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 835

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede