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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 869

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 85/24, Beschluss v. 10.04.2024, HRRS 2024 Nr. 869


BGH 5 StR 85/24 - Beschluss vom 10. April 2024 (LG Berlin)

Hinweispflicht (Eindeutigkeit; bloße Bezeichnung abweichender Gesetzesbestimmungen; Tatsachen).

§ 265 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach § 265 Abs. 1 StPO hat das Gericht einen förmlichen Hinweis zu erteilen, wenn infolge einer anderen rechtlichen Beurteilung bei gleichbleibendem Sachverhalt oder wegen neuer Erkenntnisse in tatsächlicher Hinsicht eine Verurteilung wegen eines anderen als dem in der Anklage bezeichneten Strafgesetzes in Betracht kommt. Der Hinweis muss geeignet sein, dem Angeklagten Klarheit über die tatsächliche Grundlage des abweichenden rechtlichen Gesichtspunktes zu verschaffen und ihn vor einer Überraschungsentscheidung zu bewahren.

2. Der Hinweis muss eindeutig sein und den Angeklagten und seinen Verteidiger in die Lage versetzen, die Verteidigung auf den neuen rechtlichen Gesichtspunkt einzurichten. Daher muss für den Angeklagten und den Verteidiger aus dem Hinweis allein oder in Verbindung mit der zugelassenen Anklage nicht nur erkennbar sein, auf welches Strafgesetz nach Auffassung des Gerichts eine Verurteilung möglicherweise gestützt werden kann, sondern auch, durch welche Tatsachen das Gericht die gesetzlichen Merkmale des Straftatbestandes als möglicherweise erfüllt ansieht.

3. Im Einzelfall kann bei einem Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO auch die bloße Bezeichnung der neu in Betracht kommenden Gesetzesbestimmungen ausreichen; dies gilt insbesondere bei unveränderter Sachlage, aber auch, wenn die tatsächlichen Grundlagen des neu in Betracht gezogenen Straftatbestandes für den Angeklagten ohne Weiteres zweifelsfrei ersichtlich sind.

4. Durch den mit Gesetz vom 17. August 2017 geschaffenen § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist der Umfang der Hinweispflicht nach § 265 Abs. 1 StPO nicht erweitert worden.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 22. September 2023 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit Beteiligung an einer Schlägerei zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die auf die Sachrüge und eine Verfahrensrüge gestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts hatten sich das spätere Opfer Ö. und der Zeuge B. wegen eines über Messenger-Dienste ausgetragenen Streits zum Zweikampf verabredet, wobei sich beide vor ihrem Zusammentreffen wiederholt beleidigten und der Zeuge B. zur Kommunikation teilweise das Telefon des Angeklagten nutzte, so dass auch auf diesem Gerät Nachrichten beleidigenden Inhalts eingingen. Im Vorfeld des anstehenden Kampfes bewaffnete sich der Zeuge B. mit einem Küchenmesser (Klingenlänge etwa 10 cm). Hiervon und über die anstehende Auseinandersetzung berichtete er seinen Freunden, darunter dem Angeklagten. Diese begleiteten den Zeugen B. zum vereinbarten Treffpunkt, an dem Ö., ebenfalls in Begleitung mehrerer Personen, erschien. Der Zeuge B. äußerte gegenüber einem der Begleiter des Ö., er wolle mit diesem einen Einzelkampf, wobei er zugleich ausrief, er werde Ö. umbringen, der habe seine Mutter beleidigt. Der Angeklagte, der Ö. aufgrund dessen Profilbildes erkannt hatte, fasste spätestens jetzt den Entschluss, sich dem Plan des Zeugen B. anzuschließen und auf den Geschädigten Ö. körperlich einzuwirken. Unter Missachtung der getroffenen Abrede über einen „Einzelkampf“ und im Bewusstsein der Bewaffnung des Zeugen B. sowie dessen vorheriger Todesdrohung lief der Angeklagte direkt auf den Geschädigten zu und versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Anschließend griff er nach dessen Beinen, um ihn zu Boden zu bringen. Während der darauffolgenden Rangelei war der Geschädigte zumeist im Vorteil, wurde aber zwischenzeitlich von einem der Begleiter des Zeugen B. weggezogen. Im Verlauf des Kampfgeschehens versuchte der Zeuge B., dem Geschädigten einen Tritt zu verpassen und bewegte sich auf diesen zu. Zu Gunsten des Angeklagten hat die Strafkammer angenommen, dass der Zeuge B. dem Geschädigten bei dieser Gelegenheit mit dem mitgeführten Messer zwei Stiche in den Oberkörper versetzte. Hierbei durchtrennte einer das Brustbein und der andere die Herzwand. An den Folgen der Herzverletzung verstarb der Geschädigte später im Krankenhaus durch Verbluten.

Das Landgericht hat die Tat rechtlich als (gemeinschaftliche) Körperverletzung mit Todesfolge gemäß §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4, § 227 Abs. 1 StGB in Tateinheit mit einer Beteiligung an einer Schlägerei gemäß § 231 Abs. 1 StGB gewürdigt. Dem Angeklagten seien als Mittäter sämtliche von dem stillschweigenden Einvernehmen gedeckten Handlungen des Zeugen B. zuzurechnen, namentlich die beiden Messerstiche in den Oberkörper des Geschädigten. In Kenntnis der Bewaffnung des Zeugen B. und der von ihm ausgesprochenen Todesdrohung gegen den Geschädigten habe der Angeklagte als Erster auf diesen eingewirkt, womit er zugleich das Verhalten des Mittäters billigte. Hinsichtlich der Todesfolge liege ihm Fahrlässigkeit zur Last. Er habe erkennen können, dass der eventuelle Einsatz eines Messers oder anderer Handlungen des Mittäters gemäß dessen Ankündigung zu tödlichen Verletzungen führen konnten.

II.

Die Verfahrensbeanstandung, mit der der Beschwerdeführer eine Verletzung der Hinweispflicht gemäß § 265 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3 StPO rügt, hat keinen Erfolg.

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

a) Mit Anklageschrift vom 26. Juli 2022 war dem Angeklagten zur Last gelegt worden, nach wechselseitigen Schlägen im Rahmen einer verabredeten körperlichen Auseinandersetzung, mit bedingtem Tötungsvorsatz den am Boden liegenden Geschädigten mindestens zweimal massiv mit einem Messer in den Oberkörper gestochen zu haben, wobei ein Stich das Herz traf und zum Tod führte. Nach dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen ergebe sich gegen den am Tatort ebenfalls anwesenden Zeugen B., obgleich er sich durch seinen Verteidiger dahingehend eingelassen habe, in Richtung des Geschädigten gestochen und diesen gegebenenfalls auch verletzt zu haben, kein dringender Tatverdacht. Nach den Angaben anderer Zeugen sei eine Einwirkungsmöglichkeit des Zeugen B. auf den Geschädigten ausgeschlossen. Zudem lasse sich die aus dem Obduktionsgutachten ergebende Stichführung nur mit der Position des Angeklagten zum Geschädigten erklären. Dass am Griff des vermeintlichen Tatmessers eine Mischspur mit dominanten Anteilen des Zeugen B. festgestellt werden konnte, ändere nichts an der Einschätzung, da auch Anteile der DNA des Angeklagten in der Spur enthalten gewesen seien.

Mit Beschluss vom 24. November 2022 hat die Strafkammer das Hauptverfahren eröffnet und zugleich den gegen den Angeklagten erlassenen Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 17. Januar 2022 aufgehoben, weil zwar ein hinreichender, jedoch kein dringender Tatverdacht bestehe. Denn nach dem Ergebnis der zur Anklage führenden Ermittlungen sei nicht auszuschließen, dass die Messerstiche durch den Zeugen B. ausgeführt wurden, welcher sich zuvor mit dem Geschädigten gestritten, ihn zur Durchführung einer Schlägerei aufgefordert und dem er mit dem Tod gedroht habe. Zudem sei die DNA des Zeugen B., der einen Messereinsatz gegen den Geschädigten über seinen Rechtsanwalt eingeräumt hatte, am Griff der mutmaßlichen Tatwaffe gefunden worden.

Am 12. Hauptverhandlungstag, den 25. August 2023, erteilte der Vorsitzende dem Angeklagten folgenden rechtlichen Hinweis: „Der Angeklagte wird für den Fall, dass nicht festgestellt wird, dass er die zum Tode führenden Messerstiche ausgeführt hat, gem. § 265 StPO darauf hingewiesen, dass möglicherweise auch eine Verurteilung wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung mit Todesfolge, §§ 227, 25 Abs. 2 StGB, in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, §§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 4 StGB, 25 Abs. 2 StGB, und mit Beteiligung an einer Schlägerei, § 231 StGB, in Betracht kommen kann.“ Am 14. Hauptverhandlungstag, den 14. September 2023, gab der Vorsitzende gemäß § 257b StPO bekannt, dass nach vorläufiger Bewertung der Beweisaufnahme die Strafkammer „nicht mit einer für eine Verurteilung notwendigen Sicherheit feststellen [könne], dass der Angeklagte die beiden Messerstiche eigenhändig gegen das Tatopfer geführt hat.“ Weitere Hinweise sind nicht erteilt worden.

b) Der Beschwerdeführer, der den Tatvorwurf bestritten und sich sonst nicht zur Sache eingelassen hat, ist der Auffassung, dass der ihm und seinem Verteidiger erteilte Hinweis sprachlich irreführend und inhaltlich unzureichend gewesen sei. Die tatsächliche Abweichung im Tatbild zwischen Anklagevorwurf und Urteil hätte durch Substantiierung des Hinweises förmlich bekannt gegeben werden müssen.

2. Die gesetzliche Hinweispflicht ist nicht verletzt.

a) Nach § 265 Abs. 1 StPO hat das Gericht einen förmlichen Hinweis zu erteilen, wenn infolge einer anderen rechtlichen Beurteilung bei gleichbleibendem Sachverhalt oder wegen neuer Erkenntnisse in tatsächlicher Hinsicht eine Verurteilung wegen eines anderen als dem in der Anklage bezeichneten Strafgesetzes in Betracht kommt. Der Hinweis muss eindeutig sein und den Angeklagten und seinen Verteidiger in die Lage versetzen, die Verteidigung auf den neuen rechtlichen Gesichtspunkt einzurichten. Daher muss für den Angeklagten und den Verteidiger aus dem Hinweis allein oder in Verbindung mit der zugelassenen Anklage nicht nur erkennbar sein, auf welches Strafgesetz nach Auffassung des Gerichts eine Verurteilung möglicherweise gestützt werden kann, sondern auch, durch welche Tatsachen das Gericht die gesetzlichen Merkmale des Straftatbestandes als möglicherweise erfüllt ansieht. Der Hinweis muss geeignet sein, dem Angeklagten Klarheit über die tatsächliche Grundlage des abweichenden rechtlichen Gesichtspunktes zu verschaffen und ihn vor einer Überraschungsentscheidung zu bewahren (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Mai 2021 - 3 StR 443/20 mwN; vom 13. Juli 2018 - 1 StR 34/18, NStZ 2018, 673, 674 f.; KKStPO/Bartel, 9. Aufl., § 265 Rn. 31; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 265 Rn. 73).

b) Der am 12. Hauptverhandlungstag vom Vorsitzenden der Strafkammer erteilte und protokollierte Hinweis erfüllte die genannten Anforderungen. Dieser bezeichnete die aus Sicht der Strafkammer abweichend von der zugelassenen Anklage in Betracht kommenden Straftatbestände, nach denen der Angeklagte sich bei Vorliegen einer bestimmt bezeichneten Sachverhaltsvariante schuldig gemacht haben könnte. Damit ist der gesetzlichen Hinweispflicht Genüge getan worden.

aa) Im Einzelfall kann bei einem Hinweis nach § 265 Abs. 1 StPO auch die bloße Bezeichnung der neu in Betracht kommenden Gesetzesbestimmungen ausreichen; dies gilt insbesondere bei unveränderter Sachlage, aber auch, wenn die tatsächlichen Grundlagen des neu in Betracht gezogenen Straftatbestandes für den Angeklagten ohne Weiteres zweifelsfrei ersichtlich sind (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Mai 2021 - 3 StR 443/20 mwN; Urteile vom 16. Oktober 1962 - 5 StR 276/62, BGHSt 18, 56, 57 f.; vom 3. November 1959 - 1 StR 425/59, BGHSt 13, 320, 324; BeckOK StPO/Eschelbach, 51. Ed., § 265 Rn. 18; KKStPO/Bartel, 9. Aufl., § 265 Rn. 31; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 265 Rn. 15b; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 265 Rn. 75). Letzteres ist hier der Fall gewesen.

bb) Die tatsächlichen Grundlagen der neu in Betracht gezogenen Straftatbestände waren für den (verteidigten) Angeklagten aufgrund des erteilten Hinweises zweifelsfrei ersichtlich. Die der geänderten rechtlichen Wertung der Strafkammer zugrundeliegenden tatsächlichen Annahmen ergaben sich aus der mit dem Eröffnungsbeschluss verbundenen Haftentscheidung. Diese zeigte einen alternativen Sachverhalt auf, wonach der Zeuge B. die zum Tode führenden Messerstiche gegen den Geschädigten eigenhändig ausgeführt haben konnte. Hierdurch hat die Strafkammer die bereits in der Anklageschrift aufgeworfene Frage eines Messereinsatzes durch diesen Zeugen aufgegriffen und anders gewertet. Genau auf dieses Alternativgeschehen hat sich der rechtliche Hinweis am 12. Hauptverhandlungstag bezogen („für den Fall, dass nicht festgestellt wird, dass [der Angeklagte] die zum Tode führenden Messerstiche ausgeführt hat“). Durch die zusätzliche Erklärung des Vorsitzenden am 14. Hauptverhandlungstag über die - einen sachlichen Bezug zum erteilten Hinweis und der Haftentscheidung aufweisende - vorläufige Bewertung des Ergebnisses der Beweisaufnahme ist dem Angeklagten und seinem Verteidiger die für die Entscheidung des Landgerichts maßgebliche Tatsachenbasis nochmals verdeutlicht worden. Weitergehende Anforderungen ergaben sich gemessen am Sinn und Zweck des § 265 StPO, den Angeklagten vor Überraschungen zu bewahren (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2020 - GSSt 1/20, BGHSt 66, 20, 26), nicht.

Durch den mit Gesetz vom 17. August 2017 geschaffenen § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist der Umfang der Hinweispflicht nach § 265 Abs. 1 StPO nicht erweitert worden. Der Gesetzgeber hat insoweit an die ständige Rechtsprechung angeknüpft, wonach eine Veränderung der Sachlage eine Hinweispflicht auslöst, wenn sie in ihrem Gewicht einer Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunkts gleichsteht. Die durch den Bundesgerichtshof hierzu entwickelten Grundsätze sollten kodifiziert, weitergehende Hinweispflichten hingegen nicht eingeführt werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Januar 2024 - 6 StR 276/23, NJW 2024, 1595, 1597; vom 20. Mai 2021 - 3 StR 443/20; vom 24. Juli 2019 - 1 StR 185/19, NStZ 2020, 97 f.; Urteil vom 9. Mai 2019 - 1 StR 688/18; KKStPO/Bartel, 9. Aufl., § 265 Rn. 26; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 265 Rn. 50).

III.

Die Überprüfung des Urteils auf die erhobene Sachrüge hat keinen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler ergeben.

Die Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge gemäß § 227 Abs. 1 StGB hält rechtlicher Prüfung stand. Der Einsatz des Messers gegen den Geschädigten war nach den Feststellungen vom gemeinsamen Tatplan des Angeklagten und des Zeugen B. umfasst. Die Annahme des Landgerichts, die letztlich zum Tode des Geschädigten führenden Handlungen des Zeugen B. seien vom stillschweigenden Einverständnis des Angeklagten gedeckt gewesen, beruht auf einer Gesamtschau aus dem Verhalten des Angeklagten, seiner Kenntnis von der Bewaffnung des Zeugen B. und von dessen Ausruf, er werde den Geschädigten umbringen. Indem der Angeklagte den Geschädigten unter diesen Umständen zuerst angriff, schloss er sich dem Tatplan des Zeugen B. an und billigte auch den Messereinsatz. Dass die Strafkammer den Angeklagten nicht wegen (mittäterschaftlichen) Totschlags gemäß § 212 Abs. 1 StGB in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB verurteilt hat, beschwert ihn nicht.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 869

Bearbeiter: Christian Becker