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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juli 2024
25. Jahrgang
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Von RA Dr. iur. h.c. Gerhard Strate, Hamburg
Vorbemerkung: Das lange erwartete Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs vom 30.04.2024 (C-670/22) = HRRS 2024 Nr. 644 hat eine größere Tragweite, als es die bislang spärlichen Reaktionen in der Fachliteratur erwarten lassen. In der nachfolgenden Analyse wird versucht, dies darzulegen. Um die Verständlichkeit und Lesbarkeit der hier angestellten Überlegungen zu erhöhen, werden im Folgenden vermehrt Originalzitate eingeflochten, um den Duktus der Gedankenführung nicht durch das Erfordernis ständigen Nachschlagens in den Literaturquellen zu unterbrechen. Das ist vor allem wegen der Eigenheiten des Europarechts angezeigt, das durch spezifische Begrifflichkeiten gekennzeichnet ist, die sich erst bei mehrmaligem Lesen dem Verständnis öffnen.
1. Voranzustellen ist bei allem Weiteren die Erkenntnis, dass die Auslegung der im Mittelbpunkt der EuGH-Entscheidung stehenden Richtlinie 2014/41 originär unionsrechtliche Bestimmungen betrifft. Alle staatlichen Stellen, insbesondere Gerichte und Behörden, sind entsprechend dem sog. Anwendungsvorrang verpflichtet, den Vorschriften des Unionsrechts den Vorrang in jedem konkret zu entscheidenden Fall einzuräumen und unionsrechtswidriges nationales Recht außer Anwendung zu lassen. Dies hat der Europäische Gerichtshof auch in jüngster Zeit akzentuiert eingefordert[1]. Das Unionsrecht ist dabei grundsätzlich von Amts wegen und nicht allein dann heranzuziehen, wenn sich ein Einzelner auf seine Geltung beruft[2].
2. Das hier in Rede stehende Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs vom 30.04.2024[3] weicht in drei wesentlichen Punkten von dem am 02.03.2022 – ohne vorherige Verhandlung über die Revision – gefassten Beschluss des Bundesgerichtshofs[4] ab.
Die belangvollen Abweichungen betreffen die Frage,
- ob es sich bei der Richtlinie 2014/41 (im Folgenden auch: RL EEA) um eine abschließende, den Rechthilfeverkehr innerhalb der EU-Staaten bestimmende Regelung handelt oder nicht; dies wird vom BGH verneint, vom EuGH bejaht (a);
- ob es sich bei der Infiltration von mobilen Endgeräten um eine Maßnahme der Telekommunikationsüberwachung handelt oder nicht. Dies wird vom BGH angezweifelt, vom EuGH bejaht (b);
- ob den Regelungen des Art. 31 der Richtlinie 2014/41 individualschützende Bedeutung zukommt oder nicht. Das wird vom BGH verneint, vom EuGH bejaht (c).
a) In dem Beschluss des BGH vom 02.03.2022 heißt es:
"Einen abschließenden Kanon von Ermittlungsmaßnahmen, deren Ergebnisse im Rahmen einer Europäischen Ermittlungsanordnung übermittelt werden könnten, enthält die RL EEA nicht (vgl. Erwägungsgrund Nr. 8, Art. 3 RL EEA)"[5]
Demgegenüber betont der Europäische Gerichtshof, dass es sich bei Richtlinie 2014/41 um eine unionsübergreifende Vorgabe handele, die folgenden Zweck erfüllen soll:
"86 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2014/41, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 5 bis 8 ergibt, den fragmentierten und komplizierten Rahmen für die Erhebung von Beweismitteln in Strafverfahren mit grenzüberschreitenden Bezügen ersetzen und durch die Einführung eines vereinfachten und wirksameren Systems, das auf einem einheitlichen Instrument beruht, das als Europäische Ermittlungsanordnung bezeichnet wird, die justizielle Zusammenarbeit erleichtern und beschleunigen soll, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraussetzt (Urteil vom 8. Dezember 2020. Staatsanwaltschaft Wien[Gefälschte Überweisungsaufträge], C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 39)."[6]
b) In seiner Entscheidung vom 02.03.2022 zieht der Bundesgerichtshof in Frage, ob es sich bei der (geheimdienstlichen) Infiltration von Endgeräten überhaupt um eine "Überwachung des Telekommunikationsverkehrs" im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 handele und bezweifelt, dass die in Art. 31 Abs. 1 (sowie einfachgesetzlich in § 91g Abs. 6 IRG) geregelten Unterrichtungspflichten des "überwachenden Staates" (hier Frankreich) gegenüber dem zu "unterrichtenden Staat" (hier: Deutschland) überhaupt dem Individualschutz des betroffenen Nutzers dienen; auf jeden Fall gelte der Individualschutz nicht im (deutschen) Inland:
"Losgelöst von der Frage, ob es bei der in Rede stehenden Beweisgewinnung überhaupt um die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs im Sinne von Art. 31 Abs. 1 RL EEA und § 91g Abs. 6 IRG geht ( vgl. United Kingdom, Court of Appeal[Criminal Division]vom 5. Februar 2021 –[2021]EWCA Crim 128, CRi 2021, 62; vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 30 der RL EEA), sollen diese Vorschriften den Betroffenen aber nicht vor einer Beweisverwendung im unterrichteten Staat (hier Deutschland), sondern allein vor einer Beweisverwendung im unterrichtenden Staat (hier Frankreich) bzw. im sonstigen europäischen Ausland schützen (vgl. Wahl, ZIS 2021, 452, 457; Zimmermann, ZfIStW 2022, 173, 178). Nur auf diesen Individualschutz stellt die Gesetzesbegründung ab (vgl. BT-Drucks. 18/9757, S. 75). Dies entspricht auch der Systematik des Rechtshilferechts. Die Unterrichtungspflicht dient zum einen vorrangig dem Schutz der deutschen Staatssouveränität, indem hiesige Stellen entscheiden sollen, welche strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen mit direkten Auswirkungen auf deutsches Hoheitsgebiet durchgeführt werden dürfen. Zum zweiten dient die Unterrichtungspflicht dem Grundrechtsschutz der betroffenen Person, allerdings nur insoweit, als es um die Beweisverwendung im Ausland geht. Den Schutz von Betroffenen vor einer Verwendung von Beweismitteln in einem deutschen Strafverfahren können das deutsche Verfassungs- und Prozessrecht ausreichend durch die Annahme eines Beweisverwendungs- oder -verwertungsverbots oder durch bestimmte Verwendungsvorbehalte leisten; hierfür bedarf es keiner Rechtshilfevorschriften, die lediglich den zwischenstaatlichen Rechtsverkehr regeln. Der individuelle Schutzzweck von Art. 31 Abs. 1 RL EEA und § 91g Abs. 6 IRG ist damit auf die Beweisverwendung im Ausland beschränkt und betrifft die Beweisverwendung im Inland nicht. "[7]
Demgegenüber bejaht der Europäische Gerichtshof ausdrücklich, dass es sich bei der Infiltration von Endgeräten, die auf die Abschöpfung von Kommunikationsdaten, aber auch von Verkehrs- und Standortdaten eines internetbasierten Kommunikationsdienstes abzielt, um eine "Überwachung des Telekommunikationsverkehrs" im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 handele:
"113 Was drittens das Ziel von Art. 31 der Richtlinie 2014/41 betrifft, geht aus deren 30. Erwägungsgrund hervor, dass die Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Rahmen dieser Richtlinie über die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs nicht auf den Inhalt des Telekommunikationsverkehrs beschränkt sein sollten, sondern sich auch auf die Erhebung von Verkehrs- und Standortdaten im Zusammenhang mit diesem Telekommunikationsverkehr erstrecken könnten.
114 Folglich handelt es sich bei einer Infiltration von Endgeräten, die auf die Abschöpfung von Kommunikationsdaten, aber auch
von Verkehrs- oder Standortdaten eines internetbasierten Kommunikationsdiensts abzielt, um eine "Überwachung des Telekommunikationsverkehrs" im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41."[8]
c) Auch betont der Europäische Gerichtshof – im Gegensatz zu der eben zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs – , dass Art. 31 der Richtlinie 2014/41 sich auch auf den Schutz der Rechte der von den Überwachungsmaßnahmen betroffenen Personen im "unterrichteten Staat" (hier: Deutschland) erstreckt:
Mit Frage 4 c) möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 31 der Richtlinie 2014/41 dahin auszulegen ist, dass er bezweckt, die Rechte der von einer Maßnahme der ‚Überwachung des Telekommunikationsverkehrs‘ im Sinne dieses Artikels betroffenen Nutzer zu schützen, und dass sich dieser Schutz auch auf die Verwendung der so gesammelten Daten zur Strafverfolgung im unterrichteten Mitgliedstaat erstreckt. (…)
124 Art. 31 der Richtlinie 2014/41 soll somit nicht nur die Achtung der Souveränität des unterrichteten Mitgliedstaats gewährleisten, sondern auch sicherstellen, dass das in diesem Mitgliedstaat im Bereich der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs garantierte Schutzniveau nicht unterlaufen wird. Da eine Maßnahme der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs einen Eingriff in das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Privatleben und Kommunikation der Zielperson darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a., C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 36), ist daher davon auszugehen, dass Art. 31 der Richtlinie 2014/41 auch den Schutz der Rechte der von einer solchen Maßnahme betroffenen Personen bezweckt und dass sich dieser Zweck auf die Verwendung der Daten zu Strafverfolgungszwecken im unterrichteten Mitgliedstaat erstreckt."[9]
3. Von entscheidender Bedeutung ist vor allem, dass der EuGH den individualschützenden Charakter des Art. 31 der Richtlinie 2014/41 anerkennt.
Zuvor ist allerdings die Feingliederung des EuGH-Urteils ins Bewusstsein zu rufen. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist Abschluss eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV. Der Gerichthof entscheidet keinen Fall, sondern beantwortet Fragen.
Die erste Frage des LG Berlin betraf die Zuständigkeit für den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung. Das Landgericht Berlin war der Auffassung, wenn die EEA sich auf Beweismittel richte, die im Anordnungsstaat nur durch die Entscheidung eines Richters zugänglich gemacht werden, dies auch für den Vollstreckungsstaat, in dessen Händen sich die Beweismittel befinden, gelten müsse[10]. Der zweite Fragenkomplex des Landgerichts Berlin betraf eine von ihm gesehene Diskrepanz zwischen der Rechtsprechung des EuGH zur Zulässigkeit einer Vorratsdatenspeicherung einerseits und der Auffassung des Bundesgerichthofs, eine nicht spezifizierte Verdachtslage hinsichtlich vielfältiger Straftaten sei ausreichend gewesen, um eine Europäische Ermittlungsanordnung zu erlassen[11]. Die dritte Frage des Landgerichts Berlin bezog sich auf Art. 6 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/41, demzufolge – so die Meinung des LG Berlin – die Anordnungsbehörde (hier: in Deutschland) den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung am Maßstab des innerstaatlichen Rechts prüfen müsse[12]. Alle diese Fragen hat der der Europäische Gerichtshof verneint. Der Gerichtshof betont hierbei, dass die Europäische Ermittlungsanordnung ein Instrument der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen im Sinne des Art. 82 Abs. 1 AEUV sei, die auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen beruhe[13]. Scheinbar abschließend kommt der Europäische Gerichtshof zu folgendem Resümee:
"Daraus folgt, dass die Anordnungsbehörde, wenn sie mittels einer Europäischen Ermittlungsanordnung um Übermittlung von Beweismitteln ersucht, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, nicht befugt ist, die Ordnungsmäßigkeit des gesonderten Verfahrens zu überprüfen, mit dem der Vollstreckungsmitgliedstaat die Beweise, um deren Übermittlung sie ersucht, erhoben hat. Insbesondere würde eine gegenteilige Auslegung von Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie in der Praxis zu einem komplexeren und weniger effizienten System führen, das dem mit der Richtlinie verfolgten Ziel abträglich wäre.[14]
Bis hin zu dieser Passage vermittelt das Urteil des EuGH den Eindruck, in den hergebrachten Bahnen zu verlaufen[15]. Dass dem nicht so ist, sondern der Europäische Gerichtshof nun doch völlig neue Wege betritt, zeigen die folgenden Passagen des Urteils, die sich der Wirkungsbreite des Art. 31 der Richtlinie 2014/41 widmen[16]. Zum Zwecke höherer Verständlichkeit sei den folgenden Passagen hier nochmals Art. 31 der Richtlinie 2014/41 in vollem Wortlaut vorangestellt:
Die Unterrichtung des Mitgliedstaats, in dem sich die Zielperson der Überwachung befindet und dessen technische Hilfe nicht erforderlich ist
(1) Wenn zum Zwecke der Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs von der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats ("überwachender Mitgliedstaat") genehmigt wurde und der in der Überwachungsanordnung bezeichnete Kommunikationsanschluss der Zielperson der Überwachung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ("unterrichteter Mitgliedstaat") genutzt wird, von dem für die Durchführung der Überwachung keine technische Hilfe benötigt wird, so hat der überwachende Mitgliedstaat die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats von der Überwachung wie folgt zu unterrichten:
a) vor der Überwachung in Fällen, in denen die zuständige Behörde des überwachenden Mitgliedstaats bereits zum Zeitpunkt der Anordnung der Überwachung davon Kenntnis hat, dass sich die Zielperson der Überwachung im Hoheitsgebiet des unterrichteten Mitgliedstaats befindet oder befinden wird;
b) während oder nach der Überwachung, und zwar unmittelbar nachdem sie davon Kenntnis erhält, dass sich die Zielperson der Überwachung während der Überwachung im Hoheitsgebiet des unterrichteten Mitgliedstaats befindet oder befunden hat.
(2) Für die Unterrichtung gemäß Absatz 1 wird das in Anhang C festgelegte Formblatt verwendet.
(3) Die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats kann in dem Fall, dass die Überwachung in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht genehmigt würde, der zuständigen Behörde des überwachenden Mitgliedstaats unverzüglich und spätestens innerhalb von 96 Stunden nach Erhalt der Unterrichtung gemäß Absatz 1 mitteilen,
a) dass die Überwachung nicht durchgeführt werden kann oder zu beenden ist und
b) erforderlichenfalls, dass das Material, das bereits gesammelt wurde, während sich die Zielperson der Überwachung im Hoheitsgebiet des unterrichteten Mitgliedstaats befand, nicht oder nur unter den von ihm festzulegenden Bedingungen verwendet werden darf. Die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats setzt die zuständige Behörde des überwachenden Mitgliedstaats von den Gründen für diese Bedingungen in Kenntnis.
(4) Artikel 5 Absatz 2 gilt sinngemäß für die Mitteilung gemäß Absatz 2.
Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs widmet sich in zwei Leitsätzen ihrer Entscheidung vom 30.04.2024 der Auslegung des Art. 31 der Richtlinie 2014/41:
"3. Art. 31 der Richtlinie 2014/41
ist dahin auszulegen, dass
eine mit der Infiltration von Endgeräten verbundene Maßnahme zur Abschöpfung von Verkehrs‑, Standort- und Kommunikationsdaten eines internetbasierten Kommunikationsdiensts eine "Überwachung des Telekommunikationsverkehrs" im Sinne dieses Artikels darstellt, von der die Behörde zu unterrichten ist, die von dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich die Zielperson der Überwachung befindet, zu diesem Zweck bestimmt wurde. Sollte der überwachende Mitgliedstaat nicht in der Lage sein, die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats zu ermitteln, so kann diese Unterrichtung an jede Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats gerichtet werden, die der überwachende Mitgliedstaat für geeignet hält.
4. Art. 31 der Richtlinie 2014/41
ist dahin auszulegen, dass
er auch bezweckt, die Rechte der von einer Maßnahme der "Überwachung des Telekommunikationsverkehrs" im Sinne dieses Artikels betroffenen Nutzer zu schützen." (Rdnr. 132)
Über diese Leitsätze noch etwas hinausgehend ist die Begründung des EuGH-Urteils, indem darin ausdrücklich festgehalten wird:
"124 Da eine Maßnahme der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs einen Eingriff in das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Privatleben und Kommunikation der Zielperson darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a., C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 36), ist daher davon auszugehen, dass Art. 31 der Richtlinie 2014/41 auch den Schutz der Rechte der von einer solchen Maßnahme betroffenen Personen bezweckt und dass sich dieser Zweck auf die Verwendung der Daten zu Strafverfolgungszwecken im unterrichteten Mitgliedstaat erstreckt."
Damit hat der Europäische Gerichthof ausdrücklich auch den Transfer der Daten vom "überwachenden Mitgliedstaat" (hier: Frankreich) auf den "unterrichteten Staat" (hier Deutschland) den Vorgaben des Art. 31 der Richtlinie 2014/41 unterstellt.
Dies bedeutet: Die französischen Behörden waren gemäß Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 verpflichtet, die deutschen Behörden über die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs der in Deutschland sich aufhaltenden Nutzer des Encro-Chat-Dienstes zu unterrichten.
Das taten sie dann auch: In der Zeit vom 03.04.2020 bis zum 28.06.2020 rief das Bundeskriminalamt die von den französischen Behörden auf dem Europol-Server bereitgestellten Daten der in Deutschland genutzten Mobiltelefone ab[17]. Den deutschen Behörden (dem Bundeskriminalamt und anschließend der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt) waren hierbei nicht die Einzelheiten der Datenabschöpfung beim EncroChat-Server bekannt; wohl aber war Ihnen bekannt, dass die ihnen übermittelten Daten durch die Aufspielung einer Trojaner-Software auf den Endgeräten der EncroChat-Nutzer beigebracht wurden. Die Infiltration des EncroChat-Servers in Roubaix förderte die IMEI der in dem jeweiligen Land festgestellten Endgeräte zutage, ebenso die jeweils zugehörigen E-Mail-Adressen, E-Mail-Adressen der Kontaktpartner, Datum und Uhrzeit der Kommunikation, den Standort des Funkmastes, über den das jeweilige Endgerät eingebucht war, sowie die in den Chats übermittelten Texte und Bilder[18].
Die deutschen Behörden nutzten die Unterrichtung durch die französischen Behörden allerdings nicht dazu, den aus Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2014/41 folgenden Verpflichtungen nachzukommen –
Um nochmals an den Wortlaut des Art. 31 Abs. 3 RL EEA zu erinnern:
Die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats kann in dem Fall, dass die Überwachung in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht genehmigt würde, der zuständigen Behörde des überwachenden Mitgliedstaats unverzüglich und spätestens innerhalb von 96 Stunden nach Erhalt der Unterrichtung gemäß Absatz 1 mitteilen,
a) dass die Überwachung nicht durchgeführt werden kann oder zu beenden ist und
b) erforderlichenfalls, dass das Material, das bereits gesammelt wurde, während sich die Zielperson der Überwachung im Hoheitsgebiet des unterrichteten Mitgliedstaats befand, nicht oder nur unter den von ihm festzulegenden Bedingungen verwendet werden darf. Die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats setzt die zuständige Behörde des überwachenden Mitgliedstaats von den Gründen für diese Bedingungen in Kenntnis.
– sondern wurden über die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt den Staatsanwaltschaften in den einzelnen Bundesländern – so auch in Hamburg – zur Auswertung und zur Einleitung von Ermittlungsverfahren zur Verfügung gestellt.
Völlig ignoriert wurde hierbei, dass nach deutscher Rechtslage die von den französischen Behörden unterrichteten zuständigen Behörden in Deutschland nicht nur – im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens – gehalten waren, zunächst einmal die Vorgaben des Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2014/41 zu prüfen und danach zu handeln . Sie waren von dieser Prüfungspflicht nicht etwa deswegen befreit, weil der Besitz der Beweismittel im "Vollstreckungsstaat" sich auf einen vergangenen Sachverhalt bezog[19].
Während es in der Richtlinie 2014/41 noch heißt –
Die zuständige Behörde des unterrichteten Mitgliedstaats kann in dem Fall, dass …
– erlegt der deutsche Gesetzgeber den unterrichteten Behörden (in Deutschland) eine ausnahmslos bestehende Verpflichtung auf, wie folgt zu handeln (§ 91g IRG):
(6) Sind Ersuchen auf eine grenzüberschreitende Überwachung des Telekommunikationsverkehrs gerichtet, ohne dass für die Durchführung der Überwachung die technische Hilfe der Bundesrepublik Deutschland benötigt wird, und würde die Ermittlungsmaßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht genehmigt, ist der zuständigen Stelle des ersuchenden Mitgliedstaates unverzüglich, spätestens aber innerhalb von 96 Stunden nach Eingang des Ersuchens mitzuteilen, dass
1. die Überwachung nicht durchgeführt werden kann oder zu beenden ist und
2. Erkenntnisse, die bereits gesammelt wurden, während sich die überwachte Person im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland befand, nicht oder nur unter Bedingungen verwendet werden dürfen; die Bedingungen und ihre Gründe sind mitzuteilen.
In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu:
"Die Vorschrift setzt Artikel 31 Absatz 3 der RL EEA um, der selbst keine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten vorsieht, auf Unterrichtungen des überwachenden Mitgliedstaates zu reagieren. Verschweigen sich die unterrichteten Mitgliedstaaten aber, gilt dies nach der Systematik der Norm als Bewilligung der Überwachungsmaßnahme. Damit besteht das Risiko, dass sensible Daten, die aus Telekommunikationsüberwachungen auf deutschem Hoheitsgebiet gewonnen werden, im europäischen Ausland auch dann verwendet werden, wenn die Überwachung nach deutschem Recht nicht zulässig wäre. Zum Schutz der Grundrechte von betroffenen Personen und zum Schutz der deutschen
Staatssouveränität ist Absatz 6 deshalb als verbindliche Regelung ausgestaltet."[20]
Der deutsche Gesetzgeber hat die Lücke, die Art 31 Abs. 3 der Richtlinie 2014/41 lässt, nämlich dass der unterrichtete Mitgliedstaat (hier Deutschland) nicht reagiert und damit die Fiktion einer Bewilligung von Überwachungsmaßnahmen des überwachenden Staates (hier: Frankreich) auslöst, gesehen. Diese Lücke wird in der Gesetzesbegründung angesprochen; der Gesetzgeber wollte sie schließen. Handelt es sich um Überwachungsmaßnahmen des überwachenden Staates (hier Frankreich), die nach dem Recht des unterrichteten Staates (hier: Deutschland) nicht zulässig gewesen wären, hat der deutsche Gesetzgeber für diesen Fall ausdrücklich dekretiert, dass die nach deutschem Recht widerrechtlich gesammelten Erkenntnisse "nicht … verwendet werden dürfen"[21]. Die vorgesehene "verbindliche Regelung" sei erforderlich "zum Schutz der Grundrechte von betroffenen Personen und zum Schutz der deutschen Staatssouveränität". Das sind "sachgemäße Erwägungen" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[22], die einer Unterminierung durch "abwägende" Überlegungen nicht zugänglich sind. Auch lässt sie der eindeutige Wortlaut des § 91g Abs. 6 Buchst. b) IRG nicht zu.
Die Regelung des § 91g Abs. 6 IRG ist hinsichtlich des an Art. 31 der Richtlinie 2014/41 anschließenden Gebrauchs des Wortes "Ersuchen" etwas verwirrend. Da es hier gerade um eine Maßnahme geht, die die Anordnungsbehörde (in Frankreich) ohne technische Unterstützung durch den Gebietsstaat (Deutschland) eigenständig vollziehen kann, geht es letztlich nicht um ein "Ersuchen", sondern um eine Unterrichtung der zuständigen Stellen des Gebietsstaats (Vollstreckungsstaats – in diesem Falle Deutschland).[23] Auch wenn die deutschen Behörden keine technische Hilfe bei der Überwachungsmaßnahme leisten, so sind sie doch im Hinblick auf Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet, bei der von der (französischen) Anordnungsbehörde betriebenen Überwachung der Telekommunikation auf deutschem Hoheitsgebiet dafür zu sorgen, dass das nach deutschem Recht bestehende Schutzniveau gewährleistet bleibt[24].
Um es nochmals zu betonen: der Gesetzgeber wollte eine verbindliche Regelung. Waren die Voraussetzungen einer Überwachung zum Zeitpunkt ihrer Durchführung nach deutschem Recht nicht gegeben, dann dürfen die bereits gesammelten Erkenntnisse "nicht oder nur unter Bedingungen verwendet" werden (§ 91g Abs. 6 Nr. 2 IRG). Das ist ein Verwendungsverbot , das sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt und den Absichten des Gesetzgebers entspricht.
[1] So beispielsweise die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofes, Urteil vom 21.12.2021 (verbundene Rechtssachen C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19) in dessen Entscheidungsgründen (Rdnrn. 250 ff.).
[2] Wegener in Callies/Ruffert, EUA und, AEUV, 6. Aufl., Rdnr. 48 zu Art. 19 EUV. Das bedeutet in einem Strafprozess, dass die unterlassene Berücksichtigung unionsrechtlicher Vorgaben in einem Revisionsverfahren auch dann gerügt werden kann, wenn der am 02.03.2022 gefasste Beschluss durch den Beschwerdeführer in der Vorinstanz nicht beanstandet wurde.
[3] NJW 2024, 1723 ff.
[4] BGH, Beschluss vom 02.03.2022 – 5 StR 457/21, bei Juris; NJW 2022, 1539 ff. = HRRS 2022 Nr. 393.
[5] BGH, Beschluss vom 02.03.2022 – 5 StR 457/21, bei Juris, Rdnr. 48 = HRRS 2022 Nr. 393.
[6] EuGH (Große Kammer), Urteil vom 30.04.2024 – Rechtssache C-670/22, Rdnr. 86. Der durch den EuGH jetzt auch inhaltlich widerlegten Behauptung, die RL EEA enthalte keinen abschließenden Kanon von Ermittlungsmaßnahmen (BGH a.a.O. Rdnr. 48) versuchte der 5. Strafsenat zusätzlich durch den Hinweis auf die Monographie von Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen – Die Europäische Ermittlungsanordnung, Berlin 2015, aufzuhelfen, indem er durch ein Falschzitat den Eindruck zu erwecken versuchte, der Autor verträte ebenfalls diese Einschätzung einer beschränkten Anwendungsbreite der RL EEA. Das Gegenteil war richtig: "Grundsätzlich werden von der RL EEA alle Ermittlungsmaßnahmen erfasst, Erwägungsgrund 8, Art. 3 RL EEA" (Ronsfeld a.a.O. S. 134 – meine Hervorhebung).
[7] Meine Hervorhebung, BGH a.a.O. Rdnr. 48.
[8] EuGH a.a.O. (Fn. 4), Rdnr. 113, 114 (meine Hervorhebung).
[9] EuGH a.a.O. Rdnr. 120 und 124 (meine Hervorhebung).
[10] EuGH a.a.O. Rdnr. 99.
[11] EuGH a.a.O. Rdnr. 36
[12] EuGH a.a.O. Rdnrn. 38 und 40.
[13] EuGH a.a.O.
[14] EuGH a.a. O. Rdnr. 100 (meine Hervorhebung).
[15] Von diesen Passagen hat sich m.E. Gaede NJW 2024, 1731, 1732, zu sehr beeindrucken lassen.
[16] EuGH a.a.O. Rdnrn. 197 – 125 sowie die Leitsätze 3 und 4 (Rdnr.132).
[17] Vgl. die Sachverhaltsschilderung im Urteil des EuGH unter Rdnr.25.
[18] So die Sachverhaltsschilderung bei LG Berlin, Beschluss vom 01.07.2021 (bei Juris), Rdnr. 11.
[19] Vgl. die Formulierung in Art. 31 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2014/41 umschließt auch in der Vergangenheit abgeschlossene Sachverhalte: Die Unterrichtungspflicht besteht "während oder nach der Überwachung".
[20] BT-Drucksache 18/9757, S. 75 (meine Hervorhebung)
[21] Das ist die grundsätzliche Aussage der in § 91g Abs. 6 IRG getroffenen Regelung; unter welchen "Bedingungen" doch eine Freigabe der "gesammelten Erkenntnisse" erfolgen dürfe, wird weder im Gesetzestext noch in der Gesetzesbegründung angesprochen; zu denken ist an eine Freigabe unter der Bedingung, dass die deutschen Eingriffsvoraussetzungen bei Erhebung der Daten (z.B. nach §§ 100a und 100b StPO) vorgelegen haben. Das steht hier aber nicht zur Debatte.
[22] Vgl. nur BVerfGE 36, 174, 191 (zu dem Verwertungsverbot aus §§ 61, 49 Abs. 1 BZRG).
[23] Böse in Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas/Brodowski (Hrsg.) Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., Rdnr. 14 zu § 91g IRG
[24] Böse a.a.O.