Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
September 2010
11. Jahrgang
PDF-Download
1. Zur Ermessensausübung bei Anwendung der §§ 66b Abs. 1 Satz 2, 66 Abs. 2 StGB nach der Entscheidung EGMR EuGRZ 2010, 25 = HRRS 2010 Nr. 1/65. (BGHSt)
2. Art. 7 Abs. 1 MRK ist im Geltungsbereich von § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB nicht als abweichende gesetzliche Bestimmung gemäß § 2 Abs. 6 StGB anzusehen. Dies würde im Ergebnis auf eine vollständige Verwerfung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB hinauslaufen, die dem Richter versagt ist. Denn anders als bei den übrigen Regelungen des § 66b StGB würde § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB jeglicher Anwendungsbereich genommen, wenn auf die Geltung der Norm im Zeitpunkt der Begehung der Anlasstat abgestellt werden müsste. (Bearbeiter)
3. Die durch den EGMR gegen die Anordnung der Rückwirkung in den Fällen des § 67d StGB angeführten Argumente sind auf die § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB zugrundeliegenden Fallkonstellationen grundsätzlich übertragbar; es muss daher davon ausgegangen werden, dass der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 MRK auch bei einer rückwirkenden Anwendung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB annehmen würde. Gleiches gilt für die vom Gerichtshof für § 67d StGB im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. a EMRK aufgezeigten Bedenken. (Bearbeiter)
4. Der Rang der Europäischen Menschenrechtskonvention als einfaches Bundesrecht führt dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben. Solange also Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft sie die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben. Anderes gilt allerdings dann, wenn die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht verletzen würde; die Zulässigkeit konventionskonformer Auslegung endet aus Gründen der Gesetzesbindung der Gerichte dort, wo der gegenteilige Wille des nationalen Gesetzgebers hinreichend deutlich erkennbar wird. (Bearbeiter)
5. In die Ermessensausübung bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung sind die Gewährleistungen der EMRK in ihrer Ausformung durch den EGMR einzubeziehen. Seine Ausführungen zur Vereinbarkeit der Maßregelanordnung mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EMRK sowie Art. 7 Abs. 1 EMRK streiten unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes gewichtig zugunsten des Verurteilten. (Bearbeiter)
6. Eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung kann auf der Grundlage des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB allenfalls bei höchstgefährlichen Verurteilten in Betracht kommen, bei denen sich die Gefahrenprognose aus konkreten Umständen in der Person oder ihrem Verhalten ableiten lässt. Nur dann erscheint denkbar, dass der Eingriff in das Freiheitsrecht des Verurteilten unter Berücksichtigung seines auf höchster Stufe schutzwürdigen Vertrauens in die Unabänderbarkeit der in der Anlassverurteilung verhängten Rechtsfolge einerseits und der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit andererseits im Rahmen einer zu seinen Lasten getroffenen Abwägungsentscheidung gerechtfertigt ist. (Bearbeiter)
1. Auch bei einer wirksamen Beschränkung der Berufung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung ist eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB durch das Berufungsgericht vorzunehmen, wenn der erstinstanzliche Richter eine Entscheidung zu dieser Frage nicht getroffen hat. (BGHSt)
2. Die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe ist grundsätzlich Sache des Tatrichters, der auf Grund einer Hauptverhandlung und des darin gegebenen unmittelbaren persönlichen Eindrucks von dem Angeklagten entscheidet. Sein Urteil bietet eine bessere Garantie für eine gerechte Strafzumessung als ein nachträgliches Beschlussverfahren (vgl. BGHSt 12, 1, 6 ff.; 25, 382, 384). (Bearbeiter)
1. Eine nach § 454b Abs. 2 StPO unterbrochene, nicht gemäß § 35 BtMG zurückstellungsfähige Strafe stellt eine im Sinne des § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG zu vollstreckende Strafe dar, die die Zurückstellung einer weiteren Strafe nach § 35 BtMG hindert. (BGHSt)
2. Aufgrund der eindeutigen Entscheidung des Gesetzgebers in § 454b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO ist die vollständige Vorabvollstreckung einer nicht gem. § 35 BtMG zurückstellungsfähigen Strafe im Wege der Änderung der Vollstreckungsreihenfolge (§ 43 Abs. 4 StVollstrO) unzulässig. (Bearbeiter)
3. Eine Zurückstellung gem. § 35 BtMG kommt erst in Betracht, wenn sämtliche gegen den Beschwerdegegner erkannte Freiheitsstrafen zu zwei Dritteln verbüßt sind und nach § 454b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 StPO über die Reststrafenaussetzung aller Strafen entschieden worden ist. (Bearbeiter)
Steht für die Beurteilung der Schuldfähigkeit eine von der Norm abweichende sexuelle Präferenz im Vordergrund, muss diese den Täter im Wesen seiner Persönlichkeit so verändert haben, dass er zur Bekämpfung seiner Triebe nicht die erforderlichen Hemmungen aufbringt (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 337; StV 2005, 20; BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 33, 37 und § 63 Zustand 23). Daher ist nicht jedes abweichende Sexualverhalten, auch nicht eine Devianz in Form einer Pädophilie, die zwangsläufig nur unter Verletzung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter verwirklicht werden kann, ohne Weiteres gleichzusetzen mit einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB. Vielmehr kann auch nur eine gestörte sexuelle Entwicklung vorliegen, die als allgemeine Störung der Persönlichkeit, des Sexualverhaltens oder der Anpassung nicht den Schweregrad einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 21 StGB erreicht. Hingegen kann die Steuerungsfähigkeit etwa dann beeinträchtigt sein, wenn abweichende Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz, durch Ausbau des Raffinements und durch gedankliche Einengung auf diese Praktiken auszeichnen.
1. Nach der Vorschrift des § 62 StGB darf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen oder zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung sind die in der Norm als Bezugspunkte der Prüfung genannten Kriterien in einer Gesamtbetrachtung zusammenfassend zu würdigen und zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs in Beziehung zu setzen (vgl. BGH, Urteil vom 21. April 1971 - 2 StR 82/71, BGHSt 24, 134, 135; Urteil vom 6. Juni 2001 - 2 StR 136/01, NJW 2001, 3560, 3562).
2. Da das Gewicht des mit der Unterbringungsanordnung einhergehenden Eingriffs maßgeblich von der Frage der Vollstreckung der Maßregel abhängt, ist vorrangig zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung nach § 67b Abs. 1 StGB vorliegen. Nach dieser Norm, mit welcher gerade dem Bedürfnis Rechnung getragen werden soll, den Vollzug einer angeordneten Unterbringung zu vermeiden, wenn der Zweck der Maßregel durch mildere Maßnahmen erreicht werden kann, ist mit der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zugleich deren Vollstreckung zur Bewährung auszusetzen, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Zweck der Maßregel auch dadurch erreicht werden kann. Als besonderer Umstand im Sinne des § 67b Abs. 1 Satz 1 StGB kommen auch Therapiebereitschaft und Bemühungen zur Aufnahme einer stationären Suchtbehandlung jedenfalls dann in Betracht, wenn die mit der Führungsaufsicht nach § 67b Abs. 2 StGB gegebenen Überwachungsmöglichkeiten und die Aussicht eines im Falle eines Weisungsverstoßes drohenden Widerrufs der Vollstreckungsaussetzung eine hinreichende Gewähr dafür bieten, dass sich der Angeklagte der beabsichtigten, die Gefahr weiterer Taten ausschließenden Entwöhnungsbehandlung unterzieht.
1. Zwar erfordert das Schuldprinzip bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB keine obligatorische Strafmilderung. Bei verminderter Schuldfähigkeit ist jedoch grundsätzlich davon auszugehen, dass der Schuldgehalt und damit die Strafwürdigkeit der Tat verringert ist. Deshalb ist regelmäßig eine Strafrahmenverschiebung vorzunehmen, wenn nicht andere schulderhöhende Umstände, die im Urteil konkret und widerspruchsfrei festgestellt werden müssen, entgegenstehen (vgl. BGH NStZ-RR 1996, 161; NStZ 2004, 619).
2. Eine ausdrückliche Erörterung des minder schweren Falles ist jedenfalls dann erforderlich, wenn eine Einordnung unter diesen Strafrahmen nach Lage der Dinge nicht fern liegt. Davon ist regelmäßig schon deshalb auszugehen, wenn die eingeschränkte Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB vorliegt. Dies ist vor einer etwaigen Reduzierung des Strafrahmens nach §§ 21, 49 StGB zu prüfen.
1. Zwar kann das Vorliegen eines vertypten Milderungsgrundes Anlass geben, trotz Vorliegens eines Regelbeispiels einen besonders schweren Fall zu verneinen (BGH NStZ-RR 2009, 9). In der erforderlichen Gesamtwürdigung der Voraussetzungen des Regelbeispiels kann sich aber ergeben, dass das Regelbeispiel nicht entkräftet wird. Dies gilt auch, wenn es beim Versuch geblieben ist.
2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unterliegt die Befugnis der Verfahrensbeteiligten, nach einer vorausgegangenen Verständigung das Rechtsmittel der Revision einzulegen, keinen Einschränkungen (BGHSt 43, 195; BGHSt 50, 40). Dies gilt nicht nur für die Rechtsmittelbefugnis des Angeklagten, sondern uneingeschränkt auch für diejenige anderer Verfahrensbe-
teiligter. Das nach Erlass des angefochtenen Urteils in Kraft getretene Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2353) hat an dieser Rechtslage nichts geändert.
1. Hinsichtlich des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge darf bei der Strafzumessung im engeren Sinne zu Lasten des Angeklagten nicht die „besondere Gefährlichkeit des bewaffneten Handeltreibens“ (UA 22) gewertet: Dies verstößt gegen das Doppelverwertungsverbot nach § 46 Abs. 3 StGB.
2. Bei der gewerbsmäßigen unerlaubten Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige darf bei der Strafrahmenwahl und bei der Strafzumessung im engeren Sinn nicht zu Lasten des Angeklagten gewertet werden, dass er „seine Drogengeschäfte ohne Rücksicht auf das Alter des Abnehmers mit nahezu Jedermann abwickelte“, dabei „vor allem seinen Profit im Auge hatte“ und „das Gesamtbild eines regelmäßigen und planmäßigen Handels mit Betäubungsmitteln“ bot.