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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
September 2010
11. Jahrgang
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Edda Weßlau/Wolfgang Wohlers (Hrsg.): Festschrift für Gerhard Fezer; De Gruyter, 613 Seiten, 164, 95 €, Berlin 2008.
I. Gerhard Fezer versteht sich nicht in erster Linie als Strafrechtler, sondern ganz dezidiert als Strafprozessualist. Das Strafprozessrecht als Selbstbeschränkung staatlicher Macht bei der Abklärung eines Tatverdachts - das ist das durchgehende Leitmotiv seiner Forschungen. Schwerpunkte bilden die Lehre von den Beweisverboten und - vor allem - das Revisionsrecht. Zum 70. Geburtstag haben ihn Herausgeber und Autoren aus Wissenschaft und Praxis mit einer Festschrift geehrt, deren Beiträge das wissenschaftliche Werk des Jubilars treffend widerspiegeln. Es handelt sich ausnahmslos um prozessrechtlich ausgerichtete Aufsätze, was dem Ziel der Herausgeber, mit der Festschrift der Strafprozesswissenschaft, ein Forum für eine Standortbestimmung zur Verfügung zu stellen (Geleitwort, S. 13) entspricht, zumal in einer Zeit, in der die Tendenz zu beobachten ist, die Wahrung der strafprozessualen Formen nicht mehr als Wert an sich zu akzeptieren (Die fortschreitende Relativierung der Verfahrensvorschriften durch den Bundesgerichtshof beklagen etwa die Autoren Meyer-Goßner[S. 143], Barton[S. 340 mit deprimierender Statistik], Frisch[S. 365]und Ventzke[S. 419]).
Die Festschrift ist in fünf Abschnitte unterteilt: "Strafprozessuale Grundrechtseingriffe", "Die tatrichterliche Hauptverhandlung", "Beweisgewinnung und -verwertung", "Revisionsrecht" und "Anderweitige strafprozessuale Fragen".
II. 1.) Im ersten Kapitel "Strafprozessuale Grundrechtseingriffe" wirft Beulke unter dem Titel "Fernwirkungen des § 148 StPO - Ein Plädoyer wider den gläsernen Verteidiger" die Frage auf, wie sich die neue Vorschrift des § 160a Abs. 4 S. 1 StPO auf die bislang anerkannte Sperrwirkung des § 148 StPO auswirkt, wonach Interna der Strafverteidigung solange (auch nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gegen den Beschuldigten) tabu blieben, wie den Verteidiger kein Mittäterverdacht an der Straftat des Mandanten traf und es allein um den mündlichen (!) Kontakt zwischen ihm und dem Beschuldigten ging: Der Schutz der freien Aussprache verflüchtigte sich bislang auch dann nicht, wenn der Verteidiger in Verdacht geriet, durch seine Tätigkeit die Grenzen zur Strafvereitelung überschritten zu haben. Nun aber ordnet § 160a Abs. 4 S. 1 StPO an, dass das umfassende Erhebungs- und Verwertungsverbot des § 160a Abs. 1 StPO dann aufgehoben ist, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht u. a. der Strafvereitelung begründen. Beulke legt dar, dass die Neuregelung, obgleich der Wortlaut anderes zu regeln scheine, nichts an der einhelligen Auslegung des § 148 StPO als analogiefähige und generelle Schutznorm zugunsten des (mündlichen) Verteidiger-Mandanten-Kontaktes geändert habe (S. 10 ff.; so, wenn auch in anderem Zusammenhang, offenbar auch Rogall in seinem Aufsatz, S. 61, 79 f.). Das überzeugt nicht zuletzt deshalb, weil es einer übereifrigen Staatsanwaltschaft sonst jederzeit möglich wäre, unter dem Deckmantel, nur strafbare Sachverhalte aufklären zu wollen, auch erlaubte Verteidigungsstrategien auszuforschen (S. 16 f.). Ohnehin weiß jeder erfahrene Anwalt, dass sein Mandant schnell zu seinem größten Feind mutieren kann, wenn er mit den Diensten seines Verteidigers unzufrieden ist.
Vernünftigerweise vermeidet der Verteidiger (auch deshalb) strikt, sich in die Hände des Mandanten zu begeben.
Klesczewski übt "Kritik an der Vorratsdatenspeicherung" (S. 19 ff.). Velten äußert im Rahmen des von ihr näher behandelten Themas "Verkehrsdaten in der Strafverfolgung" (S. 87 ff.) Bedenken an der der Speicherung solcher Daten anschließenden "Vorratsdatenauswertung als Beweismittel" (S. 105 ff.). Das Bundesverfassungsgericht hat die von beiden geäußerten Bedenken zwischenzeitlich aufgegriffen (BVerfG NJW 2010, S. 833 ff. = HRRS 2010 Nr. 134). Paeffgen zeigt in seinem Beitrag "Zwischenhaft, Organisationshaft" (S. 35 ff.) die - mangels gesetzlicher Grundlage - schwerlich zu bestreitende Verfassungswidrigkeit dieser Formen der Freiheitsentziehung auf. Rogall verfolgt mit seinem Aufsatz "Kernbereichsmystik im Strafverfahren" (S. 61 ff.) selbstbewusst das Ziel der "endgültigen Entmystifizierung der Kernbereichsthese im Strafverfahrensrecht" (S. 63). Ihre "Entzauberung" tue Not (S. 73). Er entwickelt seine These anhand der von ihm von ganz und gar verfehlt gehaltenen (hier als bekannt vorausgesetzten) Entscheidung BGHSt 50, 206, in der der Inhalt eines Selbstgesprächs, das der Beschuldigte in einem Krankenzimmer führte, für unverwertbar erklärt wurde: Selbstgespräche zählten zum Kernbereich privater Lebensführung. Rogall erscheint dieser Befund "rätselhaft und fast schon unheimlich" (S. 66). Offenbar sei "jedes Gespür für ein zutreffendes, der Gerechtigkeit entsprechendes Fallmanagement verloren gegangen" (S. 67). Der Kernbereich privater Lebensgestaltung sei nämlich nur dann richtig definiert, wenn man ihn auf Sachverhalte beschränke, "die in keiner Beziehung zu einer Straftat stehen und daher für die Aufklärung der Tat nicht benötigt werden" (S. 78). Dazu zähle nach Auffassung Rogalls kreatürliche Vorgänge wie "pinkeln, pupsen, husten, schnarchen" (S. 78). Soweit es aber um Indiztatsachen für Feststellungen zur Schuld- oder Rechtsfolgenfrage gehe, könne es sich nicht um Kernbereichsinformationen handeln (S. 79): Derartige Informationen wiesen stets einen den Zugriff des Staates gestattenden Sozialbezug auf. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (etwa Gespräch zwischen Mandant und Verteidiger; § 148 StPO), sei daher eine Verwertung nicht nur geboten, sondern zwingend. Die Frage, ob Rogall seine Überlegungen auch dann durchgreifen lassen will, wenn sich das Selbstgespräch als Ringen des Beschuldigten mit sich selbst darstellt, etwa im Gebet, bleibt unerörtert. Auch das scheint "rätselhaft".
2.) Am Anfang der Arbeiten zum zweiten Kapitel "Die tatrichterliche Hauptverhandlung" untersucht Dencker "die Form der Vernehmung des Angeklagten zur Sache" (S. 115 ff.). Ist zwingend die mündliche Befragung mit mündlicher Antwort gemeint, oder hat der Angeklagte ein Recht darauf, sich in einer selbst bestimmten, kontrollierten Redeform zu äußern, sei es durch Verlesen eines vorgefertigten Textes, sei es durch Sprechen seines Verteidigers in seinem Namen? Dencker stellt die Argumente für und wider ausführlich dar und unterzieht sie sodann einer kritischen Würdigung. Sein Befund: Der Angeklagte sei in seiner Entscheidung frei; er könne sich in der Weise äußern, die er selbst für die Beste halte. Allerdings: Lasse sich der Angeklagte nicht auf die mündliche Befragung mit mündlicher Antwort ein, so könne seiner Äußerung, gleichviel ob von ihm selbst vorgelesen oder durch den Verteidiger vorgetragen, grds. nicht mehr Beweiskraft zukommen, als ein Sachvortrag durch den Verteidiger in dessen eigener Funktion (S. 132 f.). Was sich insbesondere bei der Beweiskonstellation "Aussage gegen Aussage" auswirke.
Meyer-Goßner geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob die "Videoaufzeichnung der Hauptverhandlung" sich als notwendige Reform oder als Irrweg erweist (S. 135 ff.). Er begegnet solch technischer Neuerung mit gewisser Skepsis und favorisiert statt dessen eine "strenge Anwendung" des § 274 StPO (S. 150). Der in diesem Zusammenhang von ihm erörterten neuen Rechtsprechung zur sog. Rügeverkümmerung steht Meyer-Goßner ablehnend gegenüber, zumal "den Gerichten wahrlich keine übermäßig schwierige Aufgabe bei Anfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls abverlangt" werde (ähnlich auch schon seine Nachfolgerin im Vorsitz des 4. Strafsenats des BGH Ingeborg Tepperwien, in: FS Meyer-Goßner, 2001, S. 595, 609: kein unabwendbares Schicksal für die Justiz, sondern durch sorgfältige Protokollführung vermeidbar.). "§ 273 Abs. 3 StPO - Eine überflüssige Norm" lautet der Titel des Aufsatzes von Egon Müller (S. 153 ff.). Es liege in der Natur der Sache, dass kein Verfahrensbeteiligter etwa nach 1/8 oder 1/3 der Hauptverhandlung absehen könne, was denn im Schlussvortrag ausgeführt werden soll. Solche Prognose sei daher auch nicht Aufgabe des Vorsitzenden, und in Missbrauchsfällen, die § 257 Abs. 3 StPO offenbar im Blick haben, reiche die Sachleitungsbefugnis des § 238 StPO aus, um Auswüchsen zu begegnen (S. 162). Beidem wird man zuzustimmen haben. Sowada schließlich äußert sich "Zur erstinstanzlichen Zuständigkeit des OLG bei Erweiterung des § 120 Abs. 2 GVG nach Eröffnung des Hauptverfahrens" (S. 163 ff.), d. h. zur sog. Proliferation, also um Fälle, in denen sich gewisse Staaten bemühen, in den Besitz atomarer, biologischer oder chemischer Waffen sowie der dazu erforderlichen Trägersysteme zu gelangen.
III. Der Zeugenschutz steht vor allem auf der Ebene der Hauptverhandlung seit jeher im Konflikt mit der Aufklärungspflicht sowie dem Beteiligungsrecht des Angeklagten, da er für diese i. d. R. eine Einschränkung bedeutet. Dieser Probleme nimmt sich Eisenberg in seinem Beitrag "Zeugenschutz und Wahrheitsermittlung im Strafprozess" (S. 193 ff.) an, durch den der Reigen der Aufsätze im Abschnitt "Beweisgewinnung und -verwertung" eröffnet wird. Eisenberg warnt nachdrücklich vor der in der Praxis leider immer wieder anzutreffenden Instrumentalisierung von Zeugenschutzprogrammen durch Staatsanwaltschaft und Polizei und den damit einhergehenden greifbaren Gefahren für die Wahrheitsfindung (S. 197 ff.). Dem Rezensenten sind Fälle bekannt, in denen etwa die observierte Lieferung eines Kilos hochwertigen Kokains nach § 154 Abs. 2 StPO nicht weiter verfolgt und statt dessen lediglich die vorherige Übergabe der Probe (ein Gramm) angeklagt wurde und zur Verurteilung führte, um den Angeklagten, weil man ihn als Zeugen zu brauchen glaubte, bei Laune zu halten. Allerdings geschehen solche hanebüchenen und rechtswidrigen Praktiken immer unter der mehr oder minder klar formulierten Forderung, bei der Stange zu bleiben und weiter gegen "Mittäter" auszusagen. In der Diktion eines Staatsanwalts: "Wenn er mir aus der Spur läuft, dann
kriegt er was nach" (Originalzitat aus jüngster Zeit). Wird die Spur jedoch gehalten, dann winken offener Vollzug und - um ein praktisch relevantes Beispiel zu nennen - der Verzicht auf Ausweisung und Abschiebung aus der BRD. Die Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm macht so etwas möglich. Eisenberg beschreibt eindrucksvoll den Rollenkonflikt, den der Zeuge gerade nach Aufnahme in das Schutzprogramm ausgesetzt ist (S. 200 f.). Dieser Aufsatz ist Pflichtlektüre für alle mit einschlägigen Fällen befasste, namentlich Richter und Verteidiger. Pfister hält ein "Plädoyer für die Streichung der Vorschriften über die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme" (S. 211 ff.) und beschließt es mit einem wohlbegründeten Gesetzesvorschlag (S. 225 f.). Keller äußert sich "Zur strafprozessualen Verwertbarkeit von im Ausland abgelegten Geständnissen" (S. 227 ff.) und Paulus erläutert im Grundsätzlichen die "Strafprozessuale(n) Beweisstrukturen" (S. 243 ff.), namentlich die "Wahrheit" als Maßstab richterlicher Überzeugung. Schlothauer spricht sich überzeugend gegen die "Strafprozessuale Verwertung selbstbelastender Angaben in Verwaltungsverfahren" aus (S. 267 ff.), Weßlau befasst sich in ihrem Aufsatz "Der blinde Fleck - Kritik an der Lehre vom Beweisantragsrecht" (S. 289 ff.) mit der Identitäts- und der Inkongruenzthese, die von unterschiedlichen Standpunkten aus das Verhältnis von Amtsaufklärungspflicht und Beweisantragsrecht zu erklären versuchen. Weßlau beschreibt, dass und warum die Diskussion in eine Sackgasse geraten ist (S. 291 ff.). Überzeugend legt sie dar, dass das Verbot der Beweisantizipation als einheitliches Prinzip zur Kontrolle der Beweisaufnahme ungeeignet ist. Wohlers schließlich macht klar, dass "Die Hypothese rechtmäßiger Beweiserhebung" als "Ein Instrument zur Relativierung unselbständiger Verwertungsverbote?" (so der Untertitel) entweder - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - unzulässig oder überflüssig ist (S. 311 ff.).
IV. Dem Revisionsrecht ist der 4. Abschnitt gewidmet. Barton liefert rechtstatsächliche Befunde aus den Jahren 1970 bis 2005 zum Thema "Die erweiterte Revision in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs" (S. 333 f.); Fezer hatte 1974 dazu seine bahnbrechende Publikation vorgelegt, in der er gezeigt hatte, dass die Senate faktisch auf die tatrichterlichen Feststellungen und auf die Beweiswürdigung zugriffen, ohne freilich die dahinter stehenden Methoden transparent zu machen. Dies ermögliche - in der Diktion Fezers - ein "Doppeltes Spiel": Auf der einen Seite griffe der BGH unter Berufung auf eine angebliche Gesetzesverletzung der Sache nach tatrichterliche Feststellungen an; auf der anderen Seite könnte er ohne Weiteres eben solche Angriffe von Revisionsführern als revisionsfremd und unzulässig zurückweisen. Barton untersucht nun, ob die Revisionsgerichte der erweiterten Revision in den vergangenen 30 Jahren feste Konturen haben verleihen können. Und: Ist nunmehr überzeugend geklärt, in welchen Grenzen die tatrichterliche Beweiswürdigung revisibel ist? (S. 335). Sein Fazit: Eine exakte Trennlinie zwischen irrevisibler tatrichterlicher Beweiswürdigung einerseits und zulässiger revisibler Rechtskontrolle andererseits lässt sich den vom BGH entschiedenen und von Barton untersuchten Fällen für das Jahr 2005 nicht entnehmen. Wann die Regel gilt bzw. wann eine Ausnahme vorgenommen werden darf, sei nach wie vor ungeklärt: "Das alte Programm der Revision (Regel Nr. 1: Angriffe gegen die Beweiswürdigung sind unzulässig) läuft parallel neben der modernen Revision (Regel Nr. 2: Standardformel oder einfache pragmatische Handhabung). Je nachdem, welche Regel verwandt wird, kann damit bei der Darstellung einer Entscheidung sowohl das eine wie das entgegengesetzte Ergebnis schließlich dargelegt und gerechtfertigt werden" (S. 346). Barton betont, dass mit dieser Feststellung kein irgendwie gearteter Vorwurf gegenüber Bundesrichtern verbunden sei: "Zweifel daran, dass Revisionsrichter nicht nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden, solle nicht einmal ansatzweise geschürt werden" (S. 347), zumal sich die Fälle der erweiterten Revision nicht immer präzise von klassischen Subsumtionsrügen trennen lassen (S. 337).
Auch Frisch befasst sich im Rahmen seiner Untersuchung zum "Wandel der Revision als Ausdruck geistigen und gesellschaftlichen Wandels" (S. 353 ff.) ebenfalls mit der sog. erweiterten Revision, vor allem aber mit den mannigfaltigen Einschränkungen der Revisibilität im Vergleich zu den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers (S. 361 ff.). Er spürt in diesem Zusammenhang der Frage nach, warum die Rechtsprechung trotz harscher Kritik an ihrem Kurs festhält, den Tatrichtern immens weite Beurteilungsspielräume zuzugestehen (kritisch etwa Tolksdorf, in: FS Meyer-Goßner, 2001, S. 523, 538 f.; Neuhaus, in: FS Rieß, 2002, S. 375, 398 f.) und die Wirkungen der Verfahrensrüge bis hin nahezu Bedeutungslosigkeit zurück zu drängen. Sein Befund: Der Wandel der Revision sei Ausdruck sich ändernder geistiger Strömungen und gesellschaftlicher Bedingungen und Erwartungen. Ein stärker ergebnisorientiertes Denken habe zu einer Ausweitung der Sachrüge geführt und zugleich die Erfolgsaussichten der Verfahrensrüge in mehrfacher Hinsicht ausgedünnt. Das Bemühen um einen sachgerechten Einsatz knapper justizieller Ressourcen und der Einfluss transnational überwachter normativer Prinzipien hätten zu weiteren Einschränkungen des Anwendungsbereichs der Verfahrensrüge geführt (S. 391). "Beweis als Rechtsbegriff und seine revisionsrechtliche Kontrolle" überschreibt R. Hamm seinen Beitrag (S. 393 ff.), in dem er u. a. das Anforderungsprofil an die tatrichterlichen Urteilsgründe zur Beweiswürdigung im Falle des Schuldspruchs aufgrund einer einzigen Zeugenaussage darstellt. Die schon mehrfach erwähnte erweiterte Revision bietet Rieß Anlass, sich "Zum Verhältnis von Tatrichter und Revisionsrichter" (S. 455 f.) zu äußern. Dabei hebt er hervor, dass auch bei der erweiterten Revision nur die Beweisaufnahme in einer Hauptverhandlung und die aus deren Inbegriff geschöpfte Überzeugung des Tatrichters die Richtigkeit der Feststellungen legitimiere (S. 462). Jahn untersucht in seinem Aufsatz "Der befangene Revisionsrichter" (S. 413 ff.) wie eine Lücke im Ablehnungsrecht zu schließen sei: Bekanntlich trifft das Gesetz keine Regelung für Verfahren ohne mündliche Verhandlung (§§ 25 Abs. 1, 351 Abs. 1 StPO). Dabei beanstandet er die mittlerweile schon gängige Praxis des BGH (etwa BGH wistra 2007, 319; NStZ 2007, 416, 417), einen Anspruch auf Namhaftmachung der zur Entscheidung berufenen Richter abzulehnen (S. 428 ff.). Mit dieser Haltung liefe die Rechtsprechung Gefahr, so bemerkt Jahn völlig zurecht (S. 431), die verfassungsrechtlichen Mindestbedingungen des Richterablehnungsrechts zu verfehlen. Im Weiteren bietet Jahn Lösungsmöglichkeiten de lege ferenda und de lege lata an. Kudlich befasst sich mit dem Thema "Wie absolut sind die absoluten Revisions-
gründe?" (S. 435 ff.). Steht die "Verteidigung am revisionsrechtlichen Pranger?" fragt Ventzke (S. 477 ff.) und stellt fest, dass sich Stil und Inhalt revisionsgerichtlicher Entscheidungen in Bezug auf den Umgang mit Verteidigern erheblich gewandelt habe. Beispielhaft legt er dar, dass es immer wieder zu ausdrücklichen Maßregelungen von Anwälten kommt; sie seien trotz Anonymisierung für generelle Materie durchaus entschlüsselbar. Sicher gibt es seltene Fälle nicht zu tolerierender Amokverteidigungen. Es geht aber entschieden zu weit, von einem Verfall des "anwaltlichen Ethos" zu sprechen, zumal es eine wie auch immer geartete empirische Objektivierung dieser Verfallsprognose nicht gibt (vgl. nur R. Hamm NJW 2007, 3166, 3169 ff.). Ventzke dazu pointiert: Skurrilitäten im Verhalten des Verteidigers im eigentlich begründungslosen Beschlussverwerfungsverfahren aufgeregt zu erörtern, sollte sich jedenfalls schon deshalb verbieten, weil der als Verschwendung von Justizressourcen ausgemachte Missstand hochwahrscheinlich dadurch relativiert wird, dass es eine Vielzahl von Verfahren geben dürfte, in denen Verteidigung deshalb mangelhaft war, weil nicht einmal die zur Wahrung der Mandanteninteressen unbedingt erforderlichen Verteidigungsaktivitäten entfaltet und dadurch Justizressourcen geschont wurden (so zutreffend S. 484).
V. Im Zuge "Anderweitige(r) strafprozessuale(r) Fragen" (5. Kapitel) stellt Gössel die Frage "Quo vadis, Strafverfahren?" (S. 495 ff.) unter besonderer Berücksichtigung des Aspektes der Fesselung der Judikative durch die Exekutive. Lüderssen liefert einen "unorthodoxen Beitrag" (so der Untertitel) zur Frage der Legitimation der strafprozessualen Absprache: "Regulierte Selbstregulierung in der Strafjustiz?" (S. 531 ff.). In Anlehnung an die Publikation des Jubilars "Vereinfachte Verfahren im Strafprozess" für den XIV. Internationalen Kongress für Rechtsvergleichung 1994 schreibt Fr. Chr. Schroeder zum "Absehen von der Strafe und Absehen von der Strafverfolgung" (S. 543 ff.). Schünemann arbeitet in seinem Beitrag "Zur Kritik des amerikanischen Strafprozessmodells" (S. 555 ff.) heraus, dass die globale Reform des Strafverfahrens bei der Ausbalancierung des Ermittlungsverfahrens ansetzen muss. Hilger wendet sich "Neuere(n) Fragen zur Privatklage und zum Adhäsionsverfahren" zu (S. 577 ff.) und Rüping schließlich untersucht das Verhältnis von strafrechtlicher und berufsrechtlicher Ahndung (S. 588 ff.).
VI. Die Festschrift enthält eine Vielzahl kluger und anregender Beiträge. Wer sich Zeit für die Lektüre nimmt, wird mit einer Fülle an Einsichten belohnt, die - ohne jede Besserwisserei - auch für revisionsrichterliche Praktiker gewiss von Interesse sind.
Rechtsanwalt & Fachanwalt für Strafrecht Dr. Ralf Neuhaus, Dortmund
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Ulrich Sieber, Gerhard Dannecker, Urs Kindhäuser, Joachim Vogel, Tonio Walter (Hrsg.): Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht - Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen. Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, Carl Heymanns Verlag, XXIII, 1649 Seiten, 298.-- €, Köln, München 2008.
Der langjährige, hochrenommierte Ordinarius an der Freiburger Fakultät gilt seit langem als "führender Architekt des deutschen Wirtschaftsstrafrechts". Seine Forschungsinteressen galten dabei immer zugleich den strafrechtsdogmatischen Grundlagen, aber auch dem Verfassungsrecht und der Rechtsgeschichte. Nicht zuletzt muss man Klaus Tiedemann aber auch als einflussreichen Rechtspolitiker bezeichnen, der insbesondere als Mitglied der BMJ-Kommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und als Gutachter zum 49. DJT 1972 das 1. und 2. WiKG maßgeblich geprägt hat. Besondere Verdienste hat er sich zugleich als Wegbereiter des Europäischen Strafrechts erworben, zuletzt als Mitglied der Expertengruppe, die den "Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union" verfasst hat; das Vorwort der Herausgeber nennt ihn mit Recht den "ersten deutschen Strafrechtswissenschaftler", der sich schon frühzeitig vertieft mit dieser noch heute eher schillernd am Horizont aufscheinenden Zukunftsperspektive befasst hat (S. XI). Die zu seinen Ehren herausgegebene Festschrift mit insgesamt sage und schreibe 97 Beiträgen (!), davon mehr als die Hälfte aus der Feder ausländischer Kolleginnen und Kollegen (51 Beiträge), veranschaulicht diese Breite und Interdisziplinarität seiner Forschungsinteressen auf eindrucksvolle Weise. Untergliedert in insgesamt fünf Kapiteln wird der Leser auf eine wahre Abenteuerreise entsandt, angefangen von den "Grundlagen und (dem) Allgemeinen Teil" des (Wirtschafts-)Strafrechts (I.) über zentrale Fragen des "Besonderen Teils" (II.), des "Strafverfahrensrechts" (III.) und des "Europäischen und Internationalen Strafrechts" (IV.) bis hin zu "Kriminologie und Strafvollzug" (V.).
I. Den Auftakt bildet das eindrucksvolle Plädoyer Zapateros für ein "integrales Wirtschaftsstrafrecht" auf der Basis internationalen Zusammenwirkens als Antwort des modernen Rechts- und Sozialstaats auf neue, globalisierte Formen der (organisierten) Kriminalität. Der geforderte Ausbau der Strafrechtsharmonisierung soll dabei mit Recht "von unten nach oben", mit dem Ziel einer "Einheit in Vielfalt" (Schlüchter) erfolgen, d.h. in den Worten des Autors im Wege einer "Hybridisierung nationaler Normen und Institutionen" und nicht mittels "vertikalen Oktroys" durch "hegemoniale Instanzen" (S. 13). Solche sind nach Palazzo um so mehr zu befürchten, wenn die "natürliche" Sensibilisierung für reale Bedrohungen wie insbesondere den internationalen Terrorismus zunehmend die Gefahr einer "Verformung zum Feindstrafrecht" (S. 16) mit sich bringe. Diese beunruhigende Entwicklung wirft unvermeidlich die ungelöste Frage nach dem quis custodiat custodes auf. Die beiden kriminalpolitischen Postulate der "Fragmentarität" und der "Subsidiarität" von Strafrecht taugen nach Kühl dabei nicht als "Bollwerke gegen ständige Neukriminalisierungen", zumal die Beachtung punktueller wirtschaftsstrafrechtlicher Verbote tendenziell weniger freiheitsbeschränkend ist als die Unterwerfung der Akteure unter ein u.U. "umfassendes Kontrollnetz verwaltungsrechtlicher Mechanismen" (S. 33). Zum blei-
benden Erbe der wirtschaftsstrafrechtlichen Reformbewegung, die im AE 1977 ("Straftaten gegen die Wirtschaft") unter maßgeblicher Mitwirkung des Geehrten einen Gipfelsturm erreichte, zählt Achenbach in seinem lehrreichen Rückblick vor allem die "Blickschärfung für die Schattenseiten wirtschaftlicher Betätigung", nicht dagegen die "Hyperaktivität des modernen Gesetzgebers" (S. 59). Die den Wirtschaftsdelikten zugrunde liegende spezifische Gefährdung überindividueller Rechtsgüter (Tiedemann) analysiert Lampe in seiner breit angelegten, tiefschürfenden Studie mit dem Ergebnis, "dass überindividuelle Interessen soziokulturell wertvolle Institutionen hervorbringen, wenn ihre Befriedigung einem überindividuellen Wohl dient (…), und (…) als Rechtsgüter auszugestalten sind, wenn das Vertrauen in ihren Bestand staatlichen Schutzes bedarf" (S. 80).
Den Rahmen des Wirtschaftsstrafrechts überschreitend behandelt Hirsch in systematisierender wie kriminalpolitischer Absicht die sog. "Gefahrdelikte", die anstelle der tradierten "Gefährdungsdelikte" den Oberbegriff für Tatbestände mit Gefahrbezug, d.h. jenseits der Verletzungsdelikte bilden sollen. Dabei verlaufe begrifflich und sachlich die Trennlinie nicht zwischen konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikten, sondern zwischen Gefährdungs- (auf ein bestimmtes Gut bezogen) und Gefährlichkeitsdelikten (auf eine bestimmte Handlung bezogen). Letztere lassen sich dabei je nach handlungsspezifischer Risikodimension nochmals differenzieren, wobei der bloß formelle Normungehorsam ("abstraktes Gefährlichkeitsdelikt") im Kriminalstrafrecht die seltene Ausnahme zu bleiben habe (S. 164). Als ein "Delikt ohne unmittelbar verletztes individuelles Opfer" begreift Günther die Ordnungswidrigkeit als qualitativ Anderes gegenüber einer Straftat, so dass in deutlicherem Kontrast zum Strafrecht besser von Bußgeldrecht gesprochen werden sollte (S. 167 f., 170); als eine der hieraus zu ziehenden Konsequenzen tritt er für die sog. "weiche Schuldtheorie" in ihrer Annäherung an die Vorsatztheorie sowohl beim Irrtum über Blanketttatbestände als auch über normative Tatbestandsmerkmale ein. Solche enthält nach Ransiek entgegen h.M. auch § 370 AO (dazu später auch T. Walter, S. 969 ff.), der nur so mit Blick auf Art. 103 II GG seiner Verfassungswidrigkeit entgehe. Denn die steuerrechtlichen Vorprägungen des Tatbestands seien weder dem Bestimmtheits- noch dem Analogieverbot unterworfen, sondern eigenen Wirksamkeitsvoraussetzungen unterstellt (S. 188). Gewichtige politische (z.B. Gesetzestreue, Demokratie, Gleichheit der Bürger) und juristische Gründe für die größtmögliche Geltungskraft des Gesetzlichkeitsprinzips präsentiert Marinucci in seiner auch strafrechtsgeschichtlich interessanten Studie, die - mit Tiedemann - in jeder "Ablösung von der Straftatbestandlichkeit" de facto nichts anderes als eine "Umgehung des Analogieverbots" sieht (S. 204). Aus dem Tatbestand sind nach Gracia Martín alle "sozialadäquaten Handlungen" auszuscheiden, von denen immer dann die Rede sein soll, wenn es sich um "von der Sozialgemeinschaft allgemein gebilligte, d.h. sich im Rahmen des normalen Ablaufs der geschichtlichen Ordnung einer Gesellschaft ereignende" Geschehnisse handelt (S. 214). Dogmengeschichtlich und verbrechenssystematisch verbindet sich mit dieser Hochschätzung der "Sozialadäquanz" ein eindrucksvolles Plädoyer für den Welzelschen Finalismus, der sich nicht als "ontologistische Dogmatik", sondern als solche von "sachlich-normativ synthetischem Charakter" erweise (S. 207). In seiner spezifischen Ausprägung als "berufsbedingtes Verhalten" bzw. einer "neutralen Beihilfe" findet sich der Grundgedanke der Sozialadäquanz von Kudlich für den Bereich von Steuerstraftaten im grenzüberschreitenden Kontext beleuchtet (S. 221 ff.), von Silva Sánchez für die Beteiligung von Notaren an Vermögens- und Wirtschaftsstraftaten (S. 237 ff.). Im Bereich der Täter- und Teilnahmelehre verteidigt Bacigalupo die Theorie der Pflicht(widrigkeits)delikte sowie deren Folgen für die Akzessorietät in vorbildlicher rechtsvergleichender Methodik im Anschluss an Roxin gegen bekannte Einwände (S. 253 ff.), analysiert Sowada in bestechender Manier "Tatbestände mit spiegelbildlicher Deliktsstruktur (insbesondere im Korruptionsstrafrecht)" wie deren strafrechtsdogmatischen Auswirkungen (S. 273 ff.) und deutet García Cavero die strafrechtliche Verantwortlichkeit des faktischen Geschäftsführers im Lichte der Lehren Jakobs als Verletzung einer (auch durch das Recht gestalteten) "Rollenerwartung" (S. 299 ff.).
Das Schuldprinzip und die hieraus resultierende strafrechtliche "Verantwortlichkeit" findet - der Aktualität der Thematik angemessen - gleich in mehreren Beiträgen vertiefte Behandlung: Dabei geht es Hörnle nicht etwa allein normtextlich um die "verfassungsrechtliche Begründung", sondern - ausgehend vom "Menschenbild des Grundgesetzes" - um eine grundsätzliche Klärung der Fundamentalfrage nach der Berechtigung des "persönlichen Vorwurfs" in einer Zeit verlorengegangener Gewissheit über den Bedeutungsgehalt von "Selbstbestimmung" und "Eigenverantwortung", auch vor dem Hintergrund der neurobiologischen Aufklärung menschlicher "Freiheit". Mit Recht betont sie dabei, dass die im klassischen Verständnis postulierten Grundvoraussetzungen einer Handlungsverantwortung - kausale Urheberschaft, Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit - nicht mehr selbstverständlich sind und insbesondere mit Blick auf die moderne Hirnforschung jene von der Strafrechtslehre gerne gemiedene Auseinandersetzung unumgänglich sei: "ob Menschen zu vernunftgesteuerten Abwägungsprozessen in der Lage sind, die innerhalb der komplexen Abläufe im Gehirn bedeutsam genug sind, um die Einstufung als "vermeidbare Handlung" zu tragen" (S. 339). Bustos Ramírez setzt dagegen die (abstufbare) Fähigkeit des Menschen zum "autonomen" Handeln letzten Endes voraus und sieht den Kern von "Schuld" bzw. "Verantwortung" innerhalb der Rechtsgemeinschaft in der Kategorie der "Zumutbarkeit" - gemeint im Sinne einer Befugnis der staatlichen Hoheitsgewalt, von einer bestimmten Person ein bestimmtes Verhalten zu verlangen. Die Grenzen solcher Zumutbarkeit sind dort erreicht, wo es Personen betrifft, "deren psychische oder emotionale Verfassung ein normales rationales Verhalten unmöglich macht" (S. 352). Im Sinne einer "Gesamtheit der Voraussetzungen für die Anwendung der strafrechtlichen Sanktionen" ist der Begriff "Verantwortung" nach Schroeder international "in breiter Front auf dem Vormarsch"; die deutsche Redeweise (auch des StGB) von der "Strafbarkeit" wirke deshalb "fast schon antiquiert" (S. 357). Die Bestimmung dessen, was in einer Gesellschaft als strafwürdig angesehen werde, ist nach Hurtado Pozo "stets an ethische und soziale Normen und Werturteile gebunden" und deshalb "stark vom sozialen und
kulturellen Kontext abhängig": Dies "ist eine Eigenheit des Strafrechts" (S. 359). Mit Blick auf das peruanische Strafrecht begegnet dabei eine interessante Verknüpfung von Fahrlässigkeit und Verbotsirrtum: Der direkte Verbotsirrtum stelle das Gegenstück zur unbewussten Fahrlässigkeit dar, der indirekte Verbotsirrtum entspreche hingegen der bewussten Fahrlässigkeit (S. 369). Für die schon seit alters her umstrittene Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum will Roxin auch für das Nebenstraf- und Ordnungswidrigkeitenrecht an der Schuldtheorie grundsätzlich festhalten, im Sinne einer differenzierenden Betrachtung insoweit aber in einer "weichen" Ausprägung, wenn der Täter leicht mit dem Erlaubtsein seines Tuns rechnen konnte. In der generellen Linie stimmt er jedoch mit Tiedemann ganz überein: "dass ein Versagen des Täters im Bereich zentraler sozialethischer Wertungen (…) eine andere Behandlung verdient als eine intellektuelle Fehlleistung" (S. 383).
Mit Blick auf den Bereich der Konkurrenzlehre beschreibt Rissing-van Saan die pragmatische Haltung der höchstrichterlichen Rechtsprechung bei der Erfassung von Serienstraftaten, die von Unternehmen begangen werden, die zu betrügerischen oder anderen kriminellen Zwecken errichtet worden sind. Mit der faktischen Anerkennung einer "rechtlichen Handlungseinheit sui generis" befindet sich die Rspr. hiernach in dem Bemühen, für die tägliche Praxis zur Vereinfachung und Problembewältigung in schwierigen Wirtschaftsstrafverfahren taugliche Konzepte zu entwickeln, auf einem dogmatisch zweifelhaften Weg (S. 404). Um weitere dogmatische wie kriminalpolitische Klärung einer adäquaten Sanktionierung von Wirtschaftsunternehmen bemühen sich im Anschluss gleich mehrere Beiträge: Reyes Alvarado sieht keine Unverträglichkeiten zwischen der von ihm befürworteten "Verbandshaftung" und dem strafrechtlichen Schuldbegriff (S. 427), ähnlich wie später Paliero, der mittels der Kategorie des "Organisationsverschuldens" den Weg für eine "moderne Ausrichtung" des Strafrechts auf der Basis eines "Schuldbegriffs mit sozio-normativer Dimension" (S. 508 f.) bereiten will; Schünemann ist dagegen skeptischer und schlägt aufs neue sein Konzept einer "Unternehmenskuratel" vor, d.h. die "gerichtliche Installierung eines gewissermaßen magischen Auges im Unternehmen" (S. 446). Konzepte der "regulierten Selbstregulierung" zur Prävention der Kriminalität von Wirtschaftsunternehmen, sei es im Wege sog. "Compliance-Programme" (mit interessanter Parallele zur Fahrlässigkeit auf S. 469) oder anderer Instrumente einer "corporate governance" (wie z.B. Kozides, gatekeeper u.a.m.), sind Gegenstand der weit ausholenden und sehr differenzierten Beiträge von Sieber (S. 449 ff.) und Nieto Martín (S. 485 ff.). Der Blick auf vergangene und aktuelle Entwicklungen in ausländischen Strafrechtsordnungen, in concreto zur strafrechtspolitischen Lage in Finnland (Lahti, S. 61 ff.), Italien (Vinciguerra, S. 105 ff.), Griechenland (Ziouvas, S. 123 ff.), Japan (Asada, S. 313 ff.), in den Niederlanden (Doelder, S. 563 ff.) und zur Situation in Spanien (mit Beiträgen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung[Cerezo Mir, S. 405 ff.]sowie - noch einmal - zur Haftung von juristischen Personen bzw. Verbänden[de la Cuesta/Pérez Machío, S. 527 ff.; Rodríguez Mourullo, S. 545 ff.]), komplettiert das facettenreiche Bild der "Grundlagen" vorwiegend des Wirtschaftsstrafrechts.
II. Der "Besondere Teil" des (Wirtschafts-)Strafrechts wird mit fünf Beiträgen zum strafbaren Betrug eingeleitet, darunter drei Texten, die sich eingehend mit der Täuschungshandlung befassen. Die Rechtsfigur des "konkludenten Täuschens" wirft dabei bekanntlich besondere Schwierigkeiten auf; der Rekurs Kindhäusers auf die berechtigten Erwartungen der Kommunikationsteilnehmer bildet dabei zweifelsohne einen überzeugenden Zugang zur Ermittlung dessen, was als "symbolisch vermittelter Erklärungswert" gelten kann. Pragmatisch wird auch ein "Verifikationskriterium" angeboten: "Würde die sprachliche Äußerung ihren Zweck verfehlen, wenn der Sprecher das Nichtbestehen einer entsprechenden Tatsache ausdrücklich erwähnte, so ist das Bestehen der Tatsache durch die Äußerung konkludent behauptet" (S. 586). Den näheren Einzelheiten einer (vorsichtigen) "viktimodogmatischen Reduktion des Betrugstatbestandes" geht Arzt für Fälle einer "massenhaft plumpen Täuschung" in Auseinandersetzung mit der höchstrichterlichen Rspr. in der Schweiz und in Deutschland (zu den Insertionsofferten vgl. BGHSt 47, 1 ff.) nach (S. 595 ff.), im Lichte der spanischen Debatte ist für Hernàndez Basualto das betrugsspezifische "Opferschutzniveau" und insbesondere die Begrenzung des Tatbestandes auf "qualifizierte" bzw. "glaubhafte" Lügen weniger eine Frage der Dogmatik (etwa mit Hilfe der Lehre von der objektiven Zurechnung), sondern letztlich eher eine solche der Rechtspolitik (S. 605 ff., 615). Dezidiert dogmatischer Natur ist hingegen die Fragestellung Küpers nach den Gründen für die beim "Erfüllungsbetrug" abweichende Schadensbegründung: nicht im Verhältnis von "Leistung" und "Gegenleistung"; sondern zwischen den Vermögenswerten von "Erfüllung" und vorausgehender "Verpflichtung" (S. 617 ff.). Die mit der höchstrichterlichen Anerkennung einer "schadensgleichen Vermögensgefährdung" einhergehende Vorverlagerung des Vollendungszeitpunkts ist für Weber ein triftiger Grund, um insoweit für eine Rechtsanalogie zu verwandten Regelungen über die tätige Reue (z.B. §§ 264 Abs. 5, 264a Abs. 3, 265b Abs. 2, 298 Abs. 3 StGB) einzutreten (S. 637 ff.).
Auf dem Weg zu einer "Verallgemeinerung des Besonderen Teils" projiziert Jakobs grundlegende rechtstheoretische Erkenntnisse auf den Ist-Bestand des vorfindlichen Eigentums- und Vermögensstrafrechts und entdeckt so eine "umfassende Revisionsbedürftigkeit": Im Kern müsse sich die Strafbarkeit auf (sämtliche?) Konstellationen erstrecken, in denen "die Verletzung eines garantierten Rechts ohne Einwilligung des Berechtigten" oder einer "Verbindlichkeit" in Frage stehe; der subjektive Grund für das Täterverhalten (z.B. Zueignungs- oder Bereicherungsabsicht) sei für das Unrecht irrelevant (S. 661). Zur viel diskutierten, durch aktuelle Fälle ("Mannesmann/Vodafone", "Siemens", "verdeckte Parteispenden") geradezu ins Zentrum der Strafrechtsdebatten gerückten Untreuestrafbarkeit finden sich im Folgenden insgesamt fünf tiefschürfende Beiträge: Darunter befasst sich Otto mit der strafrechtlichen Relevanz einer Übernahme von Verfahrens- oder Verteidigungskosten für Unternehmensangehörige oder von Geldstrafen oder Geldauflagen durch die Unternehmensleitung: Die Schwelle zur "Pflichtwidrigkeit" sei erst bei einer "willkürlichen, sachfremden und daher nicht mehr vertretbaren Entscheidung" überschritten (S. 711). Ebenfalls "pflichtwidrig"
ist nach Rönnau die Einrichtung von "Sonderfonds für nützliche Bestechungsaufwendungen" (sog. "schwarze Kassen"); für die Schadensbegründung verlangt er jedoch den Nachweis eines konkreten (Vermögens-)Verlustrisikos und lässt die vom BGH favorisierte Argumentation mittels der Idee eines "Entzugs von Kontrollmöglichkeiten" nicht genügen (S. 713 ff., 736). Auch Perron plädiert für eine restriktive Interpretation des "Gefährdungsschadens" im Anschluss an die "Kanther"-Entscheidung (BGHSt 51, 100 ff.), ergänzend regt er an, auch über eine Verschärfung des subjektiven Tatbestands ("Schädigungsabsicht" oder "direkter Schädigungsvorsatz") verstärkt nachzudenken (S. 737 ff., 748). Mit der evtl. Strafbarkeit sog. "Transaction-Boni" für Vorstandsmitglieder setzt sich Schüppen näher auseinander: Diese sei zu bejahen, wenn die "äußersten Grenzen unternehmerischen Ermessens" überschritten sind, d.h. insbesondere dann, wenn die Prämie "gezielt so strukturiert (werde), dass ihre Anreizfunktion im Wesentlichen eine Orientierung des Vorstands an dem Ziel der Kaufpreismaximierung intendiert" (S. 764). Im Übrigen sieht der Autor die Bemühungen um eine Begrenzung von Vorstandsgehältern mit einiger Skepsis ("erinnert an den Kampf gegen Doping im Sport"). Aus einer weitgespannten rechtsvergleichenden Perspektive - u.a. auch unter Einbeziehung der Rechtslage in Japan, Korea, Argentinien und den skandinavischen Ländern - sieht Foffani den Anwendungsbereich des § 266 StGB als "zu breit und heterogen" geraten und wendet sich vehement gegen seine Instrumentalisierung als "Auffangtatbestand" oder gar "Allzweckwaffe"; anstelle dessen empfiehlt er - soweit erforderlich - die Schaffung "spezieller Untreuetatbestände mit beschränkten und genau definierten Täterkreisen", welche die "besondere Rechtslage bestimmter Normadressaten - Geschäftsführer, Vorstandsmitglieder, Banken usw. - besser berücksichtigen" könne (S. 786 f.).
Mit grundlegenden oder ausgewählten Fragestellungen aus dem Bereich des Wettbewerbs-, Vergabe- und Korruptionsstrafrechts befassen sich die Beiträge von Dannecker, Vogel, Rengier, de la Mata Barranco, Lüderssen und Pieth: Die Notwendigkeit einer Kriminalisierung von Kartellrechtsverstößen mit Rücksicht auf die besondere Schutzbedürftigkeit des freien Wettbewerbs in der Europäischen Union ("als Motor höchster ökonomischer Leistungsfähigkeit bei größtmöglicher Freiheitssicherung") bildet den Gegenstand der sehr rechtsgrundsätzlichen Studie von Dannecker. Die Inkonsistenz der Rechtslage zwischen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, aber auch innerhalb des deutschen Rechts begründet danach erheblichen Reformbedarf (S. 800 ff.; zum österreichischen "Kartellgeldbußenrecht": Schick, S. 851 ff.). Die bekannten Missstände der Vergabepraxis bei öffentlichen Aufträgen werden von Vogel beleuchtet; seine Empfehlung geht dahin, die Abkehr von marktwidrigen Vergabeprinzipien wie "bekannt und bewährt" oder "buy national, regional, local" durch ein neues "Vergabestrafrecht" zu erzwingen (Einzelheiten auf S. 831 ff.). Dagegen betont Rengier die Subsidiarität des Strafrechts für das Versprechen von Verkaufsprämien nach Art des "Korkengeld"-Falles (RGSt 48, 291). Die Lösung liege im Gebot der Transparenz, d.h. in der Einweihung des Geschäftsherrn und Erlangung seiner Zustimmung, womit der häufig beklagte Widerspruch zur Strafbarkeit der Angestellten beseitigt sei. Denn dadurch erlange die Vorteilsgewährung einen "innerbetrieblichen Charakter" (S. 845) und sei demzufolge nicht "unlauter" (S. 848). De la Mata Barranco begibt sich auf die unwegsame Suche nach dem Rechtsgut, das den Bestechungsdelikten zugrunde liegen könnte (S. 869 ff.); Lüderssen diskutiert anlässlich vergangener rechtspolitischer Bestrebungen die tatbestandliche Reichweite des § 299 I StGB (S. 889 ff.), Pieth untersucht die strafrechtliche Relevanz unternehmerischen Fehlverhaltens ("Aufpreise für Aufträge") im Rahmen des UNO-Programms "Öl-für-Lebensmittel" im Irak (S. 901 ff.).
In den verbleibenden Beiträgen aus dem Bereich des Besonderen Teils begegnen noch eine Reihe weiterer, interessanter Problemstellungen: Hillenkamp vermisst mit Recht eine hinreichende Klärung der zentralen Frage, an welchem Punkt "Unmöglichkeit oder Unvermögen zur Buchführung oder Bilanzerstellung den grundsätzlich Pflichtigen von seiner Pflicht befreit" (S. 950). Die eingehende Auseinandersetzung mit der - überschaubaren - Rechtsprechung mündet am Ende in vier Leitgesichtspunkte, die dazu dienen, die - allseits anerkannte - Maxime des "impossibilium nulla obligatio" mit konkretem Inhalt auszufüllen. Dem GmbH-Strafrecht bescheinigt Müller-Gugenberger dagegen keine Zukunftsperspektive angesichts der wachsenden Bedeutung der (europäischen) Auslandsgesellschaften nach dem Startschuss für den "Wettbewerb der Rechtsordnungen" durch das "Centros"-Urteil des EuGH. Der Reformvorschlag geht dahin, die Mehrzahl der rechtsformspezifischen Straftatbestände "durch allgemeine, alle ähnlich strukturierten Unternehmensträger erfassende Tatbestände" zu ersetzen (S. 1022). Mit Blick insbesondere auf die englische Ltd. formuliert auch H. Richter rechtspolitischen Ergänzungsbedarf im Bereich des (deutschen) Insolvenzverschleppungsstrafrechts (S. 1023 ff.). Schon aus den USA in das deutsche Recht "importiert" ist - ausgelöst durch die Ereignisse um "Enron" und "WorldCom" - der sog. "Bilanzeid", d.h. die - strafbewehrte (vgl. § 331 Nr. 3a HGB) - Pflicht zur Bekräftigung der Richtigkeit von Bilanzen. Hefendehl sieht darin ein Exempel für die mittlerweile häufiger beklagte "Amerikanisierung der Rechtspolitik", sub specie durch "Governing through crime". Sein Fazit ist ebenso richtig wie bestürzend: "Wenn allein wegen des Labels ein Eid bemüht wird, der keinerlei positive Wirkung haben kann, so geht der Ernst des Strafrechts als ultima ratio verloren" (S. 1084). Zu den vielfältigen Auslegungs- und Bestimmtheitsproblemen der mit der Marktmissbrauchsrichtlinie (2003/6/EG) auf den Weg gebrachten Regelungen zur Bekämpfung von Insiderhandel und Marktmanipulation resümiert Seminara treffend: "In einem Strafrecht, das die individuellen Rechte und Garantien des Einzelnen respektiert, muss die Grenze zwischen Recht und Unrecht mit absoluter Klarheit gezogen werden" (S. 1108). Dass Strafrecht nicht von vornherein ein Hemmnis für neue technische oder ökonomische Innovationen sein muss, verdeutlicht Hilgendorf anschaulich am Beispiel des sog. "IT-Outsourcing" (S. 1125 ff.): Ob allerdings im Falle des Falles auch die Rspr. der skizzierten restriktiven Auslegung des § 203 StGB folgen wird, bleibt noch abzuwarten. Dem strafrechtlichen Schutz von Unternehmensgeheimnissen und der ihm zugrunde liegenden Zwecksetzung - nicht Vermögensschutz, sondern Schutz der wettbewerblichen Entfal-
tungsfreiheit von Unternehmen - sind die eingehenden Überlegungen von Aldoney Ramírez gewidmet (S. 1141 ff.).
Wiederum wird die facettenreiche, jederzeit spannende tour d`horizont durch das Gebiet des Eigentums- und Vermögensstrafrechts bereichert durch Beiträge zu ausgewählten Rechtsfragen aus der Perspektive ausländischer Rechtsordnungen, so in Bezug auf das spanische Recht zum Subventionsbetrug (einschließlich der Frage nach dem Konkurrenzverhältnis zum Betrugstatbestand, Asua, S. 663 ff.), zum sog. Kreditbetrug (Muñoz Conde, S. 677 ff.), zur Tatbestandsmäßigkeit einer "Steuerumgehung" (Hormazábal Malarée, S. 991 ff.), zur Korruption im politischen Bereich, sog. "Handel mit Einfluss" (Abanto Vasquez, S. 913 ff.) und zum strafrechtlichen Schutz des "Kunstwerks" (Bajo Fernàndez, S. 1181 ff.), weiterhin zur Korruption im Sport nach polnischem Strafrecht (Szwarc, S. 939 ff.), zum italienischen Tatbestand der Bilanzfälschung, sog. "wahrheitswidrige Mitteilungen der Gesellschaft" (Zuccalà, S. 1045 ff.), zum "Insiderhandel" (Kamiyama, S. 1109 ff.) bzw. zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität in Japan (Nishihara, S. 1205 ff.), zum Wuchertatbestand nach schweizerischem StGB (Ackermann, S. 1163 ff.) sowie zur Bekämpfung der Geldwäsche im neuen türkischen Recht (Yenisey, S. 1191 ff.).
III. Im Übergangbereich vom materiellen zum "Strafverfahrensrecht" liegt die weit ausgreifende, an den rechtsphilosophischen Fundamenten ansetzende Studie von Maier. Sie geht von der Grundeinsicht in die - länderübergreifende - "Krise des (gesamten) Strafrechts" aus und sieht die entscheidende Ursache hierfür in seinem "bestürzenden Doppelcharakter", d.h. in der unheilvollen Vermengung von Repression und Prävention ("Dr. Jekyll und Mr. Hyde"), die - man denke nur an die Ausweitung geheimer Ermittlungsmethoden - längst auch auf das Verfahrensrecht ausgreift. Parallel zur Expansion des materiellen Strafrechts ("von der ultima ratio zur prima donna") zeigt sich zunehmend ein "Erstarken der Konsensjustiz", die unweigerlich zur Schwächung der Beschuldigtenrechte führe. Als Ausweg aus diesem Dilemma empfiehlt er einen verstärkten Einsatz des Verwaltungsrechts: Denn bei einer Reaktion der Rechtsgemeinschaft auf die spezifischen Probleme der "Risikogesellschaft" geht es "nicht um den Ausgleich von Unrecht, sondern um die Verhütung von Schäden, nicht um Bestrafung, sondern um Kontrolle, nicht um Vergeltung, sondern um Sicherheit, nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft" (S. 1239). In der unveränderten Übertragung des "fair trial" in das deutsche Prozessrecht will Fletcher einen wachsenden Einfluss englischen und amerikanischen Rechtsdenkens erkennen. Näher aufgedeckt werden nicht die sachlichen, wohl aber semantischen Implikationen des "Fairneß"-Begriffs (z.B. im "fair play"). Eine "besorgniserregende Reduktion" der Wirkkraft von Beweisverboten konstatiert Gómez Colomer für das spanische Recht (S. 1251 ff.). Exemplifiziert wird dies vor allem anhand der Fernwirkung des Beweisverbots und ihrer schrittweisen Relativierung, um ein Vereiteln der angestrebten Verurteilung möglichst zu verhindern. Sein beeindruckendes Plädoyer nach mehr Rechtsstaatlichkeit erwählt das deutsche Strafprozessrecht zum Vorbild: Kenner der aktuellen Entwicklungen werden dieses positive Bild wohl inzwischen mit einigen dunkleren Pinselstrichen versehen. Eine nochmalige, spannende und lehrreiche Erweiterung der Perspektive erfährt der Leser in Müller-Dietz` "fragmentarischen Ausschnitt aus der … Widerspiegelung der Rechtswelt (genauer: der Figur des Strafverteidigers)" in der modernen Literatur. Ob nun Musils "Mann ohne Eigenschaften", Kafkas "Der Prozess" oder "Der Fall Arbogast" von Thomas Hettches: Stets vermitteln Werke wie diese mindestens eine Ahnung, "wie Recht und dessen praktische Verwirklichung im Strafprozess von Gegenwartsautoren erlebt wird, welche Gestalt Juristen und ihr mehr oder minder professionelles Handeln in künstlerischer, namentlich sprachlicher Einverwandlung annehmen können" (S. 1288).
IV. Im Kontext des "Europäischen und Internationalen Strafrechts" beleuchten zahlreiche Beiträge den - nach Ratifizierung des Vertrages von Lissabon jetzt nachhaltig beförderten - Prozess der europaweiten Harmonisierung auf jenem Gebiet, das nach herkömmlichem Verständnis in die exklusive Zuständigkeit der nationalen Souveränität gehört ("belonged to the exclusive territory of national sovereignty", Vervaele, S. 1358). Damit dieser - unter dem Druck der insbesondere wirtschaftlichen Globalisierung (ergänzend zu einer transnationalen "lex mercatoria", Delmas-Marty, S. 1291 ff.) und der Internationalisierung des Verbrechens (zum "strafrechtlichen Kampf gegen den Terrorismus" Cancio Meliá, S. 1489 ff.) unausweichliche - Prozess gelingen und das Zusammenwirken zwischen den Mitgliedstaaten und den europäischen Exekutivorganen auf der Basis wechselseitigen Vertrauens erfolgen kann, plädiert Vervaele überzeugend für die Etablierung einer "Europäischen Agenda" von gemeinsamen strafrechtlichen Prinzipien, zu denen er u.a. auch die Ideen von "ultima ratio" und "ultimum remedium" der Strafverfolgungstätigkeit zählt (S. 1383 f.; zum Beitrag der Rechtsvergleichung mit Bezug auf das französische Recht: Jung, S. 1515 ff.). Andere sind gegenüber dem Vorhandensein einer "europäischen Strafrechtskultur" mit gemeinsamen, "unverzichtbaren Prinzipien" skeptischer (vgl. Quintero Olivares, S. 1339 ff., 1345 f.: "nicht nur wegen der großen Unterschiede zwischen den Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten, sondern auch aufgrund … der Krise des "garantistischen" Strafrechts") und gehen auf der Grundlage eines "Vorrangs des Unionsrechts" (Böse, S. 1321 ff., zutreffend auch auf den Grundrechtsschutz bezogen) von einer stärkeren Europäisierung "von oben" auf den unterschiedlichen hier vorfindlichen Einflussebenen aus (z.B. durch Rahmenbeschlüsse wie jenem über den Europäischen Haftbefehl, dazu aus Sicht des griechischen Rechts Spinellis, S. 1425 ff.), die - wie Zieschang (S. 1303 ff.) näher beschreibt - schon in der Vergangenheit wirksam waren. Dahingehende strafrechtseuropäische Visionen werden etwa für das Sanktionenrecht (Sumalla, S. 1413 ff.) näher ausgebreitet. Soweit es durch die europäische oder durch eine unionsrechtlich gebundene Rechtsprechung zunehmend zu einer richterrechtlichen "Neutralisierung nationalstaatlicher Strafnormen" kommt, sieht Manacorda darin eine Gefährdung der einheitlichen Rechtsanwendung und letztlich der Rechtssicherheit (S. 1385 ff., 1397 f.).
Welchen Einfluss die EMRK unter maßgeblicher Deutungshoheit durch den EGMR künftig (nicht nur für die italienische Strafprozessordnung, dazu Militello, S. 1399 ff.) auf die Entwicklung des Strafrechts haben wird, ob sie insbesondere als Nukleus einer europäischen "Rumpf-StPO" wirken (ausführlich Esser, StV 2002, 383 ff.) und den Weg zu einer schrittweisen Europäisierung des Strafverfahrensrechts bereiten kann, bleibt abzuwarten. Vorüberlegungen zu einer genuin europäischen Strafgerichtsbarkeit stellt Eser an, vor allem im Hinblick auf die besonders bedeutsamen Strukturfragen und jene nach der künftigen Rolle der Prozessbeteiligten im Lichte der bisher entweder eher inquisitorisch oder eher adversatorisch geprägten nationalen Verfahrensordnungen (S. 1453 ff.). Aus der Perspektive des britischen Rechts veranschaulicht Leigh den damit zwangsläufig einhergehenden "Konflikt zwischen den Gerichtsbarkeiten" mitsamt der Problematik zur Geltung des ne-bis-in-idem-Grundsatzes (S. 1503 ff., am Ende auch die Notwendigkeit betonend, die zuständigen nationalen Institutionen in ihrer Funktionalität auf internationaler Ebene zu stärken; um Zusammenspiel zwischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche im schweizerischen Recht und der Rechtshilfe in Strafsachen näher Bernasconi, S. 1473 ff.). Die Brücke zum Völkerstrafrecht überschreitet Weigend mit interessanten Überlegungen zur Reichweite und Ausgestaltung eines "internationalen Notwehrrechts" (S. 1439 ff.). Den Abschluss bildet ein auch für Feuerbach-Experten vermutlich überraschender Text zur herausragenden Bedeutung des BayStGB 1813 für das argentinische Strafrecht selbst der Gegenwart (Zaffaroni, S. 1525 ff.).
V. Beiträge zu sehr heterogenen Themen versammeln sich schließlich im fünften und letzten Kapitel zu "Kriminologie und (Jugend-)Strafvollzug". Dölling kämpft gegen die aktuellen Bestrebungen in Richtung einer weiter reichenden "Privatisierung" des Strafvollzuges und sieht hierin - anders als bei der Übertragung von Aufgaben jenseits des Kernbereichs auf Private - überzeugend das Rechtsstaatsprinzip verletzt (S. 1539 ff.). Die persönlichkeitsprägenden Besonderheiten des Jugendstrafvollzugs behandelt Rehbein (S. 1607 ff.) anhand ausgewählter Fallbeispiele, die verdeutlichen, wie schwierig sich in praxi der erstrebte "Brückenbau" zwischen Recht und Erziehung darstellt. Transparenz ist jedoch nicht nur hier vonnöten (insbesondere im Hinblick auf das Erfahren der "sozialen Geltung von Rechtsnormen" seitens der Jugendlichen, S. 1612), sondern auch allgemein zwecks bestmöglicher Erfassung des tatsächlichen Kriminalitätsgeschehens: Dass die Kriminalstatistiken diesbezüglich eine Reihe von Defiziten aufweisen, erläutert Heinz ausführlich nicht nur unter Nennung der hierfür ursächlichen Gründe, sondern zugleich verbunden mit höchst beachtenswerten Lösungsvorschlägen (S. 1547 ff.). Auf eine solchermaßen beschreibende Rolle sieht Courakis aber den Kriminologen nicht beschränkt, sondern vielmehr als einen auch bewertenden und empfehlenden "Gestalter der Rechtspolitik" (S. 1577 ff.). Für den Bereich der Korruptionsbekämpfung spricht sich Kaiser im Rahmen seiner instruktiven Studie zu den (tat- wie täterbezogenen) "Brennpunkten der Wirtschaftskriminologie" für eine - ungeachtet notwendiger Reformen in den jeweiligen gesellschaftlichen Bereichen - im Schwerpunkt strafrechtlich geprägte Kriminalprävention aus (S. 1583 ff., 1598). Demgegenüber gesteht Greve den Strafgesetzen und ihrer Exekution eher umgekehrt eine nur geringe Wirkkraft zu; am anekdotenhaft aufbereiteten Beispiel des "Schwarzbrennens" betont er stattdessen: "Das stärkste Gesetz ist das ökonomische" (S. 1599 ff., 1605).
Was bleibt am Ende noch zu resümieren? Die ausführlichen und doch viel zu knappen Impressionen lassen erahnen, welch reiche Welt sich vor des Lesers Auge ausbreitet, sobald er der Versuchung erliegt, sich in diese Festschrift zu vertiefen. Er blickt auf ein facettenreiches, vielfarbiges Gemälde der nationalen, europäischen und internationalen Strafrechtslandschaft, in seiner geschichtlichen wie gegenwärtigen Gestalt und nicht zuletzt hinsichtlich seiner Zukunftsperspektiven. Dass diese von den Autorinnen und Autoren des Werkes zum Teil recht unterschiedlich eingeschätzt werden, vom Verblühen und Verwelken des klassischen Strafrechts bin hin zum "europäischen Frühling", wird nicht überraschen. Im Ganzen offenbart sich darin die Offenheit und Unvoreingenommenheit jedes ernsthaften Nachdenkens und die Breite der Themen und Fragestellungen, wie sie dem wissenschaftlichen Wirken des Geehrten ganz und gar entspricht; die zu seinen Ehren herausgegebene Festschrift ist wahrlich seiner würdig!
Prof. Dr. Gunnar Duttge, Georg-August-Universität Göttingen