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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
September 2010
11. Jahrgang
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1. Der Untreuetatbestand des § 266 Abs. 1 StGB ist mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu vereinbaren. (BVerfGE)
2. Die Rechtsprechung ist gehalten, Unklarheiten über den Anwendungsbereich von Strafnormen durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (Präzisierungsgebot). (BVerfGE)
3. Der in Art. 103 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommende strenge Gesetzesvorbehalt erhöht die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte. (BVerfGE)
4. Aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit folgt ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Dabei ist „Analogie“ nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr
jede Rechtsanwendung, die – tatbestandsausweitend – über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht, wobei der mögliche Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen ist (stRspr, vgl. BVerfGE 71, 108, 115; 82, 236, 269; 92, 1, 12). (Bearbeiter)
5. Dementsprechend darf die Auslegung der Begriffe, mit denen der Gesetzgeber das unter Strafe gestellte Verhalten bezeichnet hat, nicht dazu führen, dass die dadurch bewirkte Eingrenzung der Strafbarkeit im Ergebnis wieder aufgehoben wird. Einzelne Tatbestandsmerkmale dürfen also auch innerhalb ihres möglichen Wortsinns nicht so weit ausgelegt werden, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden (Verschleifung oder Entgrenzung von Tatbestandsmerkmalen; vgl. BVerfGE 87, 209, 229; 92, 1, 16 f.). (Bearbeiter)
6. In Betracht kommt aber auch, dass bei methodengerechter Auslegung ein Verhalten nicht strafbewehrt ist, obwohl es vom Wortlaut des Strafgesetzes erfasst sein könnte. Auch in einem solchen Fall darf ein nach dem Willen des Gesetzgebers strafloses Verhalten nicht durch eine Entscheidung der Gerichte strafbar werden (vgl. BVerfGE 87, 209, 224 m.w.N.). Vielmehr haben die Gerichte dies zu respektieren und erforderlichenfalls durch restriktive Auslegung eines weiter gefassten Wortlauts der Norm sicherzustellen (vgl. BVerfGE 82, 236, 270 f.; 87, 399, 411), im Ergebnis also freizusprechen. (Bearbeiter)
7. Art. 103 Abs. 2 GG enthält Vorgaben für die Handhabung weit gefasster Tatbestände und Tatbestandselemente. Die Gerichte dürfen nicht durch eine fernliegende Interpretation oder ein Normverständnis, das keine klaren Konturen mehr erkennen lässt, dazu beitragen, bestehende Unsicherheiten über den Anwendungsbereich einer Norm zu erhöhen, und sich damit noch weiter vom Ziel des Art. 103 Abs. 2 GG entfernen (vgl. BVerfGE 71, 108, 121; 87, 209, 224 ff., 229; 92, 1, 19). (Bearbeiter)
8. Gerade in Fallkonstellationen, in denen der Normadressat nach dem gesetzlichen Tatbestand nur noch die Möglichkeit einer Bestrafung erkennen kann und in denen sich erst aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt (vgl. BVerfGE 26, 41, 43; 45, 363, 371 f.), trifft die Rechtsprechung eine besondere Verpflichtung, an der Erkennbarkeit der Voraussetzungen der Strafbarkeit mitzuwirken. Sie kann sich auch in über die allgemeinen Grundsätze des Vertrauensschutzes (vgl. dazu BVerfGE 74, 129, 155 f.; 122, 248, 277 f.) hinausgehenden Anforderungen an die Ausgestaltung von Rechtsprechungsänderungen niederschlagen. (Bearbeiter)
9. Stützen die Gerichte insbesondere ihre Auslegung und Anwendung der Strafnorm auf ein gefestigtes Verständnis eines Tatbestandsmerkmals oder der Norm insgesamt, prüft das Bundesverfassungsgericht das Bestehen eines solchen gefestigten Verständnisses in vollem Umfang nach (vgl. BVerfGE 92, 1, 18; 92, 1, 23 ff. - abw. M.). Entsprechendes gilt, wenn die Strafbarkeit nach einer weit gefassten Norm mittels gefestigter komplexerer Obersätze eingegrenzt wird, wie sie etwa bei der Bildung von Fallgruppen und auf diese bezogene Spezifizierungen der Anforderungen der Strafrechtsnorm anzutreffen sind. Das Bundesverfassungsgericht prüft insoweit, ob die Gerichte bei Anwendung und Auslegung der Strafnorm bei den bislang entwickelten, die Norm konkretisierenden Obersätzen geblieben sind, gegebenenfalls ob sie diese im Rahmen der Strafnorm folgerichtig weiterentwickelt und ob sie sie der Würdigung des konkreten Falls zugrunde gelegt haben. (Bearbeiter)
10. Dagegen wird ein gegebenenfalls in höchstrichterlichen Obersätzen gefestigtes Normverständnis einer inhaltlichen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht nur in dem Sinne unterzogen, dass es nicht evident ungeeignet zur Konturierung der Norm sein darf. Insoweit werden – ebenso wie hinsichtlich der Anwendung der gegebenenfalls durch Obersätze konturierten und präzisierten Strafnorm – grundsätzlich keine Fragen des Verfassungsrechts aufgeworfen. (Bearbeiter)
11. Art. 103 Abs. 2 GG enthält einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung festzulegen (BVerfGE 75, 329, 341 m.w.N.). Der Gesetzgeber übernimmt mit der Entscheidung über strafwürdiges Verhalten die demokratisch legitimierte Verantwortung für eine Form hoheitlichen Handelns, die zu den intensivsten Eingriffen in die individuelle Freiheit zählt; es ist eine grundlegende Entscheidung, in welchem Umfang und in welchen Bereichen ein politisches Gemeinwesen gerade das Mittel des Strafrechts als Instrument sozialer Kontrolle einsetzt (BVerfGE 123, 267, 408). (Bearbeiter)
12. Welchen Grad an gesetzlicher Bestimmtheit der einzelne Straftatbestand haben muss, lässt sich nicht allgemein sagen (BVerfGE 28, 175, 183). Deshalb ist im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung möglicher Regelungsalternativen zu entscheiden, ob der Gesetzgeber seinen Verpflichtungen aus Art. 103 Abs. 2 GG im Einzelfall nachgekommen ist. Zu prüfen sind die Besonderheiten des jeweiligen Straftatbestands einschließlich der Umstände, die zu der gesetzlichen Regelung führen (BVerfGE 28, 175, 183), wobei der Gesetzgeber die Strafbarkeitsvoraussetzungen umso genauer festlegen und präziser bestimmen muss, je schwerer die von ihm angedrohte Strafe ist (BVerfGE 75, 329, 342). Auch der Kreis der Normadressaten ist von Bedeutung (BVerfGE 48, 48, 57). (Bearbeiter)
13. Ein Vermögensnachteil im Sinne des § 266 StGB setzt zwingend einen Vergleich zweier Vermögenslagen voraus, bei dem sich eine Differenz ergeben muss. Die Untreue stellt ein reines Verletzungserfolgsdelikt dar, das ein Erfolgsunrecht voraussetzt. Beim Rechtsgut des Vermögens als Bezugspunkt des anzustellenden Vergleichs handelt es sich nicht um einen der sinnlichen Wahrnehmung unmittelbar zugänglichen Gegenstand, sondern um eine wirtschaftliche Größe, deren Umfang zu einem bestimmten Zeitpunkt sich erst aus einer Bewertung ergibt. In deren Rahmen bedarf es der Entscheidung, welche Vermögenspositionen in die Wertbestimmung einfließen und wie deren Wert zu ermitteln ist. Hierbei können normative Erwägungen eine Rolle spielen. Sie dürfen
aber, soll der Charakter der Untreue als Vermögensdelikt und Erfolgsdelikt bewahrt bleiben, wirtschaftliche Überlegungen nicht verdrängen. So kann beispielsweise die Verwendung des anvertrauten Vermögens zu verbotenen Zwecken nicht per se als nachteilsbegründend angesehen werden; vielmehr bleibt es auch in solchen Fällen erforderlich, zu prüfen, ob das verbotene Geschäft – wirtschaftlich betrachtet – nachteilhaft war. Ferner ist zu bedenken, dass es sich bei der Entstehung von Vermögensnachteilen oder -schäden im Allgemeinen um einen dynamischen Prozess handelt, dessen Beurteilung stark davon abhängen kann, welcher Zeitpunkt der Untersuchung zugrunde gelegt wird. (Bearbeiter)
15. Im Falle des Nachteilsmerkmals muss die Auslegung den gesetzgeberischen Willen beachten, dieses Merkmal als selbständiges neben dem der Pflichtverletzung zu statuieren; sie darf daher dieses Tatbestandsmerkmal nicht im Pflichtwidrigkeitsmerkmal aufgehen lassen. Um das Vollendungserfordernis zu wahren, sind eigenständige Feststellungen zum Vorliegen eines Nachteils geboten. Von einfach gelagerten und eindeutigen Fällen – etwa bei einem ohne weiteres greifbaren Mindestschaden – abgesehen, werden die Strafgerichte den von ihnen angenommenen Nachteil der Höhe nach beziffern und dessen Ermittlung in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen darlegen müssen. (Bearbeiter)
16. Eine gebotene konkrete Ermittlung des Nachteils darf insbesondere nicht aus der Erwägung heraus unterbleiben, dass sie mit praktischen Schwierigkeiten verbunden ist. Wenn und soweit in der wirtschaftlichen Praxis geeignete Methoden zur Bewertung von Vermögenspositionen entwickelt worden sind, müssen die Gerichte diese – gegebenenfalls über die Hinzuziehung eines Sachverständigen – auch ihrer Beurteilung zugrunde legen. Dabei geht es darum, die Schadensfeststellung auf eine sichere Grundlage zu stellen, sie rational nachvollziehbar zu machen und sich zu vergewissern, ob im Einzelfall eine hinreichend sichere Grundlage für die Feststellung eines Vermögensnachteils überhaupt existiert oder ob man sich in einem Bereich bewegt, in dem von einem zahlenmäßig fassbaren Schaden noch nicht die Rede sein kann. Soweit Unsicherheiten verbleiben, ist unter Beachtung des Zweifelssatzes der (Mindest)Schaden im Wege der Schätzung zu ermitteln. (Bearbeiter)
17. Es kann der wirtschaftlichen Praxis und dem Blickwinkel des Bestimmtheitsgebots maßgebenden allgemeinen Sprachgebrauch in Einklang stehen, bei Bestehen der konkreten Gefahr eines künftigen Verlusts bereits einen gegenwärtigen Nachteil anzunehmen. Dies ist nicht in sich widersprüchlich, sondern Folge der spezifischen Eigenart des Rechtsguts Vermögen. Ein solcher Ansatz stellt auch nicht die vom Gesetzgeber vorausgesetzte Unterscheidung zwischen „bloßer Gefahr“ einerseits und gegenwärtigem Nachteil andererseits grundsätzlich in Frage: Die (negative) Wertberichtigung ist die Konsequenz aus einem erkannten Risiko; sie ist weder mit diesem Risiko noch gar mit dem wahrscheinlich erwarteten zukünftigen Verlust selbst identisch. Die Schadenshöhe hängt von dem prognostizierten Risiko ab und wird daher in aller Regel den vollen nominellen Wert des verlustgefährdeten Vermögensgegenstands nicht erreichen; zwischen dem erwarteten Schaden und dem gegenwärtigen besteht also regelmäßig ein quantitativer Unterschied. (Bearbeiter)
18. Der Verzicht auf eine eigenständige Ermittlung des Nachteils bei Risikogeschäften im Fall der „weiten Abweichung von den Geboten kaufmännischer Sorgfalt“ oder dem „Handeln nach Art eines Spielers“ begegnet durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Er ist geeignet, die eigenständige strafbarkeitsbegrenzende Funktion des Nachteilsmerkmals zu unterlaufen, indem an die Stelle der vom Gesetzgeber gewollten wirtschaftlichen Betrachtung eine weitgehend normativ geprägte Betrachtungsweise tritt. Ein eigenständiger, über das Merkmal der Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht hinausgehender Gehalt des Nachteilsmerkmals ist bei solcher Auslegung nicht mehr zu erkennen; es findet eine „Verschleifung“ der Tatbestandsmerkmale entgegen der gesetzgeberischen Intentionen statt. Nur eine nachvollziehbare Darlegung und Ermittlung des Schadens auch in seinem Ausmaß kann verhindern, dass eine Bestrafung wegen (vollendeter) Untreue auch dann erfolgt, wenn Verlustwahrscheinlichkeiten so diffus sind oder sich in so niedrigen Bereichen bewegen, dass der Eintritt eines realen Schadens ungewiss, wenn auch möglich bleibt. Anerkannte Bewertungsverfahren und -maßstäbe sind zu berücksichtigen; soweit komplexe wirtschaftliche Analysen vorzunehmen sind, wird die Hinzuziehung eines Sachverständigen erforderlich sein. Die im Falle der hier vorzunehmenden Bewertung unvermeidlich verbleibenden Prognose- und Beurteilungsspielräume sind durch vorsichtige Schätzung auszufüllen. Im Zweifel muss freigesprochen werden. (Bearbeiter)
1. Ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK kann unabhängig vom Verhalten des Betroffenen auch zur Rettung von Leben und selbst im Fall eines Notstandes für den gesamten Staat nicht gerechtfertigt werden.
2. Wird eine Person unmittelbar und realistisch mit Folter bedroht, stellt dies – wie hier im „Fall Gäfgen“ – einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK mindestens in Form der unmenschlichen Behandlung dar.
3. Im „Fall Gäfgen“ ist die Opferstellung im Sinne des Art. 34 EMRK insbesondere auf Grund der geringen Bestrafung der Verantwortlichen und der Beförderung
Daschners sowie des noch nicht zur Sache entschiedenen Amtshaftungsprozesses nicht entfallen.
4. Nur die Verwertung von Beweismitteln, die unmittelbar unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK erlangt worden sind, führt stets zur Unfairness des Verfahrens, in dem die Beweise verwertet worden sind.
5. Der Verwertung von Sachbeweisen, die mittelbar auf Grund eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK erlangt worden sind, verstößt in der Regel gegen Art. 6 EMRK, wenn sich die Verurteilung oder die Strafe auf das Beweismittel kausal stützen. Die Kausalität ist aber nicht immer schon dann gegeben, wenn sich das nationale Tatgericht zum Beispiel zur Überprüfung eines urteilstragenden reuevollen Geständnisses auch auf Sachbeweise bezieht, die mittelbar auf Grund eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK erlangt worden sind.
6. Eine Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK ist nicht wegen der mangelnden Ausschöpfung nationaler Rechtsbehelfe unzulässig, nur weil der Beschwerdeführer die in der Revision vorgetragene weitestmögliche Rüge (Verfahrenshindernis) nicht durch die Darlegung eingeschlossener Rügen minderer Reichweite (Beweisverwertungsverbot) ergänzt hat. Ebenso wenig tritt die Unzulässigkeit ein, wenn in der Verfassungsbeschwerde nicht hinreichend erklärt wird, weshalb die Verfassung ein Verfahrenshindernis begründen sollte. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das BVerfG wenigstens zum Teil in der Sache auf die Rüge eintritt.