HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 757
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 5 AR 22/10, Beschluss v. 04.08.2010, HRRS 2010 Nr. 757
Auf die Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft wird der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 25. Februar 2010 in Ziff. 1 und 2 aufgehoben.
Der Antrag des Beschwerdegegners auf gerichtliche Entscheidung gegen den Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 1. Dezember 2009 wird zurückgewiesen.
Der Beschwerdegegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Generalstaatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 25. Februar 2010, mit dem unter Aufhebung gegen den Beschwerdegegner ergangener Vollstreckungsbescheide die Vollstreckungsbehörde verpflichtet worden ist, den Beschwerdegegner unter Beachtung der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts über die Reihenfolge der Vollstreckung neu zu bescheiden.
Der angefochtenen Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Gegen den vielfach, auch aufgrund von Straftaten, die nicht im Zusammenhang mit seiner Betäubungsmittelabhängigkeit stehen, vorbestraften Beschwerdegegner wurde zunächst eine (nach § 35 Abs. 1, 3 Nr. 2 BtMG zurückstellungsfähige) Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln aus dem Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 27. März 2007 (Az. 8831 Js 42920/06) vollstreckt, nachdem eine in dieser Sache zunächst gewährte Zurückstellung der Strafvollstreckung widerrufen werden musste, da der Beschwerdegegner am 2. Juli 2007 die stationäre Drogentherapie abgebrochen hatte und bis zu seiner erneuten Festnahme am 17. Dezember 2008 untergetaucht war. Nachdem zwei Drittel dieser Strafe verbüßt waren, schloss sich ab dem 23. Januar 2010 die Vollstreckung einer (nicht nach § 35 BtMG zurückstellungsfähigen) zunächst zur Bewährung ausgesetzten, dann aber widerrufenen viermonatigen Freiheitsstrafe wegen Diebstahls aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Kassel vom 2. Oktober 2006 (Az. 9641 Js 3819/06) an. Die Zweidrittelverbüßung war auf den 12. April 2010 notiert. Seither verbüßt der Beschwerdegegner eine (nach § 35 Abs. 1, 3 Nr. 2 BtMG zurückstellungsfähige) Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge aus dem Urteil des Amtsgerichts Krefeld vom 8. Januar 2010 (Az. 31 Js 204/09). Zwei Drittel dieser Strafe werden am 12. Dezember 2011 vollstreckt sein.
Der Beschwerdegegner hat am 4. Mai 2009 eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge dahingehend beantragt, dass zunächst die nicht nach § 35 BtMG zurückstellungsfähige Strafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Kassel vom 2. Oktober 2006 vollstreckt werde, weil er beabsichtige, zum nächstmöglichen Zeitpunkt einen Antrag auf Zurückstellung der Vollstreckung nach § 35 BtMG zu stellen. Diesen Antrag hat die Staatsanwaltschaft Kassel mit Bescheid vom 15. Juni 2009 abgelehnt; eine dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht Fulda - Strafvollstreckungskammer - als Einwendung nach § 458 Abs. 2 StPO mit Beschluss vom 28. August 2009 verworfen. Auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdegegners hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main diesen Beschluss aufgehoben, weil der Rechtsweg nach § 23 EGGVG eröffnet sei, weswegen zunächst die Generalstaatsanwaltschaft über die Vorschaltbeschwerde zu entscheiden habe.
Gegen den daraufhin ergangenen Verwerfungsbescheid der Generalstaatsanwaltschaft hat der Beschwerdegegner das Oberlandesgericht Frankfurt am Main angerufen. Den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 23 EGGVG hat das Oberlandesgericht in dem Sinne ausgelegt, dass "die Strafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Kassel vom 2. Oktober 2006 nach Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge aus wichtigem Grund bis zum Zweidrittel-Zeitpunkt als vollstreckt anzusehen und sodann die Strafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Kassel vom 27. März 2007 und des Amtsgerichts Krefeld vom 8. Januar 2010 anzuschließen" seien, "bis in diesen Sachen jeweils die Zwei-Jahres-Grenze des § 35 Abs. 1 BtMG erreicht" sei. Mit der Begründung, dass die Zurückstellung einer Strafe bereits in dem Zeitpunkt möglich sei, in dem die nicht zurückstellungsfähige Strafe zu zwei Dritteln verbüßt und ihre weitere Vollstreckung unterbrochen sei, hat das Oberlandesgericht die Vollstreckungsbescheide aufgehoben und die Vollstreckungsbehörde verpflichtet, den Beschwerdegegner unter Beachtung seiner Rechtsauffassung erneut zu bescheiden. Zugleich hat es gemäß § 29 EGGVG die Rechtsbeschwerde zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.
Die zulässige Rechtsbeschwerde der Generalstaatsanwaltschaft hat - entsprechend der Stellungnahme des Generalbundesanwalts - in der Sache Erfolg.
Ein wichtiger Grund, der gemäß § 43 Abs. 4 StVollstrO eine Abweichung von der in Absatz 2 und 3 der Vorschrift geregelten Reihenfolge der Vollstreckung gebietet, liegt nicht vor. Durch die vom Beschwerdegegner begehrte und vom Oberlandesgericht befürwortete Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge kann eine frühere Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 Abs. 1, 3 Nr. 2 BtMG nicht erreicht werden. Dieser steht entgegen, dass mit der wegen Diebstahls ergangenen Freiheitsstrafe aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Kassel vom 2. Oktober 2006 eine weitere, nicht zurückstellungsfähige Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist (vgl. § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG). Eine Zurückstellungsentscheidung kommt deshalb erst in Betracht, wenn sämtliche gegen den Beschwerdegegner erkannten Freiheitsstrafen zu zwei Dritteln verbüßt und nach § 454b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 StPO über die Reststrafenaussetzung aller Strafen entschieden worden ist.
1. Nach allgemeiner Meinung darf die Strafvollstreckung nicht gemäß § 35 BtMG zurückgestellt werden, wenn gegen den Verurteilten schon im Zeitpunkt der Zurückstellungsentscheidung eine weitere Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist, mithin der Widerrufsgrund nach § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG gegeben ist (vgl. BGHSt 33, 94, 95 f.; Körner, BtMG 6. Aufl. § 35 Rdn. 116 m.w.N.). Entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main im angefochtenen Beschluss (im Ergebnis ebenso OLG Stuttgart NStZ-RR 2009, 28, 29 f.; Kornprobst in MünchKommStGB Nebenstrafrecht I § 35 BtMG Rdn. 130) stellt dabei die nach § 454b Abs. 2 StPO in ihrer Vollstreckung unterbrochene, nicht gemäß § 35 BtMG zurückstellungsfähige Strafe eine im Sinne des § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG zu vollstreckende Strafe dar, die die Zurückstellung der weiteren Strafen gemäß § 35 BtMG hindert (in diesem Sinne auch OLG München NStZ 2000, 223; KG, Beschluss vom 3. April 2009 - 4 VAs 3/09; Körner aaO § 35 Rdn. 316).
a) Nach der durch das 23. Strafrechtsänderungsgesetz vom 13. April 1986 (BGBl I S. 393) eingeführten Vorschrift des § 454b Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO ist die Vollstreckung mehrerer nacheinander zu vollstreckender zeitiger Freiheitsstrafen grundsätzlich zum Zweidrittelzeitpunkt zu unterbrechen. Die Regelung dient dem Zweck, hinsichtlich der Reste aller Strafen eine einheitliche Entscheidung über die Aussetzung zur Bewährung zu ermöglichen (vgl. Regierungsentwurf in BTDrucks 10/2720 S. 15; Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages in BTDrucks 10/4391 S. 19).
aa) Aufgrund dieser insoweit eindeutigen Entscheidung des Gesetzgebers scheidet zunächst - was im angefochtenen Beschluss auch nicht verkannt wird - die vom Beschwerdegegner vorrangig erstrebte vollständige Vorabvollstreckung der nicht zurückstellungsfähigen Strafe nach Änderung der Vollstreckungsreihenfolge (§ 43 Abs. 4 StVollstrO) zwingend aus.
bb) § 454b Abs. 2 StPO ermöglicht eine Unterbrechung der Vollstreckung zum Zweidrittelzeitpunkt lediglich zum Zweck der Vollstreckung weiterer Freiheitsstrafen. Die Vorschrift schafft hingegen nicht die Grundlage, die Strafvollstreckung zur Ermöglichung einer Therapie nach Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG zu unterbrechen. Hätte der Gesetzgeber die zuletzt genannte Möglichkeit eröffnen wollen, so wäre eine ausdrückliche Regelung erforderlich gewesen. Denn ein Verurteilter, der sich gemäß § 35 BtMG einer Therapie unterzieht, befindet sich nicht mehr im Strafvollzug. Dies verdeutlicht der Wortlaut von § 35 Abs. 1 BtMG. Danach wird die Vollstreckung der Strafe "zurückgestellt", die Strafe mithin gerade nicht vollstreckt. Dementsprechend gehört die Therapiezeit nicht zur Strafvollstreckung im eigentlichen Sinne. Vielmehr ist sie nach § 36 BtMG auf die Strafe anzurechnen.
b) Die Vollstreckungsunterbrechung nach § 454b Abs. 2 StPO belässt die jeweils von ihr betroffene Strafe weiterhin im Stadium der Vollstreckung. Sie ist deshalb eine "zu vollstreckende" im Sinne des § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG.
Die Unterbrechung stellt eine vom Gesetzgeber bei Vorliegen der Voraussetzungen zwingend angeordnete Verfahrensmaßnahme dar, die für - vorweggenommene (vgl. KG aaO) - prognostische Erwägungen keinen Raum lässt. Ihr alleiniger Zweck ist es, nach weiterer Vollstreckung mindestens einer Strafe im weiteren Verlauf die einheitliche Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafen zu ermöglichen (vgl. oben lit. a). Das Vollstreckungsstadium dauert demnach hinsichtlich sämtlicher betroffener Strafen bis zu dieser (einheitlichen) Entscheidung fort. Beendet wird die Vollstreckung erst mit der (positiven) Entscheidung nach § 57 StGB, durch die - unter dem Vorbehalt der Legalbewährung - auf einen Teil der Strafvollstreckung verzichtet wird (vgl. Stree in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl. § 57 Rdn. 2), oder nach vollständiger Vollstreckung der jeweiligen Strafe.
c) Auch der Normzweck des § 35 Abs. 6 BtMG spricht dafür, die Zurückstellung einer Strafe erst nach der Entscheidung über die Reststrafenaussetzung einer nicht zurückstellungsfähigen Strafe zu ermöglichen.
§ 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG will verhindern, dass ein erfolgreich therapierter Verurteilter nach Beendigung der Therapie wieder in den Strafvollzug gelangt, weil dadurch der Behandlungserfolg wieder gefährdet werden könnte (vgl. Kornprobst aaO § 35 BtMG Rdn. 215). Eine solche Gefahr ist in den betroffenen Fällen nicht auszuschließen. Dies folgt in erster Linie daraus, dass für die Prognose im Rahmen der Reststrafenaussetzung nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG gegenüber der allgemeinen Regelung nach § 57 Abs. 1 StGB durch die Sucht des Verurteilten bedingte Besonderheiten gelten; namentlich kann das Vorleben des Verurteilten eine geringere Rolle spielen (vgl. Weber, BtMG 3. Aufl. § 36 Rdn. 58 ff.; Kornprobst aaO § 36 Rdn. 50 ff.; Körner aaO § 36 Rdn. 62 ff.). Es ist deshalb denkbar, dass die Prognose hinsichtlich der Begehung von Straftaten aufgrund der Betäubungsmittelabhängigkeit im Hinblick auf die erfolgreich durchlaufene Therapie positiv ausfällt, wohingegen die Legalbewährung des betroffenen (Vielfach-) Täters aufgrund dessen Neigung, auch unabhängig von seiner Drogensucht Straftaten zu begehen, negativ zu beurteilen ist. Überdies sind in der Regel verschiedene Spruchkörper zuständig (bei der Reststrafenaussetzung nach § 57 StGB gemäß § 462a StPO zumeist die Strafvollstreckungskammer; bei der Reststrafenaussetzung nach § 36 BtMG gemäß § 36 Abs. 5 Satz 1 BtMG das Gericht des ersten Rechtszuges), so dass auch deswegen divergierende Entscheidungen zu besorgen sind. Es besteht mithin das nicht nur theoretische Risiko, dass der erfolgreich Therapierte - was § 35 Abs. 6 BtMG gerade verhindern will - erneut in den Strafvollzug gelangt.
d) Eine analoge Anwendung des § 454b Abs. 2 StPO mit Blick auf die nach der Zurückstellung erfolgende Therapie (so Schöfberger NStZ 2005, 441, 442) scheidet aus. Es ermangelt bereits einer erkennbar planwidrigen Regelungslücke. Aus dem Schweigen des Gesetzgebers kann - bei nachvollziehbaren Ergebnissen - vielmehr auch abgeleitet werden, dass er in Fallgestaltungen wie der hier zu beurteilenden der Einheitlichkeit der Entscheidung über die Reststrafenaussetzung den Vorrang einräumt.
2. Eine weitere Aufklärung entscheidungserheblicher Tatsachen ist nicht erforderlich. Der Senat entscheidet deshalb gemäß § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG in der Sache selbst.
3. Die durch das Oberlandesgericht vorgenommene Festsetzung des Geschäftswerts unterliegt - weil unanfechtbar (§ 30 Abs. 3 Satz 2 KostO) - nicht der Aufhebung. Der Senat weist jedoch darauf hin, dass sich diese in Fällen wie dem hier zu beurteilenden regelmäßig am Mindestwert zu orientieren hat (vgl. Kissel/Mayer, GVG 6. Aufl. § 30 EGGVG Rdn. 7; Schoreit in KK 6. Aufl. § 30 EGGVG Rdn. 7).
HRRS-Nummer: HRRS 2010 Nr. 757
Bearbeiter: Ulf Buermeyer