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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
September 2010
11. Jahrgang
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Von Staatsanwalt Dr. Daniel H. Heinke, Bremen *
Die langjährige Diskussion, ob der "beschuhte Fuß", also der am Fuß getragene Schuh, ein gefährliches Werkzeug darstellt, führte vorübergehend zu einer sehr fein ausdifferenzierten Kasuistik zu festen, schweren Schuhen[1], Springerstiefeln[2], sog. Cowboy-Stiefeln[3], "normalen Straßenschuhen"[4], leichten Sonntagsschuhen mit Kreppsohle[5], Leinenschuhen[6], leichten Turnschuhen[7], Segelschuhen[8] oder "Sportschuhen der heute üblichen stabilen Art"[9]. Ausgehend von der Erwägung, dass die Qualifikation der Tathandlung als gefährliche Körperverletzung nur dann gerechtfertigt erscheint, wenn durch den Einsatz des Werkzeugs - hier des Schuhs - eine Gefährlichkeit gegeben ist, die der menschliche Körper in dieser Art nicht aufweist, hat sich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zwischenzeitlich jedoch insoweit dahingehend gefestigt, dass für die Frage, ob der Schuh am Fuß als ein gefährliches Werkzeug anzusehen ist, auf die Umstände des Einzelfalles abgestellt werden muss, wobei insbesondere auf die Beschaffenheit des Schuhes oder die Heftigkeit und den betroffenen Körperteil des Opfers abzustellen ist.[10] Feste, schwere Schuhe sind daher stets, Straßenschuhe und übliche Turnschuhe jedenfalls dann als gefährliches Werkzeug anzusehen, wenn damit - unabhängig von der Stelle des Schuhs - einem Menschen in das Gesicht oder andere besonders empfindliche Körperbereiche (beispielsweise Genitalien) getreten wird. [11] Diese Linie wird durch die vorliegende Entscheidung erneut bestätigt.
Dabei haben jedoch sowohl das Instanzgericht als auch der BGH die die besondere Gefährlichkeit der konkreten Tathandlung begründende Tatbestandsalternative des § 224 StGB gar nicht thematisiert: Unabhängig von der Frage des getragenen Schuhwerkes müssen die Tritte des Angeklagten nach den mitgeteilten Feststellungen des Landgerichts als das Leben gefährdende Behandlung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB bewertet werden.
Eine gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB ist in objektiver Hinsicht gegeben, wenn sie mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung erfolgt. Maßgeblich ist hiernach, dass die Verletzungshandlung lebensgefährdend ist; auf die Gefährlichkeit eines gegebenenfalls eingetretenen Verletzungserfolgs kommt es insoweit nicht an[12], so dass es für die Vollendung der Tat keines über den verwirklichten Grundtatbestand des § 223 Abs. 1 StGB hinausgehenden Erfolges bedarf.[13]
Streitig ist hingegen, ob zur Tatbestandsverwirklichung eine abstrakte oder eine konkrete Lebensgefahr für das Opfer vorauszusetzen ist. Nach Teilen des Schrifttums folge daraus, dass die Qualifikationsvarianten des § 224 Abs. 1 StGB unmittelbar dem Schutz des Opfers dienten, dass es für die Annahme einer das Leben gefährdenden Behandlung auf eine unmittelbare Lebensgefahr des Opfers ankomme. Dies sei erst bei einer konkreten Gefahr der Fall, wobei es ausreichend sei, dass die Lebensgefahr nur kurze Zeit bestehe.[14]
Der Bundesgerichtshof vertritt jedoch in ständiger Rechtsprechung - in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung in der Literatur[15] - die Auffassung, dass es für die Annahme einer das Leben gefährdenden Behandlung im Sinne der Norm erforderlich, aber auch ausreichend sei, dass die Art der Tathandlung nach den Umständen des Einzelfalles generell dazu geeignet ist, das Leben des Opfers zu gefährden.[16] Konkrete Eignung nach dieser Formel bedeutet mithin weniger als konkrete Gefährdung, jedoch mehr als bloß abstrakte Gefährdung, da die Möglichkeit einer Todesfolge nach den konkreten Umständen des Einzelfalles nicht ausgeschlossen sein darf. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB normiert hiernach "eine abstrakte Gefährdung unter Ausschluss konkreter Ungefährlichkeit" (Hardtung[17]).
Tritte mit dem beschuhten Fuß gegen den Kopf und den Oberkörper des Opfers stellen nach dieser Rechtsprechung eine das Leben gefährdende Behandlung dar, wenn sie nach der Art der Ausführung der Verletzungshandlungen zu lebensgefährlichen Verletzungen führen können.[18] Die Auswertung der zu diesem Deliktphänomen vorliegenden rechtsmedizinischen Untersuchungen zeigt, dass durch Fußtritte gegen den Kopf oder den Oberkörper eines Menschen abhängig vom Angriffspunkt der wirksam werden kinetischen Energie sehr häufig Frakturen der Schädelknochen - insbesondere des Gesichtsschädels -, des Halsskeletts und der Rippenknochen verursacht werden, welche häufig bereits alleine lebensgefährdende Folgen nach sich ziehen. Daneben oder auch isoliert können Fußtritte schwerwiegende Verletzungen innerer Organe bewirken, wobei abhängig von der Lage des Organs im Körper und dem bestehenden Schutz durch das Skelettsystem unterschiedliche Schädigungsmechanismen überwiegen. Hierbei erfolgt zwar häufig eine Polytraumatisierung des Opfers, doch kann bereits ein einzelner Tritt - insbesondere aufgrund innerer Blutungen - eine tödliche Verletzung nach sich ziehen.[19]
Für die Gefährlichkeit der Angriffshandlung ist die Art des gegebenenfalls vom Täter getragenen Schuhwerks dabei nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Zwar vermag besonders stabiles und insbesondere gegen Verformung resistentes Schuhwerk - etwa mit Stahlkappen versehene Arbeitsschuhe - bei sonst gleichen Bedingungen mehr kinetische Energie zu vermitteln, doch können auch Tritte mit so genanntem leichtem Schuhwerk (Turnschuhe, Hausschuhe) oder auch dem unbeschuhten Fuß ohne weiteres tödliche Verletzungen bewirken. Auch Geschlecht, Statur, körperliche Fitness und etwaige sportliche Ausbildung des Täters vermögen zwar die bei einem solchen Angriff eingesetzte Energie zu beeinflussen, stellen aber jeweils keine Bedingung für die Lebensgefährlichkeit derartiger Tritte dar.
Vielmehr ist aus medizinischer Sicht insgesamt zu konstatieren, dass bei mit nicht lediglich unerheblicher Wucht geführten Tritten gegen den Kopf, den Hals oder den Rumpf einer am Boden liegenden Person so massive Kräfte zur Wirkung kommen, dass bei dem Opfer immer mit lebensgefährlichen Verletzungen zu rechnen ist und es mithin häufig lediglich vom Zufall abhängt, ob durch die Tritte im Ergebnis lebensgefährdende Knochen- oder Organverletzungen verursacht werden oder ob das Opfer mit eher oberflächlichen Verletzungen davonkommt. Dies bedeutet zudem auch, dass zwar aus der Verursachung eingetretener Verletzungen auf ein entsprechendes Ausmaß der verübten Gewalt geschlossen werden kann[20], dass aber nicht im Umkehrschluss von dem Nichtvorliegen (erheblicher) Verletzungen auf die konkrete Ungefährlichkeit der Tathandlung geschlossen werden kann.
In subjektiver Hinsicht vertritt der Bundesgerichtshof insoweit in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass neben dem grundlegenden Verletzungsvorsatz die Kenntnis derjenigen Umstände erforderlich und ausreichend sei, aus welchen sich die generelle Eignung der Tathandlung zur Herbeiführung einer Todesgefahr für das Opfer ergebe.[21] Nicht erforderlich ist hiernach, dass der Täter die von ihm zutreffend erkannten Umstände selbst als lebensgefährlich bewertet.[22]
Im Hinblick auf Fußtritte gegen den Kopf und/oder den Oberkörper eines am Boden liegenden Opfers ist eine Sachverhaltskonstellation, in welcher dem Täter die die objektive Lebensgefährlichkeit seiner Handlung begründenden Umstände nicht bewusst sein könnten, schwerlich vorstellbar. Aber selbst wenn man mit Teilen der Literatur die Ansicht verträte, dass dem Täter für eine Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung die Lebensgefährlichkeit seiner Tathandlung bewusst sein müsse, läge angesichts der allgemein verbreiteten Gefährlichkeitseinschätzung derartiger Gewalthandlungen durch die Bevölkerung[23] die Annahme eines entsprechenden Vorsatzes nahe.
Fußtritte gegen Kopf und Oberkörper sind mithin - unabhängig vom getragenen Schuhwerk - ausnahmslos auch unter dem Aspekt einer das Leben gefährdenden Behandlung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB zu betrachten. In der vom Täter eben nicht dosierbaren Verletzungsfolge liegt ihre besondere Gefährlichkeit.
* Der Verfasser war mehrere Jahre Sonderdezernent für Kapitalverbrechen und Todesermittlungen bei der Staatsanwaltschaft Bremen und ist Lehrbeauftragter für Straf- und Strafprozessrecht an der Hochschule für Öffentliche Verwaltung Bremen. Er leitet derzeit das Senatorenbüro beim Senator für Inneres und Sport der Freien Hansestadt Bremen. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Ansicht des Verfassers wieder.
[1] BGH NStZ 1984, 328, 329.
[2] BGH NStZ 2000, 29, 30.
[3] BGH NStZ 1994, 339, 339.
[4] BGH NStZ 1999, 616, 617.
[5] OLG Neustadt JR 1958, 228, 228.
[6] OLG Hamm, Beschl. v. 14.05.2001 - 2 Ss 1141/00.
[7] OLG Düsseldorf NJW 1989, 920, 920.
[8] Hardtung JuS 2008, 960, 963.
[9] BGH NStZ 1999, 616, 617.
[10] BGHSt 30, 375, 377; BGHR StGB § 223a Abs. 1 Werkzeug 1, 3; BGH NStZ 1999, 616, 617; NStZ 2003, 662, 663; BGH HRRS 2007 Nr. 159; BGH HRRS 2008 Nr. 534.
[11] Fischer, StGB, 56. Aufl. (2009), § 224 Rn. 9c; LK-Lilie, StGB, 11. Aufl.. (2002), § 224 Rn. 25; MK-Hardtung, StGB (2003), § 224 Rn. 20; Stree, in: Schönke/Schröder -Stree , StGB, 27. Aufl. (2006) § 224 Rn. 5.
[12] BGH StV 1988, 65, 65.
[13] BGHSt 2, 160, 163; BGHSt 36, 1, 9; BGHSt 36, 262, 265; Fischer, a.a.O. (Fn. 11), § 224 Rn. 12; LK-Lilie, a.a.O. (Fn. 11), § 224 Rn. 36.
[14] Stree, in: Schönke/Schröder , a.a.O. (Fn. 11), § 224 Rn. 12; Stree Jura 1980, 281, 291; einschr. Küper FS für Hirsch (1999), S. 613 . Zur Rechtslage vor dem 6. StrRG vgl. Triantafyllou, Das Delikt der gefährlichen Körperverletzung (§ 223a StGB) als Gefährdungsdelikt, 1996, S. 239.
[15] Fischer, a.a.O. (Fn. 11), § 224 Rn. 12; Gössel/Dölling, Strafrecht Besonderer Teil 1, 2. Aufl. (2204), S. 179; Haft, Strafrecht Besonderer Teil II, 8. Aufl. (2005), S. 149; Hardtung JuS 2008, 960, 965; MK-Hardtung, a.a.O. (Fn. 11), § 224 Rn. 30; Hohmann/Sander, Strafrecht Besonderer Teil II (2000), S. 59; Joecks, Strafgesetzbuch, 6. Aufl. (2005), § 224 Rn. 38; Kindhäuser, Strafgesetzbuch, 3. Aufl. (2006), § 224 Rn. 18; Krey/Heinrich, Strafrecht Besonderer Teil, Band 1, 13. Aufl. (2005), S. 111; Küper, Strafrecht Besonderer Teil, 6. Aufl. (2005), S. 60; LK-Lilie, a.a.O. (Fn. 11), § 224 Rn. 36; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 1, 9. Aufl. (2003), S. 121; Rengier, Strafrecht Besonderer Teil II, 7. Aufl. (2006), S. 101; Stree, in: Schönke/Schröder , a.a.O. (Fn. 11), § 224 Rn. 4; Wessels/Hettinger, Strafrecht Besonderer Teil 1, 30. Aufl. (2006), S. 80 .
[16] BGHSt 2, 160, 163; BGHR StGB § 223a Abs. 1 Lebensgefährdung 1, 7; BGH NStZ-RR 1997, 67, 67; NJW 2002, 3264, 3265; HRRS 2004 Nr. 513; HRRS 2004 Nr. 761; MK-Hardtung, a.a.O. (Fn. 11), § 224 Rn. 30, und LK-Lilie, a.a.O. (Fn. 11), § 224 Rn. 36, weisen darauf hin, dass sich der Gesetzgeber im Vorfeld des 6. StrRG ausdrücklich dieser Auffassung angeschlossen hat (BT-Dr. 13/8587, S. 83).
[17] MK-Hardtung, a.a.O. (Fn. 11), § 224 Rn. 30.
[18] BGHSt 2, 160, 162; BGHSt 19, 352, 352; BGH HRRS 2004 Nr. 513.
[19] Heinke, Tottreten - eine kriminalwissenschaftliche Untersuchung, 2010, S. 70.
[20] MK-Hardtung, a.a.O. (Fn. 11), § 224 Rn. 30.
[21] BGHSt 19, 352, 353; BGHSt 36, 1, 15; BGH NStZ 1986, 166, 166; NJW 1990, 3156, 3156; StV 2001, 572, 572.
[22] LK-Lilie, a.a.O. (Fn. 11), § 224 Rn. 39.
[23] Vgl. hierzu Heinke, a.a.O. (Fn. 19), S. 145; ders. NStZ 2010, 119, 122