HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2010
11. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

774. BGH 5 StR 386/09 – Urteil vom 6. Juli 2010 (LG Berlin)

BGHSt; Präimplantationsdiagnostik; PID; Embryo; Blastozystenbiopsie; pluripotente Trophoblastzellen; Verbotsirrtum; Absicht, eine Schwangerschaft herbeizuführen (Absichtsbegriff, Bedeutung von Zwischenzielen); redaktioneller Hinweis.

Art. 1 GG; § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG; § 2 Abs. 1 ESchG; § 3 ESchG; § 17 StGB

1. Die nach extrakorporaler Befruchtung beabsichtigte Präimplantationsdiagnostik mittels Blastozystenbiopsie und anschließender Untersuchung der entnommenen pluripotenten Trophoblastzellen auf schwere genetische Schäden

hin begründet keine Strafbarkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG. Deren Durchführung ist keine nach § 2 Abs. 1 ESchG strafbare Verwendung menschlicher Embryonen. (BGHSt)

2. § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG verlangt Absicht im Sinne eines auf den Erfolg ausgerichteten dolus directus ersten Grades. Kommt es dem Täter auf den Erfolgseintritt an, so stehen der Annahme der Absicht weitere Beweggründe oder Nebenzwecke nicht entgegen. Gleichfalls ist die Absicht nicht „bedingungsfeindlich“, der Täter kann sein Handeln also vom Eintritt objektiver Bedingungen abhängig machen und gleichwohl absichtlich handeln. (Bearbeiter)

3. Ein Gebot, dass die extrakorporale Befruchtung ausschließlich der Herbeiführung der Schwangerschaft dienen muss, ist § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG nicht zu entnehmen. Die Absicht der Herbeiführung einer Schwangerschaft muss jedoch jedenfalls handlungsleitend bzw. bewusstseinsdominant sein. (Bearbeiter)

4. In Rechtsprechung und Schrifttum ist anerkannt, dass – ungeachtet seines Haupt- bzw. Endziels – vom Täter verfolgte Zwischenziele eine tatbestandsrelevante Absicht ausmachen können, sofern es ihm auf deren Erreichung ankommt (BGHSt 18, 246, 252 f.; 35, 325, 326 f.). Indessen führt nicht jedes Zwischenziel zwingend zur Tatbestandserfüllung. Ob der Absicht eine den Deliktstypus prägende Bedeutung beizumessen ist, muss vielmehr durch Auslegung des jeweiligen Tatbestandes ermittelt werden. (Bearbeiter)


Entscheidung

776. BGH StB 27/09 - Beschluss vom 19. Januar 2010 (OLG München)

Defense Industry Organisation; Iran; geheimdienstliche Agententätigkeit; Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz (Eignung der Tat, die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich zu gefährden); Zweck der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens (Ausfiltern erkennbar aussichtsloser Fälle); Vorabentscheidungsverfahren (Vorlagepflicht); EuGH; Zuständigkeit des Oberlandesgerichts (äußere Sicherheit; auswärtige Beziehungen; besondere Bedeutung).

§ 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 5c Abs. 2 AWV; § 34 Abs. 2 Nr. 3 AWG; Art. 267 AEUV; Art. 5 Abs. 1 Dual-Use-VO; § 203 StPO; § 74 GVG; § 74c GVG; § 120 GVG

1. § 5c AWV ist von der Öffnungsklausel in Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EG) 1334/2000 (Dual-Use-VO) (jetzt Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) 428/2009 (Dual-Use-VO nF)) gedeckt und deshalb zulässiges, durch § 34 Abs. 2 Nr. 3 AWG strafbewehrtes nationales Exportkontrollrecht. (BGHSt)

2. Ein etwaiger Verstoß gegen den Grundsatz des Vorrangs von Gemeinschaftsrecht dadurch, dass Teil I Abschnitt C der nationalen Ausfuhrliste (Anlage AL zur AWV) den Anhang I zu Art. 3 der Verordnung (EG) 1334/2000 (Dual-Use-VO) bzw. der Verordnung (EG) 428/2009 (Dual-Use-VO nF) wiederholt, steht jedenfalls der Anwendbarkeit der Strafnorm des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AWG nicht entgegen. (BGHSt)

3. Im Verfahren über die sofortige Beschwerde gegen die Nichteröffnung des Hauptverfahrens besteht keine Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV (früher: Art. 234 EGV). (BGHSt)

4. Bei der Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal des „Ausübens einer geheimdienstlichen Tätigkeit“ (§ 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB) ist in Fällen der Lieferung von Gegenständen auch maßgeblich, ob die Gegenstände maßgeblich der Gewinnung von Informationen dienen sollten oder ob ein konspiratives Vorgehen und eine Verbindung des Täters zu einem fremden Geheimdienst bereits darin begründet ist, dass die Lieferung aus anderen Gründen als der Informationsvermittlung verboten war und deshalb getarnt werden musste. (Bearbeiter)

5. Der hinreichende Tatverdacht setzt eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Verurteilung voraus. Der Nachweis der Tat, der ggf. erst am Ende der Hauptverhandlung steht, bzw. die für eine Verurteilung notwendige volle richterliche Überzeugung ist für die Eröffnung des Hauptverfahrens hingegen nicht erforderlich. Auch in Fällen, in denen zunächst gewisse Zweifel verbleiben, kommt die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens regelmäßig nicht in Betracht, weil zur Klärung eben dieser Zweifel die überlegenen Erkenntnismittel der Hauptverhandlung heranzuziehen sind. Die Eröffnungsentscheidung soll erkennbar aussichtslose Fälle herausfiltern, ansonsten aber der Hauptverhandlung nicht vorgreifen. (Bearbeiter)


Entscheidung

664. BGH 1 StR 245/09 - Urteil vom 29. Juni 2010 (LG Hamburg)

Versuchter Betrug (Manipulationen der Umsatz- und Ertragszahlen am Neuen Markt; „Fall Falk“); unrichtige Darstellung; Beihilfe zur unrichtigen Darstellung der Verhältnisse einer Kapitalgesellschaft im Jahresabschluss; Verfall (Erlangtes bei versuchtem Betrug; Wert erlangter Aktien; Bruttoprinzip; entgegenstehende Ansprüche des Verletzten); besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung; sittenwidrige Schädigung.

§ 263 Abs. 1, Abs. 2 StGB; § 400 Abs. 1 AktG; § 331 Abs. 1 Nr. 1 HGB; § 27 StGB; § 73 StGB; § 73a StGB; § 73c StGB; § 370 Abs. 3 AO aF; § 826 StGB

1. Aus der Tat erlangt i.S.v. § 73 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StGB sind alle Vermögenswerte, die dem Begünstigten unmittelbar aus der Verwirklichung des Tatbestands in irgendeiner Phase des Tatablaufs zufließen (vgl. BGHSt 52, 227, 246 m.w.N.). Auch bei Betrugstaten ist dabei nicht erforderlich, dass der Täter einen Vermögensvorteil erlangt hat. Zudem stellt auch ein versuchter Betrug eine rechtswidrige Tat i.S.v. § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB, § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB dar, aus der i.S.v. § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB etwas erlangt sein kann. Deshalb kann eine Verfallsanordnung auch an einen lediglich versuchten Betrug anknüpfen, soweit dem Täter oder einem Dritten (§ 73 Abs. 3 StGB) daraus etwas zugeflossen ist.

2. Der Umfang des Erlangten ist zwingend nach Maßgabe des Bruttoprinzips zu bemessen (BGHSt 52, 227, 248). Hiernach sind die Vermögenswerte, die der Täter oder Teilnehmer in irgendeiner Phase des Tatablaufs unmittel-

bar erlangt hat, in ihrer Gesamtheit abzuschöpfen, ohne dass Gegenleistungen oder sonstige Aufwendungen in Abzug gebracht werden (BGHSt 47, 369, 370 f.; 52, 227, 248). Bei der Berechnung des durch einen Kauf Erlangten ist deshalb vom gesamten betrügerisch erlangten Verkaufserlös auszugehen (BGHSt 47, 369, 370 m.w.N.). Anders als in den vom 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschiedenen Fällen (vgl. BGHSt 47, 260, 269 f.; 50, 299, 309 ff.; BGH NStZ-RR 2006, S. 338) sind im vorliegenden Fall die Vermögensbestandteile selbst Gegenstand der mutmaßlichen Tathandlung. Die Erbringung der Leistungen im Rahmen einer Betrugstat ist noch Teil der Tat; erst die täuschungsbedingte Erfüllung des Betruges führt zur Beendigung der Tat.

3. Die vorstehenden Grundsätze gelten auch für die Anordnung des Verfalls gegenüber einem Drittbegünstigten i.S.v. § 73 Abs. 3 StGB. Auch gegenüber diesen Verfallsbeteiligten ist der Umfang des Erlangten nach Maßgabe des Bruttoprinzips zu bemessen, ohne dass Gegenleistungen oder sonstige Aufwendungen in Abzug gebracht werden (BGHSt 47, 369, 374; 52, 227, 247 f.; BGH NStZ-RR 2004, 214, 215).

4. Erlangt der Angeklagte durch die Tat ein Aktienpaket, so ist strafrechtlich hinsichtlich dessen Bewertung eine verabredete Maßgeblichkeit des Kurswerts am Tag der Erlangung zu übernehmen. Dass für den Weiterverkauf der erhaltenen Aktien eine neunmonatige Sperrfrist vereinbart wurde und dass während dieser Zeit die Kurse dieser Aktien gefallen sind, kann lediglich im Rahmen des § 73c StGB Berücksichtigung finden. Im Hinblick darauf kann das neue Tatgericht erwägen, ob das weitere Verfahren hinsichtlich des Erlangten auf erhaltene „Barzahlungen“ beschränkt werden sollte.

5. Der Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB, der der Anordnung des Verfalls nach § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB entgegenstehen kann (vgl. BGH NStZ 2010, 326), knüpft nicht am Begriff des Vermögensschadens des § 263 StGB an, sondern an einem Schadensbegriff, der sich nach anderen Maßstäben bestimmt (vgl. BGHZ 160, 149; BGH NJW 2005, 2450).

6. Dem Verletzten steht es danach frei, sich mit dem Täter zu einigen und auf einen ihm zustehenden Schadensersatz (oder einen Teil hiervon in einem Vergleich) zu verzichten. Ein Verzicht des Verletzten kann allerdings nicht den staatlichen Verfallsanspruch nach § 73 Abs. 1 Satz 1 StGB begrenzen. Der Verletzte kann zwar frei darüber entscheiden, was er vom Täter herausverlangen will, nicht aber darüber, was dieser aus der Tat erlangt hat.


Entscheidung

665. BGH 1 StR 245/09 - Beschluss vom 14. Juli 2010 (LG Hamburg)

Vermögensschaden beim Betrug infolge persönlichen Schadenseinschlages (Aktientausch; Vermögensbewertung im Strafrecht); Gesetzlichkeitsprinzip (Bestimmtheitsgrundsatz; Verschleifungsverbot); redaktioneller Hinweis.

Art. 103 Abs. 2 GG; § 263 StGB; § 1 StGB

1. Ein Vermögensschaden in Form des persönlichen Schadenseinschlags liegt nahe, wenn die Käuferin eines New-Economy-Unternehmens deutlich erkennbar zum Ausdruck brachte, ein Wachstumsunternehmen erwerben zu wollen, um auf dem europäischen Festland Fuß zu fassen und gegenüber dem Finanzmarkt die Wachstumsstrategie des Erwerbers zu belegen, der Angeklagte jedoch die Umsatzzahlen nach oben manipuliert. Weil die Erwerberin somit gerade kein Wachstumsunternehmen erwarb, erlangte sie nicht nur ein „minus“, sondern ein für sie unbrauchbares „aliud“.

2. Das Fehlen weiterer Kaufinteressenten steht der Bestimmung eines Marktpreises nicht entgegen. Vielmehr ist in solchen Fällen der Marktpreis aus den Vereinbarungen der Vertragsparteien abzuleiten. Der Wert einer Leistung bestimmt sich dabei nach den Verhältnissen des jeweiligen Marktes, also nach Angebot und Nachfrage. Ist für die angebotene Leistung lediglich ein einziger Nachfragender vorhanden, führt dies aber jedenfalls in rechtlicher Hinsicht nicht dazu, dass ein Marktpreis oder der Wert der Leistung nicht festgestellt werden könnte. Vielmehr bestimmt sich der wirtschaftliche Wert der Leistung dann nach dem von den Vertragsparteien vereinbarten Preis unter Berücksichtigung der für die Parteien des fraglichen Geschäfts maßgeblichen preisbildenden Faktoren. Nur die Parteien sind dann die Marktteilnehmer; sie bestimmen die preisbildenden Faktoren und die Bewertungsmaßstäbe. Lediglich dann, wenn die vertraglichen Vereinbarungen keine sicheren Anhaltspunkte für die Preisbildung bieten, sind allgemeine anerkannte betriebswirtschaftliche Bewertungsmaßstäbe zur Bestimmung des Wertes eines Unternehmens im Strafverfahren heranzuziehen (vgl. BGH wistra 2003, 457).


Entscheidung

752. BGH 3 StR 90/10 - Urteil vom 24. Juni 2010 (LG Aurich)

Untreue durch einen Stiftungsvorstand (Vermögensbetreungspflicht; Dispositionsbefugnis; Beurteilungsspielraum; Ermessensspielraum; Vermögensnachteil: Grenzen des individuellen Schadenseinschlages).

§ 266 StGB; § 6 NdsStiftungsG

1. Da die Pflichtwidrigkeit des Handelns Tatbestandsmerkmal des Missbrauchstatbestandes der Untreue ist, schließt das Einverständnis des Inhabers des zu betreuenden Vermögens bereits die Tatbestandsmäßigkeit aus. Bei juristischen Personen tritt an die Stelle des Vermögensinhabers dessen oberstes Willensorgan für die Regelung der inneren Angelegenheiten.

2. Eine erklärte Einwilligung ist nur dann unwirksam, wenn sie gesetzwidrig oder erschlichen ist, auf sonstigen Willensmängeln beruht oder – wie bei der Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz einer juristischen Person – ihrerseits pflichtwidrig ist.

3. Leitungspersonen einer Stiftung, die eine Führungs- und Gestaltungsaufgabe mit Beurteilungs- und Ermessensspielraum wahrnehmen, verletzen erst dann ihre Vermögensbetreuungspflicht, wenn sie zum Zeitpunkt der Entscheidung über ein Rechtsgeschäft die Grenzen

überschreiten, in denen sich ein von Verantwortungsbewusstsein getragenes, am Wohl der Stiftung orientiertes und auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen – insbesondere einer zukunftsbezogenen Gesamtabwägung von Chancen und Risiken – beruhendes Handeln bewegen muss.

4. Die Untreue ist ein Vermögensdelikt. § 266 Abs. 1 StGB schützt das zu betreuende Vermögen als Ganzes in seinem Wert, nicht aber die allgemeine Dispositionsfreiheit des Vermögensinhabers. Ob ein Vermögensnachteil eingetreten ist, ist durch einen Vergleich des gesamten Vermögens vor und nach dem beanstandeten Rechtsgeschäft nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu prüfen (vgl. BGHSt 43, 293, 297 f. und 47, 295, 301 f.; BGH NStZ 2001, 248, 251). Beim Kauf tritt ein Vermögensnachteil regelmäßig nur ein, wenn die erworbene Sache weniger wert ist als der gezahlte Kaufpreis. Bei wirtschaftlich ausgeglichenen Kaufverträgen können Gesichtspunkte eines individuellen Schadenseinschlags einen Vermögensnachteil nur in engen Ausnahmefällen begründen, etwa wenn der Vermögensinhaber durch deren Abschluss zu vermögensschädigenden Maßnahmen genötigt wird oder nicht mehr über die Mittel verfügt, die zur ordnungsgemäßen Erfüllung aller seiner Verbindlichkeiten unerlässlich sind, und er hierdurch einen Vermögensnachteil erleidet (vgl. BGHSt 16, 321, 327 f.).


Entscheidung

672. BGH 1 StR 332/10 - Beschluss vom 28. Juli 2010 (LG Saarbrücken)

Strafzumessung beim Versuch der Steuerhinterziehung (in großem Ausmaß Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt; Taterfolg der Steuerhinterziehung: Vermögensverletzung und Vermögensgefährdung).

§ 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, Abs. 4 AO; § 23 Abs. 2 StGB; § 49 Abs. 1 StGB; § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB

1. Die Geltendmachung des unberechtigten Vorsteuerbetrages von mehr als 534.000 Euro zielt auf einen nicht gerechtfertigten Steuervorteil in großem Ausmaß i.S.v. § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO ab. Der Umstand, dass ebenso wie das Grunddelikt des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO auch das Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO nur versucht worden ist, steht dem nicht entgegen (vgl. BGHSt 33, 370). Für den Eintritt der Regelwirkung der Regelbeispiele besonders schwerer Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 3 Satz 2 AO kann es bei der versuchten Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 2 AO) nur darauf ankommen, ob der Täter nach seiner Vorstellung zur Verwirklichung des Regelbeispiels bereits unmittelbar angesetzt hat.

2. Bei der versuchten Steuerhinterziehung ist auch für die Indizwirkung der Regelbeispiele auf die subjektive Tatseite abzustellen. Die Regelbeispiele der besonders schweren Steuerhinterziehung sind im Ergebnis wie ein Tatbestandsmerkmal zu behandeln, weil sie einen gegenüber dem Tatbestand erhöhten Unrechts- und Schuldgehalt typisieren (BGHSt 33, 370, 374).

3. Gegenteiliges ergibt sich nicht aus einem Vergleich mit dem Regelbeispiel des § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Var. 1 StGB, für das der BGH annimmt, dass ein bloßer Betrugsversuch die Voraussetzungen des Regelbeispiels des „Herbeiführens eines Vermögensverlustes großen Ausmaßes“ nicht erfüllen kann (vgl. BGHR § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Vermögensverlust 6; BGH wistra 2007, 183; BGH NStZ-RR 2009, 206, 207), da dies auf dem dort vom Gesetzgeber verwendeten Begriff des Vermögensverlustes beruht.

4. Von der Legaldefinition in § 370 Abs. 4 Satz 1 AO werden auch Vermögensgefährdungen bei verspäteter oder zu niedriger Festsetzung erfasst (vgl. BGHSt 53, 71, 85 Rn. 39).


Entscheidung

679. BGH 1 StR 643/09 - Urteil vom 28. Juli 2010 (LG Stuttgart)

Steuerhinterziehung (Schätzung des Taterfolges: konkrete und pauschale Schätzung; Richtsatzsammlungen); absoluter Revisionsgrund (Abwesenheit des Angeklagten; einschränkende Auslegung).

§ 370 AO; § 230 Abs. 1 StPO; § 338 Nr. 5 StPO; § 261 StPO

1. Die Anwesenheitspflicht soll dem Angeklagten nicht nur das rechtliche Gehör gewährleisten, sondern soll ihm auch „die Möglichkeit allseitiger und uneingeschränkter Verteidigung, insbesondere durch Stellung von Anträgen auf Grund des von ihm selbst wahrgenommenen Verlaufs der Hauptverhandlung, sichern“ (BGHSt 15, 263, 264). Außerdem soll dem Tatrichter im Interesse der Wahrheitsfindung ein unmittelbarer Eindruck von der Person des Angeklagten, seinem Auftreten und seinen Erklärungen vermittelt werden (vgl. BGHSt 26, 84, 90), insbesondere auch im Hinblick auf die Strafzumessung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2007 - 2 BvR 136 u. 1447/05, Rn. 89). Aber nur, wenn der Angeklagte in einem - im Hinblick auf die genannten Aspekte - wesentlichen Teil der Hauptverhandlung abwesend ist, begründet dies die Revision (vgl. BGHSt 26, 84, 91). § 338 StPO ist nicht anwendbar, wenn das Beruhen des Urteils auf dem Mangel denkgesetzlich ausgeschlossen ist (vgl. BGHR StPO § 338, Beruhen 1).

2. Nicht jede Sachverhandlung, auf die es etwa zur Fristwahrung gemäß § 229 Abs. 1 StPO ankommt, wie die Verhandlung über die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten (BGHR StPO § 229 Abs. 1, Sachverhandlung 1), die gerichtliche Entscheidung eines Ordnungsmittel- und Kostenbeschlusses gegen einen Zeugen oder die Entscheidung über etwaige Zwangsmaßnahmen gemäß § 51 StPO, sind wesentliche Verhandlungsteile i.S.v. § 338 Nr. 5 StPO. Die Entgegennahme von Beweisanträgen ist Sachverhandlung in diesem Sinne (vgl. BGHR StPO § 229 Abs. 1, Sachverhandlung 5).

3. Ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung i.S.v. § 338 Nr. 5 StPO liegt im Hinblick auf einen Angeklagten nicht vor, wenn denkgesetzlich ausgeschlossen ist, dass bezüglich des Prozessgeschehens in seiner Abwesenheit sein Anspruch auf rechtliches Gehör sowie seine prozessualen Mitgestaltungsrechte beeinträchtigt worden sind. Der Verhandlungsteil darf auch sonst das Ergebnis der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) nicht bestimmt haben können.

4. Auch im Steuerstrafverfahren ist die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen zulässig, wenn zwar feststeht, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat, das Ausmaß der verwirklichten Besteuerungsgrundlagen aber ungewiss ist. Dies gilt auch und gerade dann, wenn Belege nicht mehr vorhanden sind. Fehlende Buchhaltung befreit nicht von strafrechtlicher Verantwortung. Dies gilt auch dann, wenn keine handelsrechtliche Buchführungspflicht besteht, etwa ab dem Geschäftsjahr 2008 in den Fällen des § 241a HGB, zumal besondere steuerrechtliche Aufzeichnungspflichten (z.B. §§ 141 ff. AO, § 22 UStG i.V.m. §§ 63 ff. UStDV) hiervon unberührt bleiben. Zur Durchführung der Schätzung kommen die auch im Besteuerungsverfahren anerkannten Schätzungsmethoden einschließlich der Heranziehung der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen zur Anwendung (BGHR AO § 370 Abs. 1, Steuerschätzung 3).

5. Der Tatrichter muss dann in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar darlegen, wie er zu den Schätzungsergebnissen gelangt ist (BGH, Beschluss vom 26. April 2001 - 5 StR 448/00; zu den Anforderungen an die Feststellung und die Beweiswürdigung von Besteuerungsgrundlagen in steuerstrafrechtlichen Urteilen vgl. BGH, Urteil vom 12. Mai 2009 - 1 StR 718/08 Rn. 11 ff., BGHR StPO § 267 Abs. 1, Steuerhinterziehung 1; vgl. auch BGH, Beschluss vom 25. März 2010 - 1 StR 52/10). Erweist sich eine konkrete Ermittlung oder Schätzung der tatsächlichen Umsätze danach von vorneherein oder nach entsprechenden Berechnungsversuchen als unmöglich, kann pauschal geschätzt werden, etwa unter Heranziehung der Richtwerte für Rohgewinnaufschlagsätze aus der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen. Eine auch nur annähernd zutreffende konkrete Ermittlung wird in aller Regel schon dann von vorneherein nicht möglich sein, wenn Buchungsbelege völlig fehlen.

6. Bei der Festsetzung des Rohgewinnaufschlagsatzes muss sich das Gericht nicht zugunsten eines Angeklagten an den unteren Werten der in der Richtsatzsammlung genannten Spannen orientieren, wenn sich Anhaltspunkte für eine positivere Ertragslage ergeben, wie z.B. ein guter Standort, sonst nicht erklärbare Vermögenszuwächse oder örtliche Vergleichsdaten.


Entscheidung

663. BGH 1 StR 239/10 - Beschluss vom 13. Juli 2010 (LG Kiel)

Verfall von Wertersatz nach Steuerhinterziehung (Verschiebungsfälle; entgegenstehende Ansprüche des Steuerfiskus).

§ 73 StGB; § 73a StGB; § 370 AO

1. Der Umstand, dass die erlangte Geldsumme aus Steuerhinterziehungen (§ 370 AO) des Angeklagten stammte, steht der Anordnung des Verfalls von Wertersatz gemäß § 73a i.V.m. § 73 Abs. 3 StGB nicht entgegen. Aus der Tat erlangt sind auch die hinterzogenen Steuern.

2. Die Anordnung des Verfalls richtet sich in einem sog. Verschiebungsfall gegen die Person, die bestimmungsgemäß die (hinterzogene) Geldsumme durch eine Kette unentgeltlicher Zuwendungen erlangt. Bei dieser Fallgestaltung lässt der Täter oder Teilnehmer die Tatvorteile einer anderen Person unentgeltlich oder aufgrund eines jedenfalls bemakelten Rechtsgeschäfts zukommen, um sie dem Zugriff des Gläubigers zu entziehen oder um die Tat zu verschleiern (vgl. BGHSt 45, 235, 245f.).


Entscheidung

686. BGH 2 StR 203/10 - Beschluss vom 23. Juni 2010 (LG Frankfurt am Main)

Voraussetzungen des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Mitsichführen).

§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG

Ein Mitsichführen im Sinne des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG liegt dann vor, wenn die Schusswaffe bewusst gebrauchsbereit in der Weise bei sich getragen wird, dass sich der Täter ihrer jederzeit bedienen kann. Am eigenen Körper muss die Waffe nicht getragen werden; es genügt, wenn sie sich in Griffweite befindet. Der Wille des Täters, die Waffe gegebenenfalls einzusetzen, ist nicht erforderlich. Setzt sich die Tat aus mehreren Einzelakten zusammen, reicht es zur Tatbestandserfüllung aus, wenn der qualifizierende Umstand nur bei einem Einzelakt verwirklicht ist (vgl. nur BGHSt 42, 368; 43, 8, 10; BGH NJW 1999, 3206, 3207). Dafür genügt es nicht, wenn das Rauschgift und die Waffe beide in einer Wohnung gelagert werden, sich die Waffe aber in einem verschlossenen Tresor im Abstellraum der Wohnung befindet und binnen eines Zeitraums von 30 Sekunden gebrauchsbereit war. Ein Vorhandensein der in einem Behältnis gelagerten Schusswaffe in einem anderen Raum ist in der Regel nicht genügend (BGH NStZ 2000, 433).


Entscheidung

708. BGH 2 StR 588/09 - Beschluss vom 30. Juni 2010 (LG Gera)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Handlungseinheit; Bewertungseinheit).

§ 29 BtMG

Wird eine zum Weiterverkauf erworbene Rauschgiftmenge in eine andere Menge umgetauscht, weil die gelieferte Qualität nicht den Erwartungen entspricht, so sind die Bemühungen um die Rückgabe der mangelhaften und die Nachlieferung einer mangelfreien Ware auf die Abwicklung ein- und desselben Rauschgiftgeschäfts gerichtet (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ 2005, 232, StV 2007, 83; Senatsbeschlüsse vom 23. September 2009 - 2 StR 325/09, vom 30. September 2009 - 2 StR 323/09 und vom 22. Januar 2010 - 2 StR 563/09).


Entscheidung

722. BGH 4 StR 210/10 - Urteil vom 8. Juli 2010 (LG Bielefeld)

Konkurrenzen beim bewaffneten Handeltreiben; unerlaubte Erwerb von Betäubungsmitteln (Sich-Verschaffen); rechtsfehlerhaft unterbliebene Anordnung der Sicherungsverwahrung (Verhältnis zu § 64 StGB; Hang; Sucht).

§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG; § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG; § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 64 StGB

1. Das in § 30 a Abs. 2 Nr. 2 BtMG genannte Qualifikationsmerkmal prägt, auch wenn es nur bei einem einzelnen auf Umsatz gerichteten Teilakt verwirklicht ist, das gesamte einheitliche Geschehen, so dass eine Tat des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in

nicht geringer Menge vorliegt (vgl. BGHR BtMG § 30 a Abs. 2 Mitsichführen 2). Für eine tateinheitliche Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge ist daneben kein Raum.

2. Soweit der Angeklagte die Betäubungsmittel zum Eigenkonsum erwirbt, erfüllt dies nicht die Alternative des unerlaubten Sichverschaffens, sondern die des unerlaubten Erwerbs im Sinne des § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG. Der Tatbestand des Erwerbs ist dann erfüllt, wenn der Täter die Verfügungsgewalt über das Betäubungsmittel im einverständlichen Zusammenwirken mit dem Vorbesitzer erlangt hat. Nur wenn ein solches Zusammenwirken nicht vorliegt oder nicht nachweisbar ist, liegt der Auffangtatbestand des Sichverschaffens vor (vgl. BGH StV 1993, 570 f.).

3. Nach ständiger Rechtsprechung kommt es auf die Ursache für die fest eingewurzelte Neigung zu Straftaten nicht an. Deshalb scheidet, selbst wenn sich eine Monokausalität der Suchterkrankung eines Täters für dessen Kriminalität ausnahmsweise feststellen ließe, die Annahme eines Hanges im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB neben der eines Hanges im Sinne von § 64 StGB nicht aus. Der für die Anordnung der Sicherungsverwahrung erforderliche Hang hätte seine Ursache in einem solchen Fall ausschließlich in der Suchterkrankung.