HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2010
11. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

756. BGH 3 ARs 23/10 - Beschluss vom 17. August 2010

BGHSt; Kunduz; Untersuchungsausschuss (Beweiserhebung; Gegenüberstellung von Zeugen [Zeugen General a. D. Schneiderhan und Staatssekretär a. D. Dr. Wichert mit Bundesverteidigungsminister Dr. Freiherr zu Guttenberg]; Mehrheitsprinzip; Mitgestaltungsanspruch der Minderheit).

Art. 44 GG; § 24 Abs. 2 PUAG; § 17 Abs. 3 Satz 2 PUAG; § 36 Abs. 1 PUAG; § 9 Abs. 4 PUAG

1. Ob im Rahmen der Beweiserhebung eines Untersuchungsausschusses die Gegenüberstellung von Zeugen durchzuführen ist, entscheidet gemäß § 9 Abs. 4 Satz 1, § 24 Abs. 2 PUAG der Untersuchungsausschuss mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen abschließend. Das Untersuchungsausschussgesetz räumt der qualifizierten Minderheit von einem Viertel der Mitglieder nicht die Befugnis ein, gegen den Willen der Ausschussmehrheit die Gegenüberstellung durchzusetzen oder die Entscheidung der Mehrheit gerichtlich überprüfen zu lassen. (BGHSt)

2. Da in der parlamentarischen Demokratie die Regierung regelmäßig von der Parlamentsmehrheit getragen wird, sind Untersuchungsausschüsse in erster Linie ein politisches Instrument der Opposition, als Minderheit die Regierungsarbeit zu kontrollieren. (Bearbeiter)

3. Das - in der parlamentarischen Demokratie konstitutive - Mehrheitsprinzip gilt grundsätzlich auch in dem vom Parlament eingesetzten Untersuchungsausschuss. Anders verhält es sich nur, wenn das Untersuchungsausschussgesetz aus Gründen des Minderheitenschutzes eine abweichende Regelung trifft. (Bearbeiter)

4. Zwar ist der Mitgestaltungsanspruch der qualifizierten Minderheit dem der Ausschussmehrheit gleichrangig. Es ist jedoch Sache des einfachrechtlichen Gesetzgebers, wie er diesen verfassungsrechtlich in Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG verankerten Anspruch im Einzelnen ausformt und mit dem demokratischen Grundprinzip der Mehrheitsentscheidung zum Ausgleich bringt. (Bearbeiter)

5. Ein allgemeiner Grundsatz, dass der Minderheit im Untersuchungsverfahren umfassend eine maßgebliche Geltungsmacht zuzuerkennen wäre, existiert nicht. Vielmehr bestehen Minderheitenrechte als Ausnahmen von der Regel der Mehrheitsentscheidung auch im Untersuchungsverfahren nur insoweit, als sie sich zwingend aus der Verfassung oder den sie konkretisierenden einfachgesetzlichen Regelungen ergeben. (Bearbeiter)


Entscheidung

775. BGH 5 StR 555/09 – Beschluss vom 7. Juli 2010 (LG Potsdam)

BGHR; gesetzlicher Richter (Zweierbesetzung; Dreierbesetzung; Umfang der Sache: Zahl der Hauptverhandlungstage; im Zweifel für die Dreierbesetzung); Rechtsbeugung (Verletzung von Verfahrensvorschriften); Mittäterschaft (Begriff und Strafzumessung).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 76 Abs. 2 GVG; § 338 Nr. 1 StPO; § 339 StGB; § 25 Abs. 2 StGB; § 46 StGB; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 2 GG; Art. 5 EMRK

1. Zur unerlässlichen Mitwirkung eines dritten Berufsrichters in einem wegen komplexer Rechtsbeugungsvorwürfe umfangreichen und schwierigen Strafverfahren. (BGHR)

2. Der Senat hält es – nicht tragend – für angezeigt, den Rechtsbegriff des Umfangs der Sache (§ 76 Abs. 2 GVG)

dahingehend weiter zu konturieren, dass jedenfalls bei einer im Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptverfahrens absehbaren Verhandlungsdauer von wenigstens zehn Hauptverhandlungstagen von der Mitwirkung eines dritten Berufsrichters grundsätzlich nicht abgesehen werden darf. (Bearbeiter)

3. Im Rahmen der Entscheidung über die Zweier- oder Dreierbesetzung bei Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 76 Abs. 2 Satz 1 GVG) steht der großen Strafkammer kein Ermessen zu. Sie hat die Dreierbesetzung zu beschließen, wenn nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Berufsrichters erforderlich erscheint. (Bearbeiter)

4. Der großen Strafkammer ist bei der Auslegung der gesetzlichen Merkmale des § 76 Abs. 2 GVG ein weiter Beurteilungsspielraum eröffnet, der die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen hat. Maßgebend für die Bewertung des Umfangs der Sache sind etwa die Zahl der Angeklagten, Verteidiger und erforderlichen Dolmetscher, die Anzahl der angeklagten Taten, der Zeugen sowie anderer Beweismittel, namentlich die Notwendigkeit von Sachverständigengutachten, der Umfang der Akten sowie die voraussichtliche Dauer der Hauptverhandlung. (Bearbeiter)

5. Bleibt im Einzelfall zweifelhaft, welche Gerichtsbesetzung für die sachgerechte Verfahrensbehandlung geboten ist, gebührt der Dreierbesetzung der Vorrang, da sie der reduzierten Besetzung strukturell überlegen ist und sich bereits vor der 1993 erfolgten Einführung des § 76 Abs. 2 GVG bewährt hatte. (Bearbeiter)

6. Der Senat merkt – nicht tragend – an, dass die Rechtspraxis den gebotenen sensiblen Umgang der großen Strafkammern mit der Besetzungsreduktion derzeit – soweit ersichtlich – nicht widerspiegele. (Bearbeiter)

7. Rechtsbeugung kann auch durch den Verstoß gegen Verfahrensvorschriften begangen werden kann (vgl. BGHSt 42, 343, 344; 47, 105, 109; BGHR StGB § 339 Rechtsbeugung 6; jeweils m.w.N.). Um nicht in jedem Rechtsverstoß bereits eine „Beugung“ des Rechts zu sehen, enthält das Tatbestandsmerkmal ein normatives Element; erfasst werden sollen davon nur elementare Verstöße gegen die Rechtspflege, bei denen sich der Täter bewusst und in schwerer Weise zugunsten oder zum Nachteil einer Partei von Recht und Gesetz entfernt (vgl. BGHSt 32, 357, 364; 34, 146, 149; 38, 381, 383; 42, 343, 345; 47, 105, 109 ff.; BGHR StGB § 339 Rechtsbeugung 7) und dadurch die konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung begründet, ohne dass allerdings ein Vor- oder Nachteil tatsächlich eingetreten sein muss (BGHSt 42, 343, 346, 351; BGHR StGB § 339 Rechtsbeugung 6). (Bearbeiter)

8. Für die Erfüllung des ungeschriebenen tatbestandlichen Regulativs der konkreten Gefahr einer sachfremden Entscheidung (vgl. BGHSt 32, 357, 364) kann es sprechen, wenn ein Richter eine Entscheidung zum Nachteil einer Partei unter bewusster Begehung eines schwerwiegenden Verfahrensfehlers trifft. Ein derartiger schwerwiegender Verstoß kann in einer willkürlichen Zuständigkeitsbegründung als Missachtung des rechtsstaatlich besonders bedeutsamen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG jedenfalls dann liegen, wenn diese eine Verletzung weiterer wesentlicher grund- oder konventionsrechtlicher Rechtspositionen des Betroffenen (hier: Verhängung von Untersuchungshaft) bewirkt. (Bearbeiter)

9. Als Mittäter handelt, wer seinen eigenen Tatbeitrag so in die gemeinschaftliche Tat einfügt, dass er als Teil der Handlung des anderen Beteiligten und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung des einen Tatanteils erscheint (BGHSt 40, 299, 301). Erforderlich zur gebotenen Abgrenzung zur Teilnahme ist eine wertende tatrichterliche Gesamtschau. Allein die Tatmotivation eines Beteiligten trägt den für die Täterschaft notwendigen Willen zur Tatherrschaft noch nicht. Ob der Umfang einer Beteiligung als notwendige Voraussetzung der Tatbegehung für sich erhebliches Gewicht im Sinne einer objektiven Mitbeherrschung des Geschehens aufweist und daher ein tragfähiges Indiz für die Mittäterschaft darstellt, muss jedenfalls dann eindeutig festgestellt werden, wenn keine weitergehenden Feststellungen namentlich zu einer gemeinsamen Tatplanung unter erheblicher Mitwirkung des Beteiligten getroffen werden. (Bearbeiter)

10. Auch bei Mittätern ist in der Strafzumessung zunächst nach dem jeweils zurechenbaren Erfolgs- und Handlungsunwert zu differenzieren. (Bearbeiter)


Entscheidung

673. BGH 1 StR 345/10 - Beschluss vom 27. Juli 2010 (LG Nürnberg-Fürth)

BGHR; Strafzumessung nach Angabe einer Ober- und Untergrenze der Strafe in Verfahrensabsprachen (Verständigung; Punktstrafe; Sanktionsschere; Rechtsstaatsprinzip: Vertrauensgrundsatz).

§ 257c StPO; § 46 StGB; Art. 20 Abs. 3 GG

1. Gibt das Gericht gemäß § 257c Abs. 3 Satz 2 StPO eine Ober- und Untergrenze der Strafe an, ist es nicht gehindert, die angegebene Obergrenze als Strafe zu verhängen (BGHR).

2. Die Vereinbarung einer bestimmten Strafe („Punktstrafe“; vgl. hierzu BGHSt 51, 84, 86) bleibt nach wie vor unzulässig. Das Gericht kann im Einverständnis mit den Verfahrensbeteiligten nur einen Strafrahmen, nicht aber eine bestimmte Strafe vereinbaren. Hierbei darf der Angeklagte aber nicht mit einer weit geöffneten „Sanktionsschere“ unter Druck gesetzt werden. (Bearbeiter)


Entscheidung

679. BGH 1 StR 643/09 - Urteil vom 28. Juli 2010 (LG Stuttgart)

Steuerhinterziehung (Schätzung des Taterfolges: konkrete und pauschale Schätzung; Richtsatzsammlungen); absoluter Revisionsgrund (Abwesenheit des Angeklagten; einschränkende Auslegung).

§ 370 AO; § 230 Abs. 1 StPO; § 338 Nr. 5 StPO; § 261 StPO

1. Die Anwesenheitspflicht soll dem Angeklagten nicht nur das rechtliche Gehör gewährleisten, sondern soll ihm auch „die Möglichkeit allseitiger und uneingeschränkter Verteidigung, insbesondere durch Stellung von Anträgen auf Grund des von ihm selbst wahrgenommenen Verlaufs der Hauptverhandlung, sichern“ (BGHSt 15, 263, 264). Außerdem soll dem Tatrichter im Interesse der Wahr-

heitsfindung ein unmittelbarer Eindruck von der Person des Angeklagten, seinem Auftreten und seinen Erklärungen vermittelt werden (vgl. BGHSt 26, 84, 90), insbesondere auch im Hinblick auf die Strafzumessung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2007 - 2 BvR 136 u. 1447/05, Rn. 89). Aber nur, wenn der Angeklagte in einem - im Hinblick auf die genannten Aspekte - wesentlichen Teil der Hauptverhandlung abwesend ist, begründet dies die Revision (vgl. BGHSt 26, 84, 91). § 338 StPO ist nicht anwendbar, wenn das Beruhen des Urteils auf dem Mangel denkgesetzlich ausgeschlossen ist (vgl. BGHR StPO § 338, Beruhen 1).

2. Nicht jede Sachverhandlung, auf die es etwa zur Fristwahrung gemäß § 229 Abs. 1 StPO ankommt, wie die Verhandlung über die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten (BGHR StPO § 229 Abs. 1, Sachverhandlung 1), die gerichtliche Entscheidung eines Ordnungsmittel- und Kostenbeschlusses gegen einen Zeugen oder die Entscheidung über etwaige Zwangsmaßnahmen gemäß § 51 StPO, sind wesentliche Verhandlungsteile i.S.v. § 338 Nr. 5 StPO. Die Entgegennahme von Beweisanträgen ist Sachverhandlung in diesem Sinne (vgl. BGHR StPO § 229 Abs. 1, Sachverhandlung 5).

3. Ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung i.S.v. § 338 Nr. 5 StPO liegt im Hinblick auf einen Angeklagten nicht vor, wenn denkgesetzlich ausgeschlossen ist, dass bezüglich des Prozessgeschehens in seiner Abwesenheit sein Anspruch auf rechtliches Gehör sowie seine prozessualen Mitgestaltungsrechte beeinträchtigt worden sind. Der Verhandlungsteil darf auch sonst das Ergebnis der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) nicht bestimmt haben können.

4. Auch im Steuerstrafverfahren ist die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen zulässig, wenn zwar feststeht, dass der Steuerpflichtige einen Besteuerungstatbestand erfüllt hat, das Ausmaß der verwirklichten Besteuerungsgrundlagen aber ungewiss ist. Dies gilt auch und gerade dann, wenn Belege nicht mehr vorhanden sind. Fehlende Buchhaltung befreit nicht von strafrechtlicher Verantwortung. Dies gilt auch dann, wenn keine handelsrechtliche Buchführungspflicht besteht, etwa ab dem Geschäftsjahr 2008 in den Fällen des § 241a HGB, zumal besondere steuerrechtliche Aufzeichnungspflichten (z.B. §§ 141 ff. AO, § 22 UStG i.V.m. §§ 63 ff. UStDV) hiervon unberührt bleiben. Zur Durchführung der Schätzung kommen die auch im Besteuerungsverfahren anerkannten Schätzungsmethoden einschließlich der Heranziehung der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen zur Anwendung (BGHR AO § 370 Abs. 1, Steuerschätzung 3).

5. Der Tatrichter muss dann in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar darlegen, wie er zu den Schätzungsergebnissen gelangt ist (BGH, Beschluss vom 26. April 2001 - 5 StR 448/00; zu den Anforderungen an die Feststellung und die Beweiswürdigung von Besteuerungsgrundlagen in steuerstrafrechtlichen Urteilen vgl. BGH, Urteil vom 12. Mai 2009 - 1 StR 718/08 Rn. 11 ff., BGHR StPO § 267 Abs. 1, Steuerhinterziehung 1; vgl. auch BGH, Beschluss vom 25. März 2010 - 1 StR 52/10). Erweist sich eine konkrete Ermittlung oder Schätzung der tatsächlichen Umsätze danach von vorneherein oder nach entsprechenden Berechnungsversuchen als unmöglich, kann pauschal geschätzt werden, etwa unter Heranziehung der Richtwerte für Rohgewinnaufschlagsätze aus der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen. Eine auch nur annähernd zutreffende konkrete Ermittlung wird in aller Regel schon dann von vorneherein nicht möglich sein, wenn Buchungsbelege völlig fehlen.

6. Bei der Festsetzung des Rohgewinnaufschlagsatzes muss sich das Gericht nicht zugunsten eines Angeklagten an den unteren Werten der in der Richtsatzsammlung genannten Spannen orientieren, wenn sich Anhaltspunkte für eine positivere Ertragslage ergeben, wie z.B. ein guter Standort, sonst nicht erklärbare Vermögenszuwächse oder örtliche Vergleichsdaten.


Entscheidung

683. BGH 2 StR 158/10 - Beschluss vom 14. Juli 2010 (LG Frankfurt am Main)

Fehlende Verlesung der Anklage (negative Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls; unterbliebene Protokollberichtigung; Recht auf ein faires Strafverfahren).

§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 274 StPO; Art. 6 EMRK

1. Die Entscheidung des Großen Senats hat zu einer substantiellen Änderung des Strafverfahrensrechts dahingehend geführt, dass Protokollmängel in erster Linie im Protokollberichtigungsverfahren zu beseitigen sind (BGH, NJW 2010, 2068, 2069). Grundlage einer jeden Protokollberichtigung ist die sichere Erinnerung der Urkundspersonen. Fehlt es hieran, kann das Protokoll nicht mehr berichtigt werden (BGHSt 51, 298, 314, 316). Für das Verfahren gilt, dass vor einer beabsichtigten Protokollberichtigung die Urkundspersonen zunächst den Beschwerdeführer zu hören haben. Widerspricht er der beabsichtigen Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen. Die Gründe der Berichtigungsentscheidung unterliegen der Überprüfung durch das Revisionsgericht im Freibeweisverfahren. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung (BGHSt 51, 298, 315 f.; vgl. BGH, NStZ 2008, 580, 581).

2. Das gilt im Ergebnis auch, wenn das vom Großen Senat vorgegebene Verfahren der Protokollberichtigung nicht eingehalten oder nicht durchgeführt wird. Der Senat sieht in einem solchen Fall keine Veranlassung die Akten zum Zwecke der Einleitung eines Protokollberichtigungsverfahrens zurückzusenden. Neben einer ordnungsgemäßen Protokollberichtigung kommt eine freibeweisliche Aufklärung des tatgerichtlichen Verfahrensablaufs allein unter Berücksichtigung abgegebener dienstlicher Erklärungen und damit unter geringeren Anforderungen als in dem die Verfahrenswahrheit sichernden Protokollberichtigungsverfahren nach erhobener Verfahrensrüge und zum Nachteil des Angeklagten nicht in Betracht (BGHSt 51, 316 f.; vgl. BGH, NStZ 2005, 281, 282; StV 2004, 297; NStZ 2000, 47; BGHR StPO § 274 Beweiskraft 8, 11 und 13 jeweils m.w.N.). Ob hiervon in Fällen krasser Widersprüchlichkeit Ausnahmen zu machen sind (vgl. BGH, NJW 2010, 2068, 2069), kann offen bleiben.


Entscheidung

657. BGH 1 StR 123/10 - Beschluss vom 14. Juli 2010 (LG Koblenz)

Terminierung der Hauptverhandlung und Recht auf effektive Verteidigung durch einen Wahlverteidiger (unzulässige Einschränkung der Verteidigung; Anwalt des Vertrauens: beruflich gebundener Hochschullehrer; Beschleunigungsgrundsatz; Recht auf Verfahrensbeschleunigung).

Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK; § 338 Nr. 8 StPO; § 137 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 213 StPO

1. Der Termin zur Hauptverhandlung wird von dem Vorsitzenden des Gerichts bestimmt (§ 213 StPO). Gleichwohl ist es gerade in Großverfahren regelmäßig angezeigt, mit den Verfahrensbeteiligten (insbesondere mit den Wahlverteidigern des Vertrauens, aber etwa auch mit dem Sachbearbeiter der Staatsanwaltschaft) die Hauptverhandlungstermine abzustimmen, dies jedenfalls zu versuchen (vgl. BGHR StPO § 265 Abs. 4 Verteidigung, angemessene; BGHR StPO § 213 Ermessen 1; BGHR StPO § 213 Terminierung 1). Findet der Versuch einer Terminsabsprache nicht statt, muss sich der Vorsitzende bei substantiierten Verlegungsanträgen eines Verteidigers, der das Vertrauen des Angeklagten genießt, jedenfalls ernsthaft bemühen, dessen nachvollziehbarem Begehren im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten der Strafkammer – und anderer Verfahrensbeteiligter – Rechnung zu tragen. Dies gilt im besonderen Maße, wenn der Verteidiger durch der Justiz zuzurechnende Versehen mehrfach übergangen worden war.

2. Es ist kaum nachvollziehbar ist, warum nicht Beratungen zuweilen mittwochs stattfinden können und am Montag eine Verhandlung. Bei einer Wirtschaftsstrafkammer beginnen wohl kaum in jeder Woche neue Hauptverhandlungen, für die ordentliche Sitzungstage benötigt werden. Ein ordentlicher Sitzungstag kann, wenn dieser Tag zufällig bereits durch einen Fortsetzungstermin belegt ist, verlegt werden oder es kann u.U. auch ein außerordentlicher Sitzungstag (mit Ersatzschöffen) anberaumt werden.

3. Kann ein Wahlverteidiger, der im Hauptberuf Hochschullehrer ist, wegen eines diesem Beruf eingeräumten Vorrangs dem Angeklagten nur einschränkt in der Hauptverhandlung beistehen, müsste sich die Terminierung letztlich nahezu ausschließlich an seinen begrenzten zeitlichen Möglichkeiten orientieren. Dem muss ein Landgericht in einem umfangreichen Verfahren mit einigen Verfahrensbeteiligten nicht entsprechen.


Entscheidung

660. BGH 1 StR 195/10 - Beschluss vom 1. Juli 2010 (LG Stuttgart)

Gegenstandsloses Urteil (Verfahrenshindernis des rechtskräftigen Verfahrensabschlusses durch das Revisionsgericht; Verfahrenseinstellung).

Vor § 1 StPO; § 260 Abs. 3 StPO

1. Das Verfahren hinsichtlich einer Tat ist rechtskräftig abgeschlossen, wenn das Revisionsgericht die hiergegen eingelegten Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten durch Urteil verwirft. Die Sache ist sodann nicht zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, dort also auch nicht mehr rechtshängig.

2. Besteht ein Verfahrenshindernis, so ist das Verfahren zwar grundsätzlich gemäß § 260 Abs. 3 StPO einzustellen. Anders liegt es aber, wenn ein (erstes) Urteil in Rechtskraft erwachsen ist, weil sich dann eine das gesamte Verfahren abschließende Einstellung verbietet. Stattdessen sind lediglich die Auswirkungen der infolge der Rechtskraftwirkung und der fehlenden Befassung des Landgerichts mit der Sache unzulässigen Fortführung des Verfahrens zu beseitigen. Ein dennoch erneut ergangenes Urteil ist für gegenstandslos zu erklären.


Entscheidung

706. BGH 2 StR 455/09 - Urteil vom 30. Juni 2010 (LG Frankfurt am Main)

Erfolgreiche Befangenheitsrüge (Besorgnis der Befangenheit; Abtrennung des Verfahrens gegen Mitangeklagte; Vorbefassung); Schwerer Bandendiebstahls.

§ 338 Nr. 3 StPO; § 244a StGB

1. Besorgnis der Befangenheit ist gegeben, wenn auf der Angeklagte auf der Grundlage der gebotenen objektiven Beurteilung durch die Verfahrensweise des Gerichts den Eindruck gewinnen kann, die abgelehnten Richter stünden ihm bei der Entscheidung über die zu entscheidenden Fragen insbesondere des Schuldumfangs nicht mehr mit der gebotenen Unvoreingenommenheit gegenüber.

2. Eine den Verfahrensgegenstand betreffende Vortätigkeit eines erkennenden Richters ist, soweit sie nicht den Tatbestand eines Ausschlussgrundes gemäß § 23 StPO erfüllt, nach ständiger Rechtsprechung regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit des Richters i.S. von § 24 Abs. 2 StPO zu begründen, wenn nicht besondere Umstände hinzukommen, die diese Besorgnis rechtfertigen (vgl. BGHSt 21, 142; 21, 334, 341; 24, 336, 337; BGH NJW 1996, 1355, 1357; 1997, 1334, 1336). Das betrifft auch die Mitwirkung eines erkennenden Richters in Verfahren gegen andere Beteiligte derselben Tat.

3. Nach diesen Kriterien grundsätzlich unbedenklich ist die Mitwirkung an einem Urteil über dieselbe Tat gegen einen anderen Beteiligten in einem abgetrennten Verfahren (BGHSt 50, 216, 221). Da eine solche Beteiligung an Vorentscheidungen im nämlichen und in anderen damit zusammenhängenden Verfahren von Strafprozessordnung und Gerichtsverfassungsgesetz ausdrücklich vorgesehen und vorausgesetzt wird, kann die Vorbefassung als solche – abgesehen von den in § 22 Nr. 4 und 5, § 23 und § 148a Abs. 2 Satz 1 StPO genannten Ausschließungstatbeständen – die Besorgnis der Befangenheit aus normativen Erwägungen grundsätzlich nicht begründen. Anders verhält es sich lediglich beim Hinzutreten besonderer Umstände, die über die Tatsache bloßer Vorbefassung als solcher und die damit notwendig verbundenen inhaltlichen Äußerungen hinausgehen. Dies wäre etwa der Fall, wenn Äußerungen in früheren Urteilen unnötige und sachlich unbegründete Werturteile über einen der jetzigen Angeklagten enthalten oder wenn ein Richter sich bei seiner Vorentscheidung in sonst unsachlicher Weise zum Nachteil des Angeklagten geäußert hat (BGHSt aaO S. 221 f.).

4. Zu einem Einzelfall vorliegender besonderer Umstände bei einer Verfahrensabsprache mit einem der Mitangeklagten mit anschließender Verfahrensabtrennung.


Entscheidung

658. BGH 1 StR 157/10 - Beschluss vom 29. Juni 2010 (LG Würzburg)

Strafschärfende Berücksichtigung ausgeschiedener Taten und Gesetzesverletzungen (Anforderungen an den erforderlichen Hinweis; Unzulässigkeit von Verfahrensrügen infolge widersprüchlichen Revisionsvorbringens).

§ 46 StGB; § 154a StPO; § 154 StPO; Art. 6 EMRK

1. Ein nach Maßgabe des Einzelfalls erforderlicher (vgl. BGH NStZ 2004, 277, 278 m.w.N.) Hinweis auf die beabsichtigte Verwertung von gemäß §§ 154, 154a StPO ausgeschiedenem Verfahrensstoff bei der Beweiswürdigung oder Strafzumessung ist keine wesentliche Verfahrensförmlichkeit.

2. In tatsächlicher Hinsicht widersprüchliches Vorbringen innerhalb der Revisionsbegründung kann schon im Ansatz nicht Grundlage einer erfolgreichen Verfahrensrüge sein (BGH NStZ 2008, 353; b. Sander/Cirener NStZ-RR 2008, 1).


Entscheidung

667. BGH 1 StR 259/10 - Beschluss vom 1. Juli 2010 (LG Karlsruhe)

Unzulässige Aufklärungsrüge (Darlegungsanforderungen; abgelehnter Beweisermittlungsantrag; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Begründung einer Verfahrensrüge).

§ 244 Abs. 2 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 44 StPO

1. Zu den Zulässigkeitsanforderungen an die Aufklärungsrüge.

2. Ist eine Verfahrensrüge auch dann, wenn sie rechtzeitig angebracht worden wäre, inhaltlich nicht zulässig erhoben, so kann offen bleiben, ob ein für sich genommen ins Leere gehender Wiedereinsetzungsantrag gegen die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist in einen Antrag auf Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist zur Anbringung dieser Verfahrensrüge umgedeutet werden kann und ob die Gründe der Fristversäumung für sich genommen eine Wiedereinsetzung rechtfertigen könnten (in vergleichbarem Sinne BGH StV 2007, 514).


Entscheidung

666. BGH 1 StR 251/10 - Beschluss vom 13. Juli 2010 (LG Kempten)

Kein Beweisverwertungsverbot nach mangelnder Belehrung über das Recht auf konsularischen Beistand (Abwägungslehre; Verzicht und Beruhen).

Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 3 WÜK; Art. 6 EMRK; § 337 StPO

Der Umstand, dass der Angeklagte vor seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung nicht über sein Recht auf konsularischen Beistand nach Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 3 des Wiener Konsularrechtsabkommens (WÜK) belehrt worden ist, führt nicht zu einem Beweisverwertungsverbot. Nicht jeder Verstoß gegen eine Verfahrensvorschrift, die eine Belehrungspflicht vorsieht, zieht ein Beweisverwertungsverbot nach sich. Die Entscheidung für oder gegen ein solches Verbot ist vielmehr aufgrund einer Abwägung der im Rechtsstaatsprinzip angelegten gegenläufigen Gebote und Ziele zu treffen (BGHSt 52, 110, 116).


Entscheidung

724. BGH 4 StR 216/10 - Beschluss vom 22. Juni 2010 (LG Halle)

Verfahrenshindernis des wirksamen Eröffnungsbeschlusses; Verfall und Einziehung bei Betäubungsmittelhandel (genaue Bezeichnung; unzureichende Bezugnahmen); Verfall von Wertersatz.

§ 203 StPO; § 76 Abs. 2 Satz 1 GVG; § 73 StGB; § 74 StGB

1. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens und die Zulassung der Anklage ist in der gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung mit drei Berufsrichtern unter Ausschluss der Schöffen zu entscheiden. Wird dies nicht beachtet, besteht ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis.

2. Bei einer Einziehungsanordnung müssen die einzuziehenden Gegenstände so genau bezeichnet sein, dass bei allen Beteiligten und der Vollstreckungsbehörde Klarheit über den Umfang der Einziehung besteht; die Bezugnahme auf ein Asservatenverzeichnis genügt nicht. Bei der Einziehung von Betäubungsmitteln gehört dazu insbesondere die Angabe von Art und Menge des einzuziehenden Rauschgifts.