HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1453
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 23/24, Urteil v. 12.09.2024, HRRS 2024 Nr. 1453
1. Der Beschluss des Landgerichts Bielefeld vom 28. August 2023, mit dem die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 5. Juni 2023 als unzulässig verworfen worden ist, wird aufgehoben.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorgenannte Urteil im Einziehungsausspruch dahin geändert, dass gegen ihn die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 136.422,65 € angeordnet wird, davon in Höhe von 15.508,45 € als Gesamtschuldner.
Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
3. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorgenannte Urteil mit den zugehörigen Feststellungen im gesamten Maßregelausspruch aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus zwei rechtskräftigen Vorverurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Zudem hat es Einziehungsentscheidungen getroffen. Maßregeln der Besserung und Sicherung hat es nicht angeordnet. Die mit der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten führt zu einer Änderung des Einziehungsausspruchs; im Übrigen ist das Rechtsmittel erfolglos. Die vom Generalbundesanwalt vertretene und ebenfalls auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg und führt zur Aufhebung des zu Ungunsten des Angeklagten allein angefochtenen Maßregelausspruchs.
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Im Auftrag von Hinterleuten in Litauen begab sich der Angeklagte von dort im Juni 2015 in das Bundesgebiet, um gemeinsam mit zwei weiteren Beteiligten ein Juweliergeschäft in H. zu überfallen und hochpreisige Uhren zu erbeuten. Er versprach sich, an der nach Litauen zu verbringenden Tatbeute beteiligt zu werden. Der gemeinsame Tatplan bestand darin, dass der Angeklagte und ein unbekannter Mittäter mithilfe einer Axt, mit der sie die Vitrinen und Schaufenster zerschlagen wollten, die Uhren wegnehmen. Der gesondert Verfolgte B., der wie die anderen Täter eine Baseballkappe tragen und sein Gesicht mit einem Tuch verschleiern sollte, hatte am Eingang des Geschäfts den Tatort zusichern, die Dauer des Überfalls zu überwachen und zur späteren Beutesicherung Reizgas - ggf. auch gegen Personen - einzusetzen. Sie gingen ferner davon aus, dass der „starke körperliche Einsatz beim Benutzen der Axt“ sie derart bedrohlich wirken lassen werde, dass anzutreffende Personen im Verkaufsraum eingeschüchtert und ein Dazwischentreten unterlassen würden.
Am 26. Juni 2015 öffnete die Filialleiterin gegen 9.30 Uhr das Juweliergeschäft. Zuvor hatte sie einem Tresor hochpreisige Uhren entnommen, sie in besonders gesicherten Schaufenstern neben dem Eingang ausgestellt und die Überwachungsanlage aktiviert. Die Filialleiterin und eine Verkäuferin bedienten drei ältere Kunden, als gegen 10.00 Uhr der Angeklagte und seine Mittäter das Geschäft betraten. Im Verkaufsraum zerstörten der voll schuldfähige Angeklagte und sein unbekannter Mittäter mit der aus einem Rucksack hervorgeholten Axt im Wechsel insgesamt drei Vitrinen bzw. Schaufenster und steckten dort jeweils ausgestellte Uhren im Gesamtwert von 15.508,45 € in ihre Rucksäcke. Einer der Täter schrie zwischenzeitlich „Raus!“ in Richtung der Angestellten und Kunden, die sich daraufhin - beeindruckt „durch die Wucht des Überfalls, der aufgewendeten rohen Zerstörungskraft der Täter und aus Sorge um sich“ - in ein Büro im hinteren Bereich der Filiale bzw. in die angrenzende Werkstatt des Juweliergeschäfts begaben. Diese verschloss die Filialleiterin von innen und alarmierte die Polizei. Als die Täter nach etwa 55 Sekunden das Geschäft verließen, in dem sie die Axt zurückließen, versprühte der gesondert Verfolgte B. absprachegemäß mehrfach und in verschiedene Richtungen Reizgas in den Verkaufsraum, um eine Verfolgung zu verhindern und ihre Beute zu sichern.
Die Angestellten des Juweliergeschäfts und die in das Büro geflüchtete Kundin kamen wenig später mit dem Reizgas in Kontakt, was bei ihnen trotz des Versuchs, sich mit Tüchern zu schützen, zu Atembeschwerden und Reizungen der Augen führte. Diese Folgen hatten der Angeklagte und seine Mittäter zumindest billigend in Kauf genommen. Der Sachschaden belief sich auf ca. 1.400 €; zudem mussten die Lüftungsanlage des Juweliergeschäfts von Reizgas gereinigt und der Teppichboden entsorgt werden. Die Filialleiterin war eine Woche arbeitsunfähig krankgeschrieben.
2. Das Landgericht hat die Tat als besonders schweren Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung gewertet. Eine Unterbringung des opioidabhängigen Angeklagten in der Entziehungsanstalt hat das Landgericht mangels Erfolgsaussicht abgelehnt. Seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB hat die Strafkammer bei Bejahung der hangbedingten Gefährlichkeit nach ihrem Ermessen abgelehnt. Hierfür hat das Landgericht maßgeblich darauf abgestellt, dass die Zielvorgabe dieser Maßregel - eine soziale Integration des Angeklagten im Bundesgebiet - nicht zu erreichen sei.
Die Revision des Angeklagten bleibt weitgehend erfolglos.
1. Das Rechtsmittel ist zulässig und unbeschränkt eingelegt.
a) Die Revision des Angeklagten ist entgegen den Ausführungen des Landgerichts im Beschluss vom 28. August 2023 durch den (nach § 32a Abs. 2, 4 Nr. 2, § 32d Satz 2 StPO übermittelten) Schriftsatz des Verteidigers vom 8. Juni 2023 fristgerecht eingelegt worden. Auf den zulässigen Antrag auf gerichtliche Entscheidung, als der die unter dem 2. September 2023 eingelegte „(sofortige) Beschwerde“ zu verstehen ist, unterliegt dieser Beschluss daher der Aufhebung (§ 346 Abs. 2 StPO). Auf das vorsorglich gestellte Wiedereinsetzungsgesuch kommt es somit nicht an.
b) Soweit die Nichtanordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung von der Revision ausdrücklich „nicht angegriffen“ wird, hat dies keine eigenständige rechtliche Bedeutung. Der Angeklagte ist durch die unterbliebene Anordnung der Maßregel nicht beschwert. Da diese - anders als Maßregeln nach §§ 63, 64 StGB - zudem dem Verschlechterungsverbot unterliegt (vgl. § 358 StPO), überprüft das Revisionsgericht ihre Nichtanordnung auf die Revision des Angeklagten ohnehin nicht.
2. Die Nachprüfung des Urteils auf die Sachrüge hat zum Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten ergeben. Der Erörterung bedarf insoweit nur das Folgende:
a) Der Schuldspruch (auch) wegen besonders schweren Raubes hat Bestand.
Nach den Feststellungen erfüllten der Angeklagte und seine Mittäter zunächst (nur) den Tatbestand des schweren Raubes (§ 249 Abs. 1, § 250 Abs. 1 Nr. 1a) StGB), indem sie tatplangemäß Reizgas sowie eine Axt mitführten und unter (konkludenter) Drohung mit Gewalt gegen Personen die Uhren in ihre Rucksäcke verbrachten. Dass die Drohung einen gegen die Geschädigten gerichteten Einsatz der Axt umfasste und damit bereits die Voraussetzungen des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB erfüllt waren, ist den Urteilsgründen nicht eindeutig zu entnehmen. Hierauf hat das Landgericht auch bei der rechtlichen Würdigung nicht abgestellt. Das Qualifikationsmerkmal des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB, welches im Einsatz des versprühten Reizgases als gefährliches Werkzeug (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2017 - 1 StR 664/16) liegt, ist hingegen erst nach der Wegnahme verwirklicht worden. Denn sie war mit dem Einlegen der Uhren in die Rucksäcke der Täter vollendet. Dieser Umstand steht hier jedoch der Annahme eines besonders schweren Raubes nicht entgegen.
Die Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes ist auch noch in der Phase zwischen Vollendung und Beendigung der Raubtat möglich (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Juli 2019 - 5 StR 345/19 Rn. 4 mwN; Beschluss vom 1. Oktober 2013 - 3 StR 299/13 Rn. 7; Beschluss vom 8. Juli 2008 - 3 StR 229/08 Rn. 3; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 250 Rn. 18; s. auch bereits BGH, Urteil vom 6. April 1965 - 1 StR 73/65, BGHSt 20, 194, 197). Danach genügt zur Anwendung von § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB, dass das gefährliche Werkzeug dem Täter zu irgendeinem Zeitpunkt des Tathergangs zur Verfügung gestanden hat. Unter Tathergang ist nicht nur die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale bis zur Vollendung des Raubes zu verstehen, sondern das gesamte Geschehen bis zu dessen tatsächlicher Beendigung. Notwendig ist hierbei allerdings zugleich, dass der Täter das gefährliche Werkzeug zwischen Vollendung und Beendigung des Raubes zur weiteren Verwirklichung seiner Zueignungsabsicht und in diesem Abschnitt der Tat insbesondere zur Beutesicherung eingesetzt hat (vgl. näher hierzu BGH, Urteil vom 25. März 2009 - 5 StR 31/09, BGHSt 53, 234 Rn. 7). Diese Finalität war nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen beim Einsatz des Reizgases gegeben, der sich gegen die Geschädigten der Raubtat richtete und den sich der Angeklagte zurechnen lassen muss (§ 25 Abs. 2 StGB). Zudem war das Delikt der im Flüchten begriffenen Täter noch nicht beendet.
b) Der Strafausspruch weist ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Die Strafkammer hat zutreffend die Einzelstrafen aus den Urteilen des Landgerichts Regensburg vom 17. Dezember 2020 und des Landgerichts Osnabrück vom 15. Juni 2021 nach § 55 StGB einbezogen. Dadurch dass die Strafkammer hierbei den durch das Landgericht Regensburg vorgenommenen Härteausgleich von zwei Jahren und sechs Monaten, dem in Litauen verhängte und vollstreckte Haftstrafen zugrunde lagen (vgl. zu den insoweit geltenden Grundsätzen BGH, Beschluss vom 8. März 2023 - 1 StR 130/22 Rn. 17 ff.), „beachtet“ hat, ist der Angeklagte jedenfalls nicht beschwert. Denn ihre Einbeziehungsfähigkeit unterstellt wäre infolge der (untereinander weitgehend gesamtstrafenfähigen) litauischen Vorverurteilungen nach den mitgeteilten Tatzeiten an sich eine gespaltene Gesamtstrafenbildung veranlasst gewesen, bei der die Strafe aus dem Urteil des Landgerichts Regensburg vom 17. Dezember 2020 in eine eigene (hypothetische) Gesamtstrafe eingegangen wäre (vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 12. Januar 2021 - 1 StR 404/20 Rn. 5).
3. Der Einziehungsausspruch bedarf der Korrektur und Ergänzung.
a) Die Anordnung des Landgerichts, die in dem nach § 55 StGB einbezogenen Urteil des Landgerichts Osnabrück ausgesprochene „Einziehung von Wertersatz“ aufrechtzuerhalten, steht mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Einbeziehung früherer Entscheidungen nicht in Einklang (vgl. BGH, Beschluss vom 17. August 2023 - 4 StR 157/23 Rn. 4; Beschluss vom 1. August 2019 ? 4 StR 477/18 Rn. 17) und ist daher zu korrigieren. Denn die Einbeziehung geschieht bei der Einziehung des Wertes von Taterträgen - trotz des auf die Aufrechterhaltung der früheren Entscheidungen gerichteten Wortlauts des § 55 Abs. 2 StGB - durch das Zusammenzählen der Beträge aus der früheren und der aktuellen Einziehungsentscheidung (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juli 2021 - 3 StR 203/21 Rn. 6; Beschluss vom 1. August 2019 ? 4 StR 477/18 Rn. 17 f.). Damit wird die Einziehungsentscheidung in dem früheren Urteil gegenstandslos im Sinne des § 55 Abs. 2 StGB und bedarf keiner Aufrechterhaltung; die entsprechende Anordnung entfällt (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juli 2021 - 3 StR 203/21 Rn. 6; Beschluss vom 1. August 2019 ? 4 StR 477/18 Rn. 18 f.; Urteil vom 29. Mai 2008 - 3 StR 94/08 Rn. 2).
Der Senat setzt den einheitlich einzuziehenden Betrag analog § 354 Abs. 1 StPO auf 136.422,65 € fest. Darin besteht die Summe aus den Beträgen der rechtskräftigen Einziehungsanordnung des Landgerichts Osnabrück vom 15. Juni 2021 (120.914,20 €) und der verfahrensgegenständlichen Tat (15.508,45 €).
b) Des Weiteren ist der Einziehungsausspruch um die gesamtschuldnerische Haftung des Angeklagten zu ergänzen, soweit es den Wert der aus der hiesigen Tat erlangten Erträge betrifft. Denn neben dem Angeklagten hatten nach den Feststellungen weitere Tatbeteiligte die (Mit-)Verfügungsgewalt über die nach Litauen gelangte Tatbeute (vgl. allgemein BGH, Beschluss vom 21. August 2018 - 2 StR 311/18 Rn. 8 mwN). Einer individuellen Bezeichnung der Gesamtschuldner im Tenor bedarf es nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 7. März 2023 - 3 StR 4/23 Rn. 6 f.).
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat im Anfechtungsumfang Erfolg.
1. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Revision auf die unterbliebene Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung beschränkt. Das Rechtsmittel erfasst darüber hinaus jedoch auch die Entscheidung des Landgerichts, den Angeklagten ebenso wenig in einer Entziehungsanstalt unterzubringen.
a) Die Beschränkung ist allerdings wirksam, soweit der Schuld- und der Strafausspruch sowie die Einziehungsanordnung vom Rechtsmittelangriff ausgenommen sind (vgl. BGH, Urteil vom 7. Dezember 2023 - 5 StR 168/23 Rn. 17; Urteil vom 2. März 2023 - 4 StR 312/22; Urteil vom 30. September 2021 - 5 StR 161/21; Urteil vom 9. September 2021 - 3 StR 327/20; jew. mwN). Denn zwischen Strafe und Maßregelanordnung besteht grundsätzlich keine Wechselwirkung (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Mai 2022 - 4 StR 99/22 mwN). Auch die Strafkammer hat in den Urteilsgründen keinen inneren Zusammenhang zwischen der Strafhöhe und der Nichtanordnung von Sicherungsverwahrung hergestellt.
b) Soweit die Revision die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Entziehungsanstalt unbeanstandet lässt, ist die Beschränkung hingegen unwirksam. Beide Maßregeln sind durch die Regelung des § 72 StGB rechtlich so eng miteinander verknüpft, dass nur eine einheitliche Entscheidung des Revisionsgerichts möglich ist. Denn eine nicht tragfähig begründete Ablehnung der Unterbringung des Angeklagten in der Entziehungsanstalt entzöge mit Blick auf die Vorschrift des § 72 Abs. 1 und 2 StGB selbst einer für sich rechtsfehlerfrei getroffenen Maßregelanordnung nach § 66 StGB die Grundlage (vgl. BGH, Beschluss vom 11. April 2019 - 4 StR 69/19 Rn. 8; Urteil vom 16. Januar 2014 - 4 StR 496/13 Rn. 27; Beschluss vom 20. Dezember 2011 - 3 StR 374/11 Rn. 14). Mit Rücksicht auf diese rechtliche Verbindung und Wechselwirkung der Maßregeln kann auch der von der Staatsanwaltschaft beanstandete Teil des Urteils - die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung - nicht losgelöst von der Frage seiner etwaigen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt selbständig geprüft und beurteilt werden (vgl. auch BGH, Urteil vom 10. April 2013 - 2 StR 1/13 Rn. 6 f.). Dies gilt hier zudem auch deshalb, weil die Strafkammer die Voraussetzungen des § 64 StGB aufgrund des persönlichkeitsbedingten Hangs des Angeklagten, Straftaten zu begehen, verneint hat.
2. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht im Rahmen des ihm nach § 66 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB eingeräumten Ermessens von der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung abgesehen hat, sind nicht tragfähig.
a) Bei der Ausübung seines Ermessens ist das Tatgericht „strikt an die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes“ gebunden (vgl. BGH, Urteil vom 5. Februar 1985 - 1 StR 833/84 Rn. 2 zu § 66 Abs. 2 StGB aF). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll das Tatgericht die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit kann das Tatgericht dem Ausnahmecharakter der Vorschriften des § 66 Abs. 2 StGB und § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB Rechnung tragen, der sich daraus ergibt, dass eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des Täters nicht vorausgesetzt werden (vgl. BGH, Urteil vom 4. August 2011 - 3 StR 175/11). Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind wichtige Kriterien, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sind (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 25. März 2024 - 2 StR 444/23 Rn. 7; Urteil vom 8. Dezember 2022 - 4 StR 75/22 Rn. 25; Urteil vom 16. April 2020 - 4 StR 8/20 Rn. 6 mwN).
b) Eine an diesen Kriterien ausgerichtete Ermessensentscheidung fehlt. Das Landgericht hat die Ausübung des Ermessens nach den genannten Vorschriften vielmehr als allgemeine Billigkeits- und Verhältnismäßigkeitskontrolle missverstanden. In deren Rahmen hat es die Ablehnung der Maßregel damit begründet, dass keine soziale Integration des aus Litauen stammenden Angeklagten im Bundesgebiet erreichbar sei. Diese Erwägung wird der mit der Maßregel verbundenen Zwecksetzung nicht gerecht und ist daher ermessens- und rechtsfehlerhaft.
aa) Zweck der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die eine besonders belastende Maßregel mit Ultima-ratio-Charakter darstellt (vgl. BGH, Urteil vom 24. Oktober 2013 - 4 StR 124/13, BGHSt 59, 56 Rn. 23), ist der Schutz vor einem Täter, der aufgrund seines Hanges zu schwerwiegenden Straftaten für die Allgemeinheit gefährlich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Mai 2022 - 4 StR 99/22 Rn. 5; s. bereits BVerfGE 128, 326, 374; BVerfGE 109, 133, 174). Dies soll zwar möglichst nicht durch bloßen (präventiven) Freiheitsentzug, sondern mithilfe einer Behandlung im Vollzug zum Zwecke der Resozialisation (vgl. § 66c StGB) erfolgen (vgl. hierzu Peglau in LK-StGB, 13. Aufl., § 66 Rn. 3). Die Anordnung der Maßregel ist aber mit Blick auf ihren grundlegenden Sicherungszweck nicht davon abhängig, dass die Gefährlichkeit des Täters voraussichtlich zu minimieren sein wird.
bb) Anders als die Strafkammer meint, gelten insoweit auch bei einem ausreisewilligen Täter ohne deutsche Staatsangehörigkeit und mit Lebensmittelpunkt im EU-Ausland keine Besonderheiten. Der Ausreisewille (oder Wille zur Wiedereinreise) steht im Belieben des Angeklagten und kann daher kein maßgebliches Kriterium für die Anordnung der Maßregel sein. Die von der Strafkammer angestellte Erwägung, es sei nicht die Aufgabe des Maßregelvollzugs, ausländische Betroffene für ihr künftiges Leben in ihrem Heimatland zu resozialisieren, greift zudem zu kurz. Eine dahingehende Einschränkung widerspricht §§ 66, 66a StGB ihrem Wortlaut und dargelegten Zweck nach. Diese Maßregeln der Besserung und Sicherung (§ 62 StGB) sind vielmehr ohne Rücksicht auf den (bisherigen) Lebensmittelpunkt des Täters unter ihren jeweiligen Voraussetzungen zu verhängen bzw. können verhängt werden, wenn die deutsche Strafgewalt gegeben ist. Denn deren Vorliegen zeigt die Berührung (auch) inländischer Interessen. Die deutsche Strafgewalt ist im vorliegenden Fall bereits nach dem Territorialitätsprinzip zu bejahen; das Landgericht hatte über eine Inlandstat zu befinden (§§ 3, 9 Abs. 1 StGB). Deshalb besteht eine hinreichende Legitimation in Form des Schutzinteresses der Bundesrepublik und ihrer Bevölkerung, um dem Täter ggf. das mit einer Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verbundene Sonderopfer zum Schutz der Allgemeinheit aufzuerlegen.
Diese Rechtslage drückt sich in weiteren Vorschriften aus. So ist etwa nach § 85 Abs. 1 und 2, § 85c IRG i.V.m. dem „Rahmenbeschluss Freiheitsstrafen“ (Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union) auch eine Vollstreckung freiheitsentziehender Sanktionen wie Maßregeln der Besserung und Sicherung im EU-Ausland möglich. Zudem sieht § 456a Abs. 1 StPO vor, dass die Staatsanwaltschaft nach ihrem Ermessen (auch) von der Vollstreckung einer solchen Maßregel absehen kann, wenn der Verurteilte abgeschoben wird (vgl. näher zu den maßgeblichen Kriterien bei angeordneter Sicherungsverwahrung etwa OLG Hamm, Beschluss vom 23. September 2020 - III-1 VAs 54/20). Diese dem Vollstreckungsverfahren zugehörigen Vorschriften belegen ebenfalls, dass einer Anordnung der Sicherungsverwahrung im Erkenntnisverfahren nicht schon maßgeblich entgegensteht, dass voraussichtlich keine soziale Integration des Betroffenen im Inland erzielt werden wird.
3. Das Urteil ist daher aufzuheben, soweit das Landgericht die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung abgelehnt hat. Um eine einheitliche Entscheidung im zweiten Rechtsgang aufgrund eines widerspruchsfreien Sachverhalts sicherzustellen, ist zudem die Aufhebung der zugehörigen Feststellungen geboten (vgl. BGH, Urteil vom 4. April 2019 - 3 StR 31/19 Rn. 20). Schon deshalb kann auch die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt keinen Bestand haben, denn die Strafkammer hat die Erfolgsaussicht nach § 64 Satz 2 StGB mit dessen Hang, Straftaten zu begehen, verneint.
Das neue Tatgericht wird unter Berücksichtigung dessen, dass der Angeklagte insbesondere wegen Diebstahls vorbestraft und bereits seit längerer Zeit inhaftiert ist, eingehender als bisher geschehen darzulegen haben, ob die materiellen Voraussetzungen des § 66 StGB - oder zumindest des § 66a StGB - vorliegen (vgl. dazu BGH, Urteil vom 8. Dezember 2022 - 4 StR 75/22 Rn. 12 ff. mwN). Die Voraussetzungen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wird das neue Tatgericht nunmehr an § 64 StGB in der am 1. Oktober 2023 in Kraft getretenen (strengeren) Fassung (BGBl. 2023 I Nr. 203) zu messen haben (vgl. nur BGH, Beschluss vom 9. April 2024 - 4 StR 410/23 Rn. 6; s. zudem zur etwaigen „Verbindung von Maßregeln“ nach § 72 StGB BGH, Urteil vom 10. April 2013 - 2 StR 1/13 Rn. 6 mwN).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1453
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede