HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 487
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 130/22, Beschluss v. 08.03.2023, HRRS 2023 Nr. 487
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Freiburg im Breisgau vom 21. Februar 2022 wird als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklageberechtigten im Revisionsverfahren für den Verletztenbeistand entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
1. Das Landgericht hat - soweit für das Revisionsverfahren von Relevanz - folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) Am 10. Oktober 2003 gegen 00:30 Uhr brachte der Angeklagte auf dem Gelände der Universität F. die 20-jährige Studentin W. unter Vorhalt eines Messers in seine Gewalt und verbrachte sie mit einem Fahrzeug in ein abgelegenes Waldstück. Dort übte er mit ihr in dem Fahrzeug gegen ihren Willen mehrere Stunden lang den analen und vaginalen Geschlechtsverkehr aus. Gegen 4:45 Uhr gelang der Geschädigten die Flucht.
b) Der Angeklagte ist französischer Staatsangehöriger; er ist in der Bundesrepublik Deutschland nicht vorbestraft. Sein französisches Strafregister umfasst 25 Einträge. Die fünf nachfolgend aufgeführten Verurteilungen datieren nach der verfahrensgegenständlichen Tat vom 10. Oktober 2003. Sie betreffen Taten, die der Angeklagte im Zeitraum von August 2002 bis September 2003 in Frankreich begangen hatte.
Am 30. September 2004 wurde der Angeklagte durch das Großinstanzgericht Gueret zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
Der Cour d’Assises du Loir-et-Cher in Blois verhängte gegen den Angeklagten mit Urteil vom 29. Februar 2008 eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren. In dieser Strafe gingen die weiteren Verurteilungen des Angeklagten vom 16. Mai 2008 durch den Cour d’Assises de la Loire-Atlantique in Nantes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und vom 23. April 2012 durch das Appellationsgericht in Grenoble zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf.
Zuletzt verurteilte der Cour d’Assises du Maine-et-Loir in Angers den Angeklagten am 24. Januar 2013 zu einer weiteren Freiheitsstrafe von sieben Jahren.
c) Am 20. Oktober 2003 wurde der Angeklagte in den Niederlanden auf der Grundlage eines französischen Haftbefehls festgenommen und nach knapp sieben Monaten Auslieferungshaft am 17. Mai 2004 nach Frankreich überstellt. Dort war er ununterbrochen bis zum 23. Juli 2021 inhaftiert; von den vorgenannten Freiheitsstrafen wurden 17 Jahre und neun Monate vollstreckt. Im Anschluss wurde der Angeklagte den deutschen Behörden überstellt.
2. Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht das Verhalten des Angeklagten als besonders schwere Vergewaltigung gewertet. Der Erörterung bedarf lediglich der Strafausspruch, bei dem das Landgericht einen bezifferten Härteausgleich von einem Jahr für den aus der fehlenden Gesamtstrafenbildung mit den Strafen aus den französischen Verurteilungen (vorstehend 1.b)) resultierenden Nachteil ausgewiesen und eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren festgesetzt hat.
a) Das Landgericht ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass es wegen der verfahrensgegenständlichen Vergewaltigung eine weitere zu vollstreckende Freiheitsstrafe verhängen konnte.
Nach Artikel 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI stellt jeder Mitgliedstaat sicher, dass nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts in einem Strafverfahren gegen eine Person frühere, in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen derselben Person wegen einer anderen Tat, zu denen im Rahmen geltender Rechtsinstrumente über die Rechtshilfe oder den Austausch von Informationen aus Strafregistern Auskünfte eingeholt wurden, in dem Maße berücksichtigt werden wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen und dass sie mit gleichwertigen Rechtswirkungen versehen werden wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen. Gemäß Artikel 3 Abs. 5 Satz 1 soll dem jedoch nicht die Wirkung zukommen, dass die Mitgliedstaaten ihre innerstaatlichen Vorschriften über die Verhängung von Strafen anwenden müssen, wenn die Anwendung dieser Vorschriften auf im Ausland ergangene Verurteilungen das Gericht darin einschränken würde, in einem neuen Verfahren eine Strafe zu verhängen.
Wären die dem angefochtenen Urteil vorausgegangenen Verurteilungen des Angeklagten in Frankreich durch deutsche Gerichte ergangen, wären die Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB an sich gegeben gewesen. Bei der Bemessung der hiernach zu bildenden Gesamtfreiheitsstrafe wäre das nach § 54 Abs. 2 Satz 2 StGB zulässige Höchstmaß von 15 Jahren bei zeitigen Freiheitsstrafen, das bereits mit der Verurteilung vom 29. Februar 2008 durch den Cour d´Assises du Loir-et-Cher zu 15 Jahren Freiheitsstrafe erreicht war, zu berücksichtigen gewesen.
Im Hinblick darauf hat der Senat dem Gerichtshof der Europäischen Union mit Beschluss vom 29. Juni 2022 (1 StR 130/22) gemäß Artikel 267 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
„Kann angesichts des Gleichbehandlungsgebots aus Artikel 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI und vor dem Hintergrund des Artikels 3 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI bei einer an sich bestehenden Gesamtstrafenlage zwischen deutschen und EU-ausländischen Verurteilungen für die inländische Straftat auch dann eine Strafe verhängt werden, wenn eine fiktive Einbeziehung der EU-ausländischen Strafe dazu führen würde, dass das nach deutschem Recht zulässige Höchstmaß für eine Gesamtstrafe bei zeitigen Freiheitsstrafen überschritten würde?“
Mit Urteil vom 12. Januar 2023 (Rechtssache C-583/22 PPU) hat der Gerichtshof auf das Vorabentscheidungsersuchen hin für Recht erkannt:
„Art. 3 Abs. 1 und 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat nicht sicherstellen muss, dass in einem Strafverfahren gegen eine Person deren frühere Verurteilungen in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer anderen Tat mit gleichwertigen Wirkungen versehen werden wie denen, die im Inland ergangene frühere Verurteilungen nach den Vorschriften des betreffenden nationalen Rechts über die Gesamtstrafenbildung haben, wenn zum einen die Straftat, die Gegenstand des neuen Verfahrens ist, begangen wurde, bevor die früheren Verurteilungen erfolgten, und zum anderen eine im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts erfolgende Berücksichtigung der früheren Verurteilungen das mit dem genannten Verfahren befasste nationale Gericht daran hindern würde, gegen die betreffende Person eine vollstreckbare Strafe zu verhängen.“
Demzufolge hat das Landgericht im Einklang mit dem Unionsrecht eine weitere zu vollstreckende Freiheitsstrafe gegen den Angeklagten verhängt.
b) Auch die Strafzumessung ist ohne Rechtsfehler.
aa) Nach Artikel 3 Abs. 5 Satz 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass ihre Gerichte frühere in anderen Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen in den Fällen des Artikels 3 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses auf andere Weise berücksichtigen können. Der deutsche Gesetzgeber hat bei der Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses in deutsches Recht im Hinblick auf Artikel 3 angesichts des von der Rechtsprechung in Deutschland auch bei ausländischen Vorverurteilungen ohnehin im Rahmen der Strafzumessung praktizierten Härteausgleichs keinen gesetzlichen Änderungsbedarf gesehen (vgl. BT-Drucks. 16/13673 S. 5).
Vor diesem Hintergrund hat der Senat dem Europäischen Gerichtshof folgende weitere Frage (BGH, aaO) zur Vorabentscheidung vorgelegt:
„Ist die nach Artikel 3 Abs. 5 Satz 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI vorgesehene Berücksichtigung der EU-ausländischen Strafe in der Weise vorzunehmen, dass der aus der fehlenden Möglichkeit der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe resultierende Nachteil - entsprechend den Grundsätzen der Gesamtstrafenbildung nach deutschem Recht - bei der Bemessung der Strafe für die inländische Straftat konkret auszuweisen und zu begründen ist?“
Der Europäische Gerichtshof hat daraufhin am 12. Januar 2023 (aaO) entschieden, dass Artikel 3 Abs. 5 Unterabs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI dahin auszulegen ist, dass die Berücksichtigung früherer in einem anderen Mitgliedstaat ergangener Verurteilungen im Sinne dieser Bestimmung vom nationalen Gericht nicht verlangt, den aus der fehlenden Möglichkeit der - für frühere inländische Verurteilungen vorgesehenen - nachträglichen Gesamtstrafenbildung resultierenden Nachteil konkret darzulegen und zu begründen.
bb) Den aus der fehlenden Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung resultierenden Nachteil hat das Landgericht entsprechend der Rechtsprechung des Senats (vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. April 2020 - 1 StR 15/20, BGHSt 65, 5, 11 f., Rn. 23 f., vom 12. November 2020 - 1 StR 379/20 Rn. 6 und vom 12. Januar 2021 - 1 StR 404/20 Rn. 4) mit einem Jahr konkret beziffert und bei der Festsetzung der verfahrensgegenständlichen Strafe in Abzug gebracht. Auch der Umfang des Ausgleichs, dessen Bestimmung Sache des Tatgerichts ist und der als Teil der Strafzumessung nur eingeschränkter revisionsrechtlicher Überprüfung unterliegt, begegnet keinen Bedenken.
Entscheidend für den Umfang des Ausgleichs ist der durch die Unmöglichkeit der nachträglichen Gesamtstrafenbildung tatsächlich eintretende Nachteil.
Eine vollständige Anrechnung der ausländischen Strafe ist nicht erforderlich (BGH, Beschluss vom 23. April 2020 - 1 StR 15/20, BGHSt 65, 5, 12 f. Rn. 26 mwN). Das Landgericht hat bei der Bezifferung des Ausgleichs die auch bei einer Gesamtstrafenbildung aus inländischen Strafen maßgeblichen Strafzumessungskriterien (vgl. BGH aaO Rn. 26) beachtet. Hierbei hat es einerseits den Vollstreckungsstand der französischen Vorverurteilungen sowie den engen zeitlichen Zusammenhang der Taten und andererseits die durch die Taten des Angeklagten betroffenen unterschiedlichen Rechtsgüter gewürdigt und gewichtet. Hiergegen ist nichts zu erinnern.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 487
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede