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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 829

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 444/23, Beschluss v. 25.03.2024, HRRS 2024 Nr. 829


BGH 2 StR 444/23 - Beschluss vom 25. März 2024 (LG Aachen)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Ermessen: gegen eine Anordnung der Maßregel sprechende Umstände).

§ 66 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 10. Mai 2023 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten - unter Freispruch im Übrigen - „wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 16 Fällen, jeweils tateinheitlich mit Herstellung kinderpornographischer Schriften, davon in einem Fall in zwei tateinheitlich begangenen Fällen, und zudem in 5 Fällen in weiterer Tateinheit mit sexuellem Übergriff, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 9 Fällen, jeweils tateinheitlich mit Herstellung kinderpornographischer Inhalte und zudem in 8 Fällen in weiterer Tateinheit mit sexuellem Übergriff, wegen Herstellung kinderpornographischer Schriften in 6 Fällen, wegen Herstellung kinderpornographischer Inhalte in einem Fall sowie wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs und von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen in 2 Fällen, davon in einem Fall in zwei tateinheitlich begangenen Fällen“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt, seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet und eine Einziehungsentscheidung getroffen.

Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen ist das Rechtsmittel offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Die Überprüfung des Schuld- und Strafausspruchs sowie der Einziehungsentscheidung im angefochtenen Urteil hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

2. Hingegen hat die Anordnung der Maßregel keinen Bestand.

a) Zwar ist die Strafkammer rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass aufgrund ihrer Verurteilung die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 und § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB vorliegen. Auch die Feststellung eines Hangs des Angeklagten zu erheblichen Straftaten und zu dessen Gefährlichkeit sind nicht zu beanstanden.

b) Jedoch genügt die von der Strafkammer vorgenommene Ermessensausübung nicht den gesetzlichen Anforderungen.

aa) Liegen die formellen Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 66 Abs. 2 oder § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB vor, so steht, ebenso wie bei einer Anordnung nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 12. April 2017 - 2 StR 466/16, juris Rn. 4), die Entscheidung über den Maßregelausspruch im Ermessen des Tatgerichts (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 2022 - 4 StR 75/22, NStZ-RR 2023, 42, 45 mwN). Dieses muss erkennbar auch diejenigen Umstände erwägen, die gegen eine Anordnung der Maßregel sprechen können. Dies gilt vor allem im Hinblick auf den gesetzgeberischen Zweck der Vorschrift, dem Tatgericht die Möglichkeit zu geben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt (vgl. BGH, Urteil vom 4. August 2011 - 3 StR 175/11, juris Rn. 23). Die Wirkung eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind wichtige Kriterien, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen sind (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 2022 - 4 StR 75/22, aaO mwN).

bb) Diesen Anforderungen genügen die Urteilsgründe nicht. Sie lassen Ausführungen zum fortgeschrittenen Lebensalter des Angeklagten, worauf der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend hinweist, in Gänze vermissen. Diese sind auch nicht entbehrlich. Der Angeklagte war im Zeitpunkt seiner Verhaftung 72 Jahre alt. Die Strafkammer hat ihn nunmehr zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt, so dass er bei seiner regulären Entlassung 81 Jahre alt sein wird. Wenngleich der zurückliegende Strafvollzug in den Niederlanden ihn nicht davon abgehalten hat, alsbald gleichgelagerte Straftaten zu begehen, bedarf dieser Umstand der näheren Erörterung (vgl. zum hohen Lebensalter eines Angeklagten auch BGH, Urteil vom 22. Oktober 2013 - 1 StR 210/13, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 10).

3. Die Sache bedarf im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt die Feststellungen zur Maßregelanordnung mit auf, um dem neuen Tatgericht eine umfassend neue Prüfung zu ermöglichen.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass entgegen der Ansicht der Strafkammer die bisherigen Feststellungen eine Prüfung der formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB nicht ermöglichen. Die Darstellung der Vorverurteilung des Gerichtshof ’s Hertogenbosch (Niederlande) vom 26. Mai 2011 wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen, sexueller Nötigung in zwei Fällen, mehrfachen Besitzes kinderpornographischer Schriften und Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen zu einer „Freiheitsstrafe von sechs Jahren“ beinhaltet keine Ausführungen zur damaligen Strafzumessung. Dies war hier aber erforderlich. Der Senat kann den mitgeteilten Urteilsfeststellungen zu der Vorverurteilung, übertragen auf die deutsche Rechtslage (§ 66 Abs. 4 Satz 5 StGB), zwar hinreichend deutlich entnehmen, dass 29 der 45 Einzeltaten sexuelle Missbrauchshandlungen zum Nachteil von Kindern im Alter von unter 14 Jahren und damit zweifelsfrei Katalogtaten nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB betrafen. Mangels Mitteilung der damaligen Strafzumessungserwägung ist ihm jedoch die weitere Prüfung (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Juni 2022 - 3 StR 179/22, juris Rn. 9) verschlossen, ob das niederländische Gericht bei einer allein auf diese 29 Einzeltaten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gestützten Verurteilung eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren zugemessen hätte (vgl. auch BGH, Urteil vom 13. November 2002 - 2 StR 261/02, BGHSt 48, 100, 103).

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 829

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede