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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
März 2009
10. Jahrgang
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1. Wird ein Tatverdächtiger zunächst zu Unrecht als Zeuge vernommen, so ist er wegen des Belehrungs-
verstoßes (§ 136 Abs. 1 Satz 2 StPO) bei Beginn der nachfolgenden Vernehmung als Beschuldigter auf die Nichtverwertbarkeit der früheren Angaben hinzuweisen („qualifizierte“ Belehrung). (BGHSt)
2. Unterbleibt die „qualifizierte“ Belehrung, sind trotz rechtzeitigen Widerspruchs die nach der Belehrung als Beschuldigter gemachten Angaben nach Maßgabe einer Abwägung im Einzelfall verwertbar. (BGHSt)
3. Neben dem in die Abwägung einzubeziehenden Gewicht des Verfahrensverstoßes und des Sachaufklärungsinteresses ist maßgeblich darauf abzustellen, ob der Betreffende nach erfolgter Beschuldigtenbelehrung davon ausgegangen ist, von seinen früheren Angaben nicht mehr abrücken zu können (im Anschluss an BGH, Urteil vom 3. Juli 2007 – 1 StR 3/07 = StV 2007, 450, 452). (BGHSt)
4. Nicht jeder Tatverdacht begründet bereits die Beschuldigteneigenschaft mit der Folge einer entsprechenden Belehrungspflicht; vielmehr kommt es auf die Stärke des Tatverdachts an. Es obliegt der Strafverfolgungsbehörde, nach pflichtgemäßer Beurteilung darüber zu befinden, ob ein Tatverdacht sich bereits so verdichtet hat, dass die vernommene Person ernstlich als Täter oder Beteiligter der untersuchten Straftat in Betracht kommt (st. Rspr.; BGHSt 37, 48, 51 f.; 51, 367, 371). Falls der Tatverdacht aber so stark ist, dass die Strafverfolgungsbehörde anderenfalls willkürlich die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums überschreiten würde, ist es verfahrensfehlerhaft, wenn der Betreffende dennoch als Zeuge und nicht als Beschuldigter vernommen wird (vgl. BGHSt aaO). (Bearbeiter)
5. Das Recht zu schweigen und das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen („nemo tenetur“-Grundsatz), gehören zum „Kernstück des von Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten fairen Verfahrens“ (EGMR NJW 2002, 499, 501; JR 2005, 423 m. Anm. Gaede; weiter BGHSt – GS – 42, 139, 151 ff.). (Bearbeiter)
1. Sind im selben Verfahren mehrmals Urteile wegen allein von dem Gericht zu verantwortenden Verfahrensfehlern aufgehoben worden und musste die Sache deshalb wiederholt neu verhandelt, werden, begründet die dadurch eingetretene Verzögerung des Abschlusses des Verfahrens und die damit für den Angeklagten verbundene besondere Belastung einen Kompensationsanspruch aus Art. 13 EMRK.
2. In einem solchen Fall hat der Tatrichter zunächst festzustellen, welcher Zeitraum zwischen der Eröffnung des Tatvorwurfs und dem Urteil bei zeitlich angemessener Verfahrensgestaltung als erforderlich anzusehen ist; dieser Zeitraum ist bei der Berechnung der Dauer der in den Verantwortungsbereich der Justiz fallenden Verfahrensverzögerung nicht zu berücksichtigen. Sodann wird das Gericht festzulegen haben, welcher bezifferte Teil der Gesamtstrafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Bei der Bemessung sind vor allem das Gewicht der Verfahrensfehler, die zur wiederholten Aufhebung der Urteile in diesem Verfahren geführt haben, sowie die Auswirkungen der Verzögerungen auf den Angeklagten zu berücksichtigen (vgl. BGHSt - GS - aaO 146 = NJW aaO S. 866; BGH, Beschluss vom 26. November 2008 - 5 StR 450/08 - m.w.N.). Dagegen bleiben die mit der Verfahrensdauer als solcher verbundenen Belastungen bei der Kompensation außer Ansatz, da sie vom Landgericht in dem angefochtenen Urteil zu Recht bei der Gesamtstrafbemessung zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt worden sind (BGH - GS - aaO 147; BGH, Beschluss vom 14. Mai 2008 – 3 StR 75/08). Hingegen wird der neue Tatrichter bei dem Maß der Kompensation auch die weitere Verzögerung zu bedenken haben, die nunmehr bis zur wiederholten Neuverhandlung der Sache eintritt.
3. Der Senat lässt im Übrigen offen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die durch Aufhebung eines Urteils im Rechtsmittelzug auf Grund eines Verfahrensfehlers erforderliche neue Verhandlung der Sache und die dadurch bedingte Dauer des Verfahrens generell als Konventionsverstoß zu werten und deshalb der in Folge der Durchführung des Rechtsmittelverfahrens verstrichene Zeitraum der Überlänge eines Verfahrens hinzuzurechnen ist.
Jedenfalls bei einem Seltenheitswert im Millionenbereich kann das Ergebnis der DNA-Analyse wegen der inzwischen erreichten Standardisierung der molekulargenetischen Untersuchung für die Überzeugungsbildung des Tatrichters dahin, dass die gesicherte Tatortspur vom Angeklagten herrührt, ausreichen, wenn die Berechnungsgrundlage den von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aufgestellten Anforderungen entspricht. (BGHR)
1. Gemäß § 231c Satz 1 StPO besteht die Möglichkeit der Beurlaubung nur für einzelne Teile der Verhandlung, von denen der zu beurlaubende Angeklagte und sein Verteidiger „nicht betroffen“ sind. Letzteres trifft nur zu, wenn auszuschließen ist, dass die während der Abwesenheit des Angeklagten behandelten Umstände auch nur mittel-
bar die gegen ihn erhobenen Vorwürfe berühren. Auch wenn der Verhandlungsteil nur für den Ausspruch über eine Rechtsfolge für den Angeklagten von Bedeutung ist, wird dieser von ihm betroffen.
2. Eine darauf bezogene Aufhebung des Urteils hat nach § 338 Nr. 5 StPO auch bei einem auf die Beurlaubung gerichteten Antrag des Verteidigers des Angeklagten zu erfolgen, soweit das Urteil von der Verletzung des § 231c Satz 1 StPO betroffen ist.
Die tatrichterliche Beweiswürdigung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, wenn sie sich darauf beschränkt, die Umstände, die gegen die Zuverlässigkeit der Angaben eines Zeugen sprechen, gesondert und einzeln zu erörtern, getrennt voneinander zu prüfen und festzustellen, dass sie jeweils nicht geeignet seien, die Glaubwürdigkeit des geschädigten Zeugen in Zweifel zu ziehen. Denn in diesem Fall fehlt es an der gebotenen Gesamtwürdigung aller Beweisanzeichen, die gegen die Richtigkeit der Bekundungen des Zeugen sprechen könnten. Selbst wenn nämlich jedes einzelne seine Glaubwürdigkeit möglicherweise in Frage stellende Indiz noch keine Bedenken gegen die den Angeklagten belastende Aussage aufkommen lassen mag, so kann doch eine Häufung von Fragwürdigkeiten bei einer Gesamtschau zu durchgreifenden Zweifeln an der Richtigkeit der erhobenen Vorwürfe Anlass geben.
Wird geltend gemacht, fehlende Akteneinsicht habe die formgerechte Formulierung einer Verfahrensrüge verhindert, muss die Rüge im Wiedereinsetzungsgesuch so genau mitgeteilt werden, wie dies dem Beschwerdeführer ohne Akteneinsicht möglich ist (BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 10).
1. Dem Angeklagten steht gemäß § 258 Abs. 3 StPO das Recht zu, als letzter noch etwas zu seiner Verteidigung anzuführen. Die Vorschrift verfolgt den Zweck, dem Angeklagten die Möglichkeit einzuräumen, seine Auffassung noch unmittelbar vor der Beratung und Verkündung des Urteils darlegen zu können.
2. § 258 Abs. 2 StPO ist bereits dann verletzt, wenn nach den Schlussvorträgen und einem „letzten Wort“ des Angeklagten die Staatsanwaltschaft ohne Wiedereintritt in die Verhandlung den Antrag auf Haftfortdauer stellt und dem Angeklagten im Anschluss daran nicht erneut Gelegenheit zu einem letzten Wort gegeben wird.
Ein Schuldspruch wegen Taten, die weder nach Ort, Zeit oder sonstigen Tatumständen näher bestimmt und auch hinsichtlich des Tathergangs nur sehr vage beschrieben sind, ist, namentlich wenn der Angeklagte die Vorwürfe bestreitet, mit rechtstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren (vgl. nur BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Mindestfeststellungen 3). Könnte eine Verurteilung auch auf derart vage Feststellungen gestützt werden, so würde der Angeklagte in seinen Verteidigungsmöglichkeiten unangemessen beschränkt (BGH aaO). Darüber hinaus wird, je weniger konkrete Tatsachen über den Schuldspruch bekannt sind, desto fraglicher, ob der Richter von der Tat im Sinne des § 261 StPO überhaupt überzeugt sein kann (BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Mindestfeststellungen 1 und 2). Dies gilt insbesondere dann, wenn der Tatvorwurf Vorgänge betrifft, die auf früheren Aussagen eines einzigen Zeugen beruhen, die dieser zudem später widerrufen hat.
1. Zwar ist in Fällen, in denen das Gericht über ein Ablehnungsgesuch in falscher Besetzung entschieden hat und dadurch das Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt worden ist, allein deswegen der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO gegeben (BVerfG NJW 2005, 3410, 3413 f.; StraFo 2006, 232, 236; BGHSt 50, 216, 219; NStZ 2007, 161, 162).
2. Ein Verstoß gegen die Zuständigkeitsregelungen der §§ 26a, 27 StPO führt aber nicht stets, sondern nur dann zu einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn die Vorschriften willkürlich angewendet werden, der abgelehnte Richter sich mithin zum „Richter in eigener Sache“ macht, oder die richterliche Entscheidung die Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie verkennt. Dagegen liegt bei einer „nur“ schlicht fehlerhaften Anwendung der Zuständigkeitsvorschriften ein Verfassungsverstoß nicht vor (vgl. BVerfG aaO).
3. Erfolgt die Verwerfung allein aus formalen Erwägungen, wurden die Ablehnungsgründe aber nicht inhaltlich geprüft, ist daher danach zu differenzieren, ob die Entscheidung des Gerichts auf einer groben Missachtung oder Fehlanwendung des Rechts beruht, ob also Auslegung und Handhabung der Verwerfungsgründe offensichtlich unhaltbar oder aber lediglich schlicht fehlerhaft sind (BGHSt 50, 216, 219 f.). In letzterem Fall entscheidet das Revisionsgericht nach Beschwerdegrundsätzen sachlich über die Besorgnis der Befangenheit (BGH NStZ 2007, 161, 162; NStZ-RR 2008, 246, 247; Beschl. vom 27. August 2008 - 2 StR 281/08).
4. Eine grob fehlerhaft Bedeutung und Tragweite von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verkennende Anwendung des Befangenheitsrechts liegt nicht vor, wenn ein Befangenheitsgesuch des Verteidigers als unzulässig abgelehnt wird, weil der Verteidiger zuvor nicht mit dem Angeklagten Rücksprache gehalten hat.