HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2009
10. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

297. EuGH C-301/06 – Urteil vom 10. Februar 2009 (Irland gegen das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union)

Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung (Kompetenz der EU; Angleichung von Rechtsvorschriften zur Verwirklichung des Binnenmarktes; Strafverfolgung); Recht auf Achtung der Privatsphäre und Datenschutz; redaktioneller Hinweis.

Art. 8 EMRK; Art. 95 EG; Art. 30 EU; Art. 31 Abs. 1 Buchst. c EU; Art. 34 Abs. 2 Buchst. b EU; Art. 47 EU; Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006

1. Die Richtlinie 2006/24 wurde auf der Grundlage des EG-Vertrags, insbesondere von Art. 95 EG, wirksam erlassen.

2.  Die Wahl der Rechtsgrundlage eines gemeinschaftlichen Rechtsakts muss sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen, zu denen insbesondere das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören (vgl. Urteil vom 23. Oktober 2007, Kommission/Rat, C440/05, Slg. 2007, I9097, Randnr. 61 und die dort zitierte Rechtsprechung).


Entscheidung

296. BVerfG 2 BvR 2044/07 (Zweiter Senat) – Beschluss vom 15. Januar 2009 (BGH)

Zulässigkeit der Rügeverkümmerung im Revisionsverfahren (Beachtlichkeit nachträglicher Protokollberichtigungen; BGH 1 StR 466/05); verfassungsrechtliche Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung (Vorrang des Ge-setzes); Gewohnheitsrecht; Recht auf ein faires Ver-

fahren; Vertrauensschutz; Erfordernis einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege; Beschleunigungsgrundsatz; rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung (Vorlageverfahren); abweichende Meinung Voßkuhle, Osterloh, Di Fabio.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 274 StPO

1. Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Frage der Rügeverkümmerung im Strafverfahren wahrt die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung. (BVerfG)

2. Es gehört zu den anerkannten Aufgaben der Rechtsprechung, im Rahmen der Gesetze von ihr als rechtsgrundsätzlich aufgestellte Rechtssätze zu überprüfen und sie, wenn erforderlich, weiter zu entwickeln. Im Einzelfall kann dies auch dazu führen, dass ein früher als richtig angesehenes Normverständnis aufgegeben und abweichend entschieden wird. Der Umstand, dass ein im Wege richterlicher Rechtsfindung gewonnener Rechtssatz über einen langen Zeitraum Beachtung fand, mag in die Entscheidung einfließen, ob es gerechtfertigt ist, einen abweichenden Rechtssatz aufzustellen, er verleiht indes dem bisherigen Rechtssatz keine höhere Wertigkeit oder gar eine verfassungsrechtlich erhebliche Bestandsgarantie. (Bearbeiter)

3. Als verfassungsrechtlich unbedenklich erscheint auch die Auffassung, bei dem Verbot der Rügeverkümmerung handele es sich nicht um Gewohnheitsrecht. Gewohnheitsrecht entsteht durch längere tatsächliche Übung, die eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine ist und von den Beteiligten als verbindliche Rechtsnorm anerkannt wird (vgl. BVerfGE 22, 114, 121; 28, 21, 28 f.). Es kann offen bleiben, ob und unter welchen Voraussetzungen eine ständige Rechtsprechung in prozessrechtlichen Fragen zu Gewohnheitsrecht werden kann. Jedenfalls genügt hierfür nicht schon eine erhebliche Länge der Zeit, über die sie sich als konstant erweist. Vielmehr bedarf es der Bildung einer Rechtsüberzeugung in den beteiligten Kreisen, also nicht nur unter Juristen. Unter einer Rechtsüberzeugung ist nicht nur die Erwartung zu verstehen, dass die Gerichte nach dieser Maxime verfahren werden, sondern darüber hinaus die Überzeugung, dass sie dies tun werden, weil es sich um eine sie bindende Norm handelt. (Bearbeiter)

4. Verfahrensgestaltungen, die den Erfordernissen einer wirksamen Strafrechtspflege dienen, verletzen nicht schon dann den grundrechtlichen Anspruch auf ein faires Strafverfahren, wenn verfahrensrechtliche Positionen des Angeklagten oder Beschuldigten dabei, gemessen am früheren Zustand, eine Zurücksetzung zugunsten einer wirksameren Strafrechtspflege erfahren. (Bearbeiter)

5. Der Gedanke der Waffengleichheit bezieht sich in erster Linie auf das Verhältnis der Verteidigung zur Staatsanwaltschaft und gebietet selbst in diesem Verhältnis keinen umfassenden Ausgleich verfahrensspezifischer Unterschiede in der Rollenverteilung (vgl. BVerfGE 63, 45, 67; 63, 380, 392 f.). Auf das Verhältnis des Gerichts zur Verteidigung kann der Gedanke der Waffengleichheit nicht übertragen werden. (Bearbeiter)

6. Höchstrichterliche Rechtsprechung ist kein Gesetzesrecht und erzeugt keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Eine in der Rechtsprechung bislang vertretene Gesetzesauslegung aufzugeben, verstößt nicht als solches gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Es bedarf nicht des Nachweises wesentlicher Änderungen der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen, damit ein Gericht ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG von seiner früheren Rechtsprechung abweichen kann. Die Änderung einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes grundsätzlich dann unbedenklich, wenn sie hinreichend begründet ist und sich im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung hält (vgl. BVerfGE 84, 212. 227 f.). (Bearbeiter)

7. Die Durchführung eines Vorlageverfahrens zum Großen Senat für Strafsachen als solche begründet grundsätzlich keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung. (Bearbeiter)

8. Aufgabe des Strafprozesses ist es, den Strafanspruch des Staates um des Schutzes der Rechtsgüter Einzelner und der Allgemeinheit willen in einem justizförmigen Verfahren durchzusetzen und dem mit Strafe Bedrohten eine wirksame Sicherung seiner Grundrechte zu gewährleisten. Der Strafprozess hat das aus der Würde des Menschen als eigenverantwortlich handelnder Person abgeleitete Prinzip, dass keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf (vgl. BVerfGE 80, 244, 255; 95, 96, 140), zu sichern und entsprechende verfahrensrechtliche Vorkehrungen bereitzustellen. Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt. Verfahrensrechtliche Gestaltungen, die der Ermittlung der Wahrheit und somit einem gerechten Urteil entgegenstehen, können, soweit sie verfassungsrechtlich nicht anderweit erfasst werden, jedenfalls den Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren berühren (vgl. BVerfGE 57, 250, 275; 118, 212, 231). (Bearbeiter)


Entscheidung

294. BVerfG 2 BvR 455/08 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 4. Februar 2009 (HansOLG/Untersuchungshaftanstalt Hamburg)

Entkleidung und Anusinspektion bei Aufnahme in die Untersuchungshaftanstalt (kein Ausreichen vollzugspolitischer Zweckmäßigkeiten; Verhältnismäßigkeit); allgemeines Persönlichkeitsrecht.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; § 119 Abs. 3 StPO; § 119 Abs. 6 Satz 1 StPO; § 76 UVollzO; § 84 Abs. 3 StVollzG

1. Durchsuchungen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar. Dies gilt in besonderem Maß für Durchsuchungen, die mit einer Inspizierung von normalerweise bedeckten Körperöffnungen verbunden sind.

2. Zwar bildet § 119 Abs. 3 StPO nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine zureichende gesetzliche Grundlage für Einschränkungen grundrechtlicher Freiheiten des Untersuchungsgefangenen (vgl. BVerfGE 34, 369, 379; 57, 170, 177). Dies gilt

jedoch nur im Hinblick darauf, dass es sich um eine strikt auf die Abwehr von Gefahren für die Haftzwecke oder die Ordnung der Anstalt beschränkte Ermächtigung handelt, deren Anwendung in besonderem Maße dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet ist (vgl. BVerfGE 34, 369, 380; 35, 307, 309). Für darüber hinausgehende Eingriffe nach Maßgabe vollzugspolitischer Zweckmäßigkeiten und nicht gefahrenabwehrrechtlich begründeter Abwägungen bietet § 119 Abs. 3 StPO keine ausreichende Grundlage.

3. Voraussetzung für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen auf der Grundlage des § 119 Abs. 3 StPO ist eine reale Gefährdung der in dieser Bestimmung bezeichneten öffentlichen Interessen (vgl. BVerfGE 15, 288, 295; 35, 307, 309). Für das Vorliegen einer solchen Gefahr müssen konkrete Anhaltspunkte bestehen (vgl. BVerfGE 35, 5, 10; 57, 170, 177).

4. § 119 Abs. 3 StPO schließt generelle Anordnungen - auch solche, die im Prinzip für alle Untersuchungsgefangenen gelten - nicht aus. Dies erfordert aber zum einen, dass eine reale Gefährdung der in § 119 Abs. 3 StPO bezeichneten öffentlichen Interessen nicht jeweils durch einzelne Maßnahmen hinreichend abgewehrt werden kann (vgl. BVerfGE 34, 369, 380; 34, 384, 399 f.). Zum anderen ist in solchen Fällen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dadurch Rechnung zu tragen, dass im Einzelfall Ausnahmen zugelassen werden, soweit dies ohne konkrete Gefährdung der in § 119 Abs. 3 StPO genannten Interessen möglich ist (vgl. BVerfGE 15, 288, 294 f.; 42, 95, 102).

5. Bei Personen, die in Untersuchungshaft verbracht werden, können Umstände vorliegen, die den Verdacht, der oder die Betreffende könne zum Zweck des Einschmuggelns in die Haftanstalt Drogen oder andere gefährliche Gegenstände in Körperöffnungen des Intimbereichs versteckt haben, als derart fernliegend erscheinen lassen, dass hierauf gerichtete Untersuchungen, die mit einer Inspektion von Körperöffnungen verbunden sind, sich als nicht mehr verhältnismäßig erweisen.


Entscheidung

295. BVerfG 2 BvR 728/08 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 18. September 2008 (OLG Köln/LG Aachen)

Überprüfung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung (Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung; Pflicht zur Einholung eines Sachverständigengutachtens bei alleinigem Vorliegen eines acht Jahre alten Gutachtens; Gefahr repetitiver Routinebegutachtungen).

Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; Art. 5 EMRK; § 67d Abs. 2 StGB; § 463 Abs. 4 StPO

1. Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG ergeben sich Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung. Dabei muss nicht bei jeder Überprüfung der Unterbringung von Verfassungs wegen ein Sachverständigengutachten eingeholt werden. Soweit keine zwingenden gesetzlichen Vorschriften bestehen, hängt es von dem sich nach den Umständen des einzelnen Falles bestimmenden pflichtgemäßen Ermessen des Richters ab, in welcher Weise er die Aussetzungsreife prüft (vgl. BVerfGE 70, 297, 309 f.). In der Regel besteht jedoch die Pflicht, einen erfahrenen Sachverständigen zuzuziehen, wenn es um eine Prognoseentscheidung geht, bei der geistige und seelische Anomalien in Frage stehen.

2. Der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen muss der Richter durch eine sorgfältige Auswahl des Gutachters entgegenwirken. So wird es von Zeit zu Zeit geraten sein, einen anstaltsfremden Sachverständigen mit der Begutachtung zu beauftragen, um auszuschließen, dass anstaltsinterne Belange oder die Beziehung zwischen Therapeuten und Untergebrachtem das Gutachten beeinflussen (vgl. BVerfGE 70, 297, 310 f.; 109, 133, 164).