HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2024
25. Jahrgang
PDF-Download



IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

1014. BGH 3 StR 454/22 - Beschluss vom 20. März 2024 (OLG Koblenz)

BGHSt; Verlesung der Erklärungen von Behörden (Berichte von Einrichtungen der Vereinten Nationen zu Beweiszwecken für behördliche oder gerichtliche Verfahren); allgemeine Funktionsträgerimmunität (Völkergewohnheitsrecht; Grenzen des Völkerstrafrechts); Verfahrensrüge (Zulässigkeit; Vortragserfordernisse bei behauptetem Verstoß gegen das Unmittelbarkeitsprinzip; Angriffsrichtung der Rüge); Sexualstrafrecht (Abgrenzung zwischen besonders schwerer Vergewaltigung und besonders schwerer sexueller Nötigung nach den jeweils bis zum 9. November 2016 gültigen Fassungen; Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme).

§ 250 Satz 2 StPO; § 256 Abs. 1 Nr. 1 lit. a StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 20 Abs. 2 GVG; Art. 25 GG; § 177 StGB a.F.; § 174a Abs. 1 StGB a.F.; § 25 Abs. 2 StGB; § 27 StGB

1. Berichte, die Organe oder Einrichtungen der Vereinten Nationen zu Beweiszwecken für behördliche oder gerichtliche Verfahren verfasst haben, unterfallen dem Anwendungsbereich des § 250 Satz 2 StPO. Nach § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StPO können sie gleichwohl in zulässiger Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes verlesen und damit verwertet werden (BGHSt).

2. Die allgemeine Funktionsträgerimmunität findet ihre Grenze in völkerrechtlichen Verbrechen unabhängig vom Status und Rang des Täters. Dies gilt für Taten, deren Strafbarkeit unmittelbar im allgemeinen Völkergewohnheitsrecht verwurzelt ist. Dazu zählen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, so wie diese Delikte als gewohnheitsrechtlich verfestigter Bestand des Völkerstrafrechts in den Strafvorschriften des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs und dementsprechend im Völkerstrafgesetzbuch festgeschrieben sind (BGHSt).


Entscheidung

1013. BGH 3 StR 450/23 - Beschluss vom 15. Mai 2024 (LG Mainz)

BGHR; Frist zur Absetzung des Urteils (abgekürzte Urteilsgründe; Ergänzung nach rechtzeitig eingelegter, aber verspätetet zu den Sachakten gelangter Revision; Neubeginn der Frist).

§ 267 Abs. 4 Satz 4 StPO; § 338 Nr. 7 StPO

1. Ist die Revision wirksam elektronisch übermittelt worden, wegen technischer Störungen aber nicht zu den Sachakten gelangt, und hat das erkennende Gericht in berechtigtem Vertrauen auf die Rechtskraft der Entscheidung die Urteilsgründe abgekürzt abgefasst, kann es diese ent-

sprechend § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO ergänzen, wenn es vom Eingang des Rechtsmittels erfährt.

2. Sofern dem Gericht zu diesem Zeitpunkt die Akten nicht mehr vorliegen, beginnt die Frist zur Absetzung des ergänzten Urteils mit erneutem Eingang der Akten.


Entscheidung

1075. BGH 5 StR 473/23 - Beschluss vom 18. Januar 2024 (LG Leipzig)

Befangenheit der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft (fehlende gesetzliche Regelung; keine Analogie; Pflicht zur Objektivität; Verfahrensfehler; faires Verfahren).

§ 22 StPO; § 23 StPO; § 337 StPO; Art. 6 EMRK

1. Das von einer Vertreterin der Staatsanwaltschaft mit scharfen Worten („unerträglich“) zum Ausdruck gebrachte Befremden über eine vermeintlich „kritische“ Befragung der Geschädigten in einem Verfahren wegen einer Sexualstraftat lässt regelmäßig besorgen, dass sie einem grundlegenden Missverständnis von der richterlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) und dem Konfrontationsrecht eines Beschuldigten (Art. 6 Abs. 3 Buchst. b EMRK) unterlegen ist. Ebenso wenig ist es in der Regel mit der staatsanwaltlichen Pflicht zur Objektivität in Einklang zu bringen, dass eine Staatsanwältin die Sitzungsvertretung wahrnimmt, obwohl sie sich in Verfahren wegen des Verdachts von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und gegen die körperliche Integrität von Frauen selbst „als Feministin und persönliche Betroffene“ für „befangen“ hält. An einem Verfahrensfehler kann es gleichwohl fehlen, wenn das Verhalten der Sitzungsvertreterin in der Hauptverhandlung im Übrigen nicht zu beanstanden und die Begründung ihrer Schlussvorträge auf der Grundlage der Beweiserhebung vertretbar und nicht offensichtlich von verfahrensfremden Überlegungen bestimmt gewesen ist.

2. Staatsanwälte unterliegen nicht den Vorschriften über die Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen. Eine analoge Anwendung der §§ 22 ff. StPO kommt – jedenfalls jenseits des Sonderfalls der Vernehmung des Sitzungsvertreters als Zeuge in der Hauptverhandlung – nicht in Betracht; sie kann insbesondere nicht den in §§ 141 ff. GVG niedergelegten Rechtssätzen entnommen werden. Es fehlt zudem schon an einer planwidrigen Regelungslücke, weil der Gesetzgeber bewusst darauf verzichtet hat, den Ausschluss oder die Ablehnung von Sitzungsvertretern der Staatsanwaltschaft regelnde Vorschriften zu schaffen.

3. Weder dem Gericht noch einem sonstigen Verfahrensbeteiligten steht danach das Recht zu, einen Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in einem förmlichen innerprozessualen Verfahren wegen Befangenheit abzulehnen. Sie können lediglich bei dem Vorgesetzten des Beamten der Staatsanwaltschaft darauf hinwirken, dass dieser ihn auf Grundlage des § 145 GVG durch einen anderen ersetze; wird der Staatsanwalt nicht ersetzt, ist die Hauptverhandlung fortzusetzen.

4. Gleichwohl kann die Besorgnis, der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft sei befangen, im Einzelfall die Revision des Angeklagten begründen. Indes darf zur Beurteilung der Frage, ob einem Staatsanwalt die Mitwirkung an der Hauptverhandlung wegen der Besorgnis der Befangenheit untersagt ist, mit Blick darauf, dass das Gericht das Urteil spricht und in der Hauptverhandlung die maßgebliche Rolle einnimmt, hierbei nicht der strenge Maßstab wie bei einem der zur Entscheidung berufenen Richter angelegt werden; die Gründe müssen vielmehr ähnlich schwerwiegen wie die Ausschlusstatbestände der §§ 22, 23 StPO. Maßstab für die Beurteilung ist die Rolle der Staatsanwaltschaft als „Wächter der Gesetze“ und als ein dem Gericht gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege.

5. Verletzt ein Staatsanwalt seine Pflicht zur Objektivität und Wahrung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens derartig schwer und nachhaltig, dass sich sein Verhalten in der Hauptverhandlung aus Sicht eines verständigen Angeklagten als Missbrauch staatlicher Macht darstellt, so ist dessen Recht auf ein faires und justizförmiges Verfahren verletzt. Das Urteil wird in einem solchen Fall regelmäßig auf der Rechtsverletzung beruhen (§ 337 Abs. 1 StPO), es sei denn, das erkennende Gericht bringt im Rahmen seiner Verfahrensherrschaft eine Kompensation hierfür zum Ausdruck. Dies kann letztlich in der Obliegenheit münden, bei dem Vorgesetzten des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft auf dessen Ersetzung durch einen anderen Staatsanwalt hinzuwirken und seine Bemühungen in der Hauptverhandlung öffentlich zu machen. Fehlt es an einer Reaktion des Gerichts, wird es nur ausnahmsweise auszuschließen sein, dass sich das einem rechtsstaatlichen Verfahren zuwiderlaufende Verhalten des Sitzungsvertreters in dem Urteil zulasten des Angeklagten ausgewirkt hat.

6. Hält sich ein Staatsanwalt für voreingenommen, hat er die Gründe hierfür seinem Dienstvorgesetzten vor- und um Ersetzung anzutragen. Dadurch wird gewährleistet, dass die im Gesetz angelegte Selbstkontrolle der Staatsanwaltschaft effektiv stattfinden kann.


Entscheidung

969. BGH 4 StR 157/24 - Beschluss vom 5. Juni 2024 (LG Frankenthal (Pfalz))

Revision (Zulässigkeit: Revisionsbegründung, Form, Pflicht zur elektronischen Übermittlung, einfach signierter Schriftsatz, sicherer Übermittlungsweg, sicherer Rückschluss auf die Identität des Absenders, elektronisches Anwaltspostfach, vertrauenswürdiger Herkunftsnachweis (vHN)); Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Form: EGVP-Nachricht).

§ 32d StPO; § 32a StPO; § 44 StPO

1. Das Adjektiv „sicher“ im Sinne des § 32a Abs. 4 StPO bezieht sich nicht auf Fragen der IT-Sicherheit oder des Ausfallschutzes, sondern darauf, dass aufgrund entsprechender technischer Sicherungsmaßnahmen bei Nutzung eines solchen Übermittlungswegs ein sicherer Rückschluss auf die Identität des Absenders möglich ist. Der besondere Kommunikationskanal ersetzt die Identifikationsfunktion der Unterschrift.

2. Die erforderliche eigenhändige Versendung aus dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach wird durch den vertrauenswürdigen Herkunftsnachweis (vHN) dokumentiert. Dieser wird nur an einer Nachricht angebracht, wenn das Postfach in einem sicheren Verzeichnisdienst geführt wird

und der Postfachinhaber zu dem Zeitpunkt, zu dem die Nachricht erstellt wird, sicher an dem Postfach angemeldet ist. Beim Empfänger führt die Übersendung dann zu dem Prüfergebnis „sicherer Übermittlungsweg aus einem besonderen Anwaltspostfach“. Der vHN ist maßgeblich für die freibeweisliche Prüfung einer formgerechten Einreichung. Fehlt er, kann nicht von einem Eingang auf einem sicheren Übermittlungsweg im Sinne von § 32a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 StPO ausgegangen werden.


Entscheidung

1080. BGH 6 StR 111/24 - Beschluss vom 15. Mai 2024 (LG Halle)

Entfernung des Angeklagten bei Vernehmung von Mitangeklagten und Zeugen; Verhandlung über die Entlassung eines in Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen (Verzicht des Angeklagten auf weitere Fragen an den Zeugen; Mitteilung des Verteidigers, Abgabe einer Erklärung mit Wirkung für den anwesenden Angeklagten).

§ 247 StPO; § 338 Nr. 5 StPO

1. Zwar ist die Verhandlung über die Entlassung eines in Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen grundsätzlich ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung. Die währenddessen fortdauernde Abwesenheit des nach § 247 Satz 1 oder 2 StPO entfernten Angeklagten ist deshalb regelmäßig geeignet, den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO zu begründen (st. Rspr.). Dies gilt aber nicht, wenn der Angeklagte – nachdem er von dem Inhalt der Aussage des Zeugen unterrichtet worden ist – auf weitere Fragen an den Zeugen verzichtet hat.

2. Hatten der Angeklagte und sein Verteidiger Gelegenheit dazu, darüber zu beraten, ob der Angeklagte weitere Fragen an einen in seiner Abwesenheit vernommenen Zeugen (§ 247 StPO) habe – nachdem der Angeklagte über den Vernehmungsinhalt informiert wurde – und erklärt der Verteidiger im Anschluss hieran in Anwesenheit des Angeklagten, dass „die Verteidigung“ keine weiteren Fragen mehr an den Zeugen habe, kann diese Mitteilung nur dahin verstanden werden, dass sie auch im Namen des Angeklagten abgegeben wird.


Entscheidung

1028. BGH StB 35/24 - Beschluss vom 26. Juni 2024 (OLG Frankfurt am Main)

Verwerfung eines Ablehnungsgesuchs als unzulässig (völlige Ungeeignetheit des Vorbringens des Ablehnenden; Erfordernis einer dienstlichen Äußerung); Ablehnung des Antrags auf Verteidigerwechsel (sofortige Beschwerde; Pflichtverteidigerbestellung; Störung des Vertrauensverhältnisses; Gewährleistung einer angemessenen Verteidigung; zusätzlicher Pflichtverteidiger).

§ 24 StPO; § 26 Abs. 3 StPO; § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO; § 143a StPO; § 144 StPO; § 304 StPO

1. Bringt ein Ablehnungsgesuch bereits beschiedenen Vortrag erneut vor, ist es schon aus diesem Grund offensichtlich unzulässig. Die Entscheidung hängt dann nur noch von einer formalen Prüfung ab, die kein erneutes Eingehen auf den Verfahrensgegenstand erfordert.

2. Bei der Entscheidung über die Bestellung eines Sicherungsverteidigers kommt dem hierzu gemäß § 142 Abs. 3 StPO berufenen Richter ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu. Dessen Beurteilung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert, kann das Beschwerdegericht daher nur beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält; anderenfalls hat es sie hinzunehmen.


Entscheidung

993. BGH 3 StR 90/23 - Beschluss vom 30. April 2024 (LG Oldenburg)

Beweisantragsrecht (Widerspruch zu einer als wahr unterstellten Beweistatsache; Kongruenzgebot).

§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 6 StPO

1. Das Tatgericht muss bei der Urteilsfindung die Zusage einlösen, eine bestimmte Behauptung zugunsten des Angeklagten als wahr zu behandeln. Die Urteilsgründe dürfen sich mit einer – bis zum Schluss der Hauptverhandlung unwiderrufen gebliebenen – Wahrunterstellung nicht in Widerspruch setzen. Denn der Angeklagte kann grundsätzlich auf die Einhaltung einer solchen Zusage vertrauen und danach seine Verteidigung einrichten. In diesem berechtigten Vertrauen wird er enttäuscht, wenn das Gericht von der Wahrunterstellung abrückt (BGH NStZ 2020, 690 Rn. 6).

2. Die als wahr unterstellte Beweistatsache ist in ihrer Bedeutung, wie sie sich nach dem Sinn und Zweck des Beweisantrags ergibt, ohne Verkürzung, Umdeutung oder sonstige inhaltliche Änderung als wahr – d.h. als erwiesen (so schon BGH NJW 1961, 2069) – zu behandeln und dem Urteil zugrunde zu legen (st. Rspr.).


Entscheidung

1064. BGH 5 StR 255/24 - Beschluss vom 16. Juli 2024 (LG Hamburg)

Ablehnung eines Beweisantrags wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit (mögliche Schlüsse; Begründungsanforderungen; Urteilsgründe; hypothetische Betrachtung).

§ 244 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO

1. Indiz- bzw. Hilfstatsachen sind tatsächlich bedeutungslos (vgl. § 244 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO), wenn zwischen ihnen und dem Gegenstand der Urteilsfindung kein Sachzusammenhang besteht oder sie trotz eines solchen Zusammenhangs selbst im Fall ihres Erwiesenseins die Entscheidung nicht beeinflussen könnten, weil sie nur mögliche, nicht aber zwingende Schlüsse zulassen und das Gericht den möglichen Schluss nicht ziehen will.

2. Lehnt das Gericht einen Beweisantrag wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit der unter Beweis gestellten Tatsache ab, bedarf es im Ablehnungsbeschluss konkreter fallbezogener Erwägungen dazu, warum aus der Beweistatsache keine entscheidungserheblichen Schlussfolgerungen gezogen werden sollen. Das Tatgericht hat die unter Beweis gestellte Tatsache dabei so, als sei sie erwiesen, in das aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme erlangte Beweisergebnis einzustellen. Sodann hat es im Wege einer prognostischen Betrachtung zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung – gegebenenfalls in Anwendung des Zweifelsatzes – in einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde. Die Anforderungen an diese Begründung entsprechen grundsätzlich denjenigen, denen das Tatgericht genügen

müsste, wenn es die Indiz- oder Hilfstatsache durch Beweiserhebung festgestellt und sodann in den schriftlichen Urteilsgründen darzulegen hätte, warum sie auf seine Überzeugungsbildung ohne Einfluss geblieben ist.


Entscheidung

1095. BGH 6 StR 532/23 - Beschluss vom 12. Juni 2024 (LG Rostock)

Mitteilungspflicht über Verständigungsgespräche (Zweck: Transparenz und Dokumentation; Umfang der Mitteilungspflicht: wesentlicher Inhalt des Verständigungsgesprächs, Gesprächsteilnehmer, Initiative, Standpunkte der Gesprächsteilnehmer, Zustimmung und Ablehnung; Beruhen).

§ 243 Abs. 4 StPO; § 337 Abs. 1 StPO

Das Beruhen des Urteils auf einer Verletzung der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 StPO kann nach dem um normative Kriterien angereicherten verfassungsrechtlichen Beruhensbegriff im Einzelfall nur ausgeschlossen werden, wenn die Gesetzesverletzung sich nicht in entscheidungserheblicher Weise auf das Prozessverhalten des Angeklagten ausgewirkt haben kann, mit Blick auf die Kontrollfunktion der Mitteilungspflicht der Inhalt der geführten Gespräche zweifelsfrei feststeht und diese nicht auf die Herbeiführung einer gesetzeswidrigen Absprache gerichtet waren.


Entscheidung

937. BGH 1 StR 190/24 - Beschluss vom 11. Juni 2024 (LG Freiburg)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (notwendige Neuentscheidung über den Strafausspruch nach Inkrafttreten des KCanG, keine Erstreckung auf nicht-revidierende Mitangeklagte).

§ 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG; § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG; § 34 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG; § 354a StPO; § 357 StPO

Die Konstellation der einem Angeklagten günstigen Gesetzesänderung erst nach Erlass des angefochtenen Urteils (§ 354a StPO) ist nicht von der restriktiv zu handhabenden Vorschrift des § 357 Satz 1 StPO erfasst.


Entscheidung

1033. BGH 5 StR 6/24 - Urteil vom 17. Juli 2024 (LG Kiel)

Kognitionspflicht und Umgrenzungsfunktion der Anklage bei verändertem Tatbild im Laufe des Verfahrens (prozessualer Tatbegriff; „Nämlichkeit“ der Tat; Grenzen einer „Umgestaltung der Strafklage“).

§ 200 StPO; § 264 StPO

1. Das Gericht muss seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden. Die angeklagte Tat im verfahrensrechtlichen Sinne ist erschöpfend abzuurteilen. Das Gericht ist dabei an die rechtliche Beurteilung, wie sie der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss zugrunde liegt, nicht gebunden. Der verfahrensrechtliche Tatbegriff umfasst den von der zugelassenen Anklage betroffenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll; zu dieser Tat gehört deshalb das gesamte Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang darstellt.

2. Verändert sich im Lauf eines Verfahrens das Bild des Geschehens, auf das die Anklage hinweist, so kommt es darauf an, ob die „Nämlichkeit der Tat“ trotz der Abweichung noch gewahrt ist. Dies ist – ungeachtet gewisser Unterschiede – dann der Fall, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen kennzeichnen. Einer so genannten „Umgestaltung der Strafklage“ sind damit Grenzen gesetzt. Sie darf nicht dazu führen, dass das der Anklage zugrunde liegende Geschehen vollständig verlassen und durch ein anderes ersetzt wird, mag dieses auch gleichartig sein. Die Identität der Tat wird verlassen, wenn das Gericht Umstände feststellt, die von den die angeklagten Taten individualisierenden Tatmodalitäten in erheblicher Weise abweichen.


Entscheidung

1044. BGH 5 StR 145/24 (alt: 5 StR 511/21) - Urteil vom 18. Juli 2024 (LG Bremen)

Anforderungen an die Beweiswürdigung (DNA-Spur; Indizien; Gesamtwürdigung; Zweifelssatz).

§ 261 StPO

1. Das tatrichterliche Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Dabei dürfen die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern müssen in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt werden. Im Rahmen dieser Gesamtwürdigung dürfen einzelne Beweisergebnisse zudem nicht mit der fehlerhaft isolierten Anwendung des Zweifelssatzes entwertet werden, denn der Grundsatz in dubio pro reo ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel.

2. Einzelne Belastungsindizien, die für sich genommen zum Beweis der Täterschaft nicht ausreichen, können in ihrer Gesamtheit die für eine Verurteilung notwendige Überzeugung des Tatgerichts begründen. In diesem Sinne kann der Umstand, dass eine Mitverursachung einer DNA-Spur durch den Angeklagten bloß möglich ist (weil weitere Personen als Spurenleger in Betracht kommen würden), ein Indiz für seine Täterschaft darstellen, dessen Wert im Rahmen einer Gesamtwürdigung durch das Tatgericht bewertet werden muss.


Entscheidung

1053. BGH 5 StR 218/24 (alt: 5 StR 143/23) - Beschluss vom 17. Juli 2024 (LG Berlin)

Keine Wiedereinsetzung zur Nachbesserung einer unzureichend begründeten Verfahrensrüge.

§ 44 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachbesserung einer Verfahrensrüge kommt allenfalls in besonderen Prozesssituationen in Betracht, wenn dies zur Wahrung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) unerlässlich erscheint. Könnte ein Angeklagter, dem durch die Antragsschrift des Generalbundesanwalts ein formaler Mangel in der Begründung einer Verfahrensrüge aufgezeigt worden ist, diese unter Hinweis auf ein Verschulden seines Verteidigers

nachbessern, würde im Ergebnis die Formvorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO außer Kraft gesetzt. Dies würde nicht mit dem öffentlichen Interesse in Einklang stehen, einen geordneten Fortgang des Verfahrens zu sichern und ohne Verzögerung alsbald eine klare Verfahrenslage zu schaffen.


Entscheidung

1055. BGH 5 StR 225/24 (alt: 5 StR 133/23) - Beschluss vom 2. Juli 2024 (LG Berlin)

Anforderungen an Begründung und Glaubhaftmachung beim Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

§ 44 StPO

Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand muss unter konkreter Behauptung von Tatsachen so vollständig begründet und glaubhaft gemacht werden, dass ihm die unverschuldete Verhinderung des Antragstellers entnommen werden kann.