HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

September 2024
25. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Zur Unfreiwilligkeit des Rücktritts vom beendeten Versuch aufgrund innerer Zwangslage

Zugleich Anmerkung zu BGH HRRS 2024 Nr. 509

Von Wiss. Mit. Dr. Nils Hauser, Berlin[*]

I. Einleitung

Das vorliegende Urteil des 6. Senats behandelt die Anforderungen, die an die Freiwilligkeit der Verhinderungshandlung beim Rücktritt vom beendeten Versuch zu stellen sind.[1] Die im Verhältnis zum Sachverhalt (II.) knappen Ausführungen zur rechtlichen Würdigung übertragen die bisherige Rechtsprechung des BGH in Bezug auf die Anforderungen an die Freiwilligkeit des Rücktritts vom unbeendeten (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB) auf den beendeten Versuch (§ 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB) (III.), was kritisch betrachtet werden soll (IV.).

II. Sachverhalt

Das LG Würzburg verurteilte den Täter wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Gegen dieses Urteil richtete sich die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision an den BGH. Nach den Feststellungen versuchte der Täter, das als Nebenklägerin auftretende Opfer in dessen Wohnung mit einem Hammer zu erschlagen, um sodann an der Leiche den Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Das nach dem ersten Hammerschlag von hinten und elf weiteren Schlägen gegen den Kopf auftretende Verletzungsbild, infolgedessen auch seine zwischenzeitlich eingetretene Erektion nachließ, ließ den Täter davon absehen, die geplanten sexuellen Handlungen am Opfer vorzunehmen. Er ging davon aus, dass das Opfer ohne weitere Hilfe an seinen Wunden versterben würde. Durch die Sorge um die Folgen seiner Tat für ihn selbst geriet der Täter in einen Schockzustand, der es ihm verwehrte, einen klaren Gedanken zu fassen. Spontan kam ihm die Idee, den Verdacht von sich abzulenken, indem er nach Waschen seiner Hände, Verlassen der Wohnung und Entsorgen des Hammers in einem Gebüsch und auf der vermeintlichen Suche nach einem angeblichen Einbrecher laut rief: "Wo ist der Wichser?". Aufgrund des gefühlten, inneren seelischen Drucks sah er keine Handlungsalternative als überdies zwei Zeuginnen aufzufordern, einen Krankenwagen zu rufen, was eine der beiden tat. Im weiteren Verlauf rief noch eine weitere Zeugin nach Aufforderung durch den Täter einen Krankenwagen. Der Täter wies die hinzukommenden Rettungskräfte vor Ort ein. Das Opfer überlebte.

III. Rechtliche Würdigung

Der Senat stellt klar, dass die in der Rechtsprechung des BGH anerkannten Anforderungen an die Freiwilligkeit der Vollendungsverhinderung mit Blick auf den unbeendeten Versuch auch Anwendung auf den beendeten Versuch finden.[2] Dabei bezieht sich der Senat auf Rechtsprechung des

4. Senats,[3] die bereits zuvor von einer Übertragbarkeit der Anforderungen ausging, ohne dies – wie hiesig – explizit auszusprechen. Infolge dieser Übertragung lässt der Senat nun auch für den beendeten Versuch gelten, was für den unbeendeten Versuch bereits "anerkannt"[4] sei: Ein Rücktritt wirke dann nicht strafbefreiend, wenn sich der Täter infolge übermächtiger Angst, eines Schocks, einer psychischen Lähmung oder eines vergleichbaren seelischen Ausnahmezustands nicht weiter in der Lage sieht, eine weitere auf die Tatbestandsverwirklichung gerichtete Handlung vorzunehmen, jener Zustand mithin ein "zwingendes Hindernis" für den Täter darstellt.[5] Der Täter müsse "Herr seiner Entschlüsse" bleiben, d.h. die Vollendung willentlich verhindern.[6]

Dies sei der Täter vorliegend nicht gewesen. Denn er habe bei Ansprache der Zeuginnen unter derart panischer Angst und innerem Druck gelitten, dass ihm ein selbstbestimmtes Handeln gar nicht möglich gewesen sei. Daher habe er die Rettungskette gezwungenermaßen, mithin unfreiwillig, in Gang gesetzt.[7]

IV. Bewertung

Die Übertragung der Anforderungen an die Freiwilligkeit im Rahmen des Rücktritts vom unbeendeten auf den beendeten Versuch erscheint nur stringent, legte der BGH doch bereits zuvor die gleichen Maßstäbe an, wenngleich er dies auch nicht explizit aussprach.[8] Auch der Großteil der Literatur übertrug schon zuvor schlicht diese Maßstäbe, erschöpfen sich die Ausführungen zur Freiwilligkeit im Rahmen des beendeten Versuchs doch zumeist in Aussagen wie folgt: "Für[die Freiwilligkeit des Rücktritts]gelten beim beendeten Versuch die gleichen subjektiven Maßstäbe wie beim unbeendeten Versuch."[9] Diese Übertragung ist daher kaum zu kritisieren und beinhaltet zugleich den Vorteil, dass die in der Literatur vertretene Kritik an der Judikatur des BGH die Freiwilligkeit des Rücktritts vom unbeendeten Versuch betreffend ebenfalls schlicht übertragen werden kann. Diese soll daher vorliegend nicht weiter ausgeführt werden.[10]

Wie von anderen Autoren angemerkt, mutet die Argumentation des BGH mitunter "apodiktisch"[11] an: Der Täter soll noch in einem Moment erkennen, dass das Opfer bei ungehindertem Ablauf an seinen Verletzungen versterben wird und gleichzeitig die Möglichkeit gesehen haben, die Tat mit den ihm verfügbaren Mitteln zu vollenden (denn sonst könnte schon kein beendeter Versuch mehr vorliegen). Kurz darauf soll er nicht mehr Herr seiner Entschlüsse sein können und in einem Schockzustand gefangen sein, infolgedessen er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Im unmittelbaren Anschluss an diesen Zustand soll er dann jedoch einen "Spontanentschluss" fassen können, von sich abzulenken, nur um wenig später – und nach den Feststellungen wieder nicht "Herr seiner Entschlüsse" – zwei Zeugen dazu aufrufen, Rettungskräfte zu verständigen.

Der Ursprung dieser apodiktischen Argumentation könnte darin zu suchen sein, dass, wer nicht mehr Herr seiner Entschlüsse ist, wer also keine Möglichkeit mehr sehen kann, die Tat zu vollenden, schon nach eigener Diktion des BGH nicht mehr zurücktreten kann, sein Versuch ist fehlgeschlagen.[12] Der Senat musste demnach sehr scharf abgrenzen, wann genau der Täter im hiesigen Falle Herr seiner Entschlüsse war und wann nicht, um ihm überhaupt noch einen Rücktritt zu ermöglichen, was apodiktisch anmuten mag, letztlich aber Ausfluss der bisher ungeklärten Grenzen[13] der Rechtsfigur des fehlgeschlagenen Versuchs ist. Hätte der Senat also weniger apodiktisch festgestellt, wann selbstbestimmtes Handeln vorlag und wann nicht, hätte er pauschal angenommen, der Täter sei insgesamt nicht mehr "Herr seiner Entschlüsse" gewesen, hätte dies zur Folge gehabt, dass der Täter schon einen fehlgeschlagenen Versuch begangen hätte.

Mit Bezug auf die hiesige Entscheidung von einer massiven Einengung der Beschuldigtenrechte zu sprechen,[14] erscheint daher nicht überzeugend. Denn, selbst wenn man den Maßstab des BGH als einengend ansehen würde[15] – was ein Großteil der Literatur nicht tut,[16] da dieser die Auslegung des Merkmals der Freiwilligkeit durch den BGH für zu freigiebig hält – war die vorliegende Entscheidung kein Novum und hat, wenn überhaupt, jene Einengung der Beschuldigtenrechte fortgeführt, nicht jedoch verstärkt.

Ein fehlgeschlagener Versuch hätte nach den Feststellungen des Landgerichts auch noch in anderem Rahmen zumindest Berücksichtigung finden können:

Denn die infolge der Verletzungen nachlassende Erektion des Täters findet im Rahmen des Rücktritts bzw. noch davor keinerlei Erwähnung. Man hätte jedoch zumindest hinsichtlich des Mordes zur Ermöglichung einer anderen Tat, hier der Störung der Totenruhe durch geschlechtliche Handlungen mit der Leiche des Opfers, und des Mordes zur Befriedigung des Geschlechtstriebs an einen – bei aller Kritik an dieser, in der Rechtsprechung des BGH jedenfalls anerkannten Rechtsfigur[17] – fehlgeschlagenen Versuch denken können. Denn mit dem Nachlassen seiner Erektion steht es zumindest in Zweifel, ob der Täter beide tatbestandlichen Ziele – den Mord zur Befriedigung des Geschlechtstriebs sowie die Ermöglichung der Vornahme geschlechtlicher Handlungen an der Leiche des Opfers – noch ohne wesentliche Zwischenakte mit den ihm zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Mitteln in die Tat hätte umsetzen können.

V. Schluss

Wie die vom Senat selbst referenzierten Entscheidungen zeigen, war die Übertragung der Anforderungen an die Freiwilligkeit beim Rücktritt vom unbeendeten auf den beendeten Versuch bereits vorher gängige Praxis des BGH. Die hiesige Entscheidung spricht diese Übertragbarkeit jedoch explizit aus. Das bietet den Vorteil, dass die bereits bestehende Kritik an der Auslegung des Merkmals der Freiwilligkeit durch den BGH im Rahmen des unbeendeten Versuchs nunmehr unzweifelhaft auf den beendeten Versuch übertragen werden kann. Dass sich der Senat dem Vorwurf apodiktisch anmutender Ausführungen ausgesetzt sieht,[18] dürfte seinen Grund in der nicht klar abgegrenzten Rechtsfigur des fehlgeschlagenen Versuchs finden. Um den Rücktritt des Täters vorliegend nicht bereits im Keim zu ersticken, mussten diejenigen Handlungen, die der Täter noch als "Herr seiner Entschlüsse" vornahm und diejenigen, welche er nur noch aufgrund eines unüberwindlichen inneren Zwangs vornahm, scharf voneinander abgegrenzt werden. Eine – weitere – Einengung der Beschuldigtenrechte[19] liegt hierin gerade nicht. Die "goldene Brücke" bleibt– je nach Betrachter – so baufällig bzw. ausgebaut wie eh und je.


* Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand am Lehrstuhl von Prof. Dr. Martin Heger an der Juristischen Fakultät sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Alexander Nützenadel am Institut für Geschichte der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

[1] BGH Urt. v. 10.1.2024 – 6 StR 324/23, NJW 2024, 1282 = HRRS 2024 Nr. 509. Vgl. hierzu bereits Merschmöller FD-StrafR 2024, 808889; kritisch Beukelmann/Heim NJW-Spezial 2024, 280, 280; zustimmend Deutscher StRR 5/2024, 29, 29 f. Vgl. auch https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bgh-6str2423-versuch-ruecktritt-freiwilligkeit-freiwillig-examen-mord/ (Stand: 4.6.2024).

[2] Rz. 12.

[3] Vgl. BGH, Urt. v. 11.6.1987 – 4 StR 31/87, juris; hingegen nur im Ansatz im Urt. v. 22.8.1985 – 4 StR 326/85, NJW 1986, 73, 74.

[4] Rz. 11.

[5] Rz. 11 unter Verweis auf BGH, Urt. v. 14.4.1955 – 4 StR 16/55, NJW 1955, 915, 916; v. 28.2.1956 – 5 StR 352/55, NJW 1956, 718, 719; v. 10.5.1994 – 1 StR 19/94, NStZ 1994, 428, 428 f.; Beschl. v. 13.1.1988 – 2 StR 665/87, NStZ 1988, 404, 405 (m. Anm. Lackner); v. 22.3.2012 – 4 StR 541/11, NStZ-RR 2012, 239, 240= HRRS 2012 Nr. 484; v. 14.2.2023 – 4 StR 442/22, NStZ 2023, 599, 599 f. = HRRS 2023 Nr. 393; vom 7.11.2023 – 2 StR 302/23, BeckRS 2023, 36077 = HRRS 2024 Nr. 88.

[6] Rz. 12 unter Verweis auf BGH, Urteil vom 9.3.1967 – 5 StR 38/67, NJW 1967, 1189, 1189.

[7] Rz. 13.

[8] Vgl. BGH, Urt. v. 11.6.1987 – 4 StR 31/87, juris.

[9] Eser/Bosch, in: Schönke/Schröder, StGB 30. Aufl. 2019, § 24, Rn. 67. So auch Fischer, StGB 71. Aufl. 2024, § 24, Rn. 30; Heger, in: Lackner/Kühl/Heger, StGB 30. Aufl. 2023, § 24, Rn. 21; Hoffmann-Holland, in: MüKo StGB 4. Aufl. 2020, § 24, Rn. 153; wie selbstverständlich davon ausgehend auch Engländer, in: NK-StGB 6. Aufl. 2023, § 24, Rn. 53; Heger/Petzsche, in: Matt/Renzikowski, StGB 2. Aufl. 2020, § 24, Rn. 22; Cornelius, in: BeckOK StGB 60. Ed. 1.2.2024, § 24, Rn. 36; Roxin, Strafrecht AT II 2003, § 30, Rn. 354.

[10] Vgl. übersichtshalber Hoffmann-Holland a.a.O. (Fn. 9), Rn. 116 ff.

[11] Beukelmann/Heim NJW-Spezial 2024, 280, 280.

[12] Vgl. hierzu Cornelius, a.a.O. (Fn. 9), Rn. 39; Hoffmann-Holland a.a.O. (Fn. 9), Rn. 116.

[13] Vgl. Heger a.a.O. (Fn. 9), Rn. 11.

[14] So Beukelmann/Heim NJW-Spezial 2024, 280, 280.

[15] Vgl. bspw. Engländer a.a.O. (Fn. 9), Rn. 62.

[16] Vgl. bspw. Heger a.a.O. (Fn. 9), Rn. 17; Hoffmann-Holland a.a.O. (Fn. 9), Rn. 116.

[17] Übersichtshalber Heger a.a.O. (Fn. 9), Rn. 10.

[18] Vgl. Beukelmann/Heim NJW-Spezial 2024, 280, 280

[19] So Beukelmann/Heim NJW-Spezial 2024, 280, 280.