HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juli 2024
25. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

818. BVerfG 2 BvR 1694/23 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 21. Mai 2024 (OLG Braunschweig)

Auslieferung an die Republik Türkei zum Zwecke der Strafvollstreckung (türkischer Staatsangehöriger; Schutz vor Auslieferung bei akuter Suizidalität; Recht auf effektiven Rechtsschutz; unzureichende gerichtliche Sachaufklärung; unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze; verbindlicher völkerrechtlicher Mindeststandard; Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens; Erschütterung des Vertrauens bei systemischen Defiziten im Zielstaat; völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen; Zweifel an der Belastbarkeit; eigene gerichtliche Gefahrprognose; Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK; Aufklärungs- und Prüfungspflichten bei Gefahr einer ernsthaften und irreversiblen Gesundheitsverschlechterung; erneuter Suizidversuch; Transport- und Haftfähigkeit; unzureichende Behandlungsangebote im türkischen Strafvollzug; Haftbedingungen in der Türkei; verfassungsgerichtliche Überprüfbarkeit der auslieferungsrechtlichen Bewilligungsentscheidung nur ausnahmsweise bei Abweichung von der Zulässigkeitsentscheidung).

Art. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 25 GG; Art. 79 Abs. 3 GG; Art. 3 EMRK; § 12 IRG

1. Eine auslieferungsrechtliche Zulässigkeitsentscheidung verletzt den Verfolgten in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz, wenn das Oberlandesgericht nicht weiter aufgeklärt hat, ob der Gefahr eines erneuten

Suizidversuchs des Betroffenen hinreichend Rechnung getragen ist, indem es insbesondere zur Frage der Transport- und Haftfähigkeit kein Sachverständigengutachten eingeholt hat, obwohl die Ärzte im Straf- und Maßregelvollzug von einem hohen Suizidrisiko ausgegangen sind und deshalb von einer Auslieferung dringend abgeraten haben und obwohl nach einer Mitteilung der türkischen Behörden unklar geblieben ist, ob die in der dortigen Haft angebotene psychologische Betreuung für eine adäquate Behandlung des Verfolgten ausreicht (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 4. Dezember 2023 [= HRRS 2024 Nr. 2]).

2. Hingegen konnte das Oberlandesgericht die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Verfolgten mit Blick auf die allgemeinen Haftbedingungen in der Türkei ohne Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht verneinen, nachdem es auf der Grundlage einer Stellungnahme des Auswärtigen Amtes zu der Feststellung gelangt war, dass in türkischen Haftanstalten EMRK-Standards grundsätzlich eingehalten werden könnten und dass Zusicherungen der Türkei belastbar seien, wonach der Verfolgte ausschließlich in solchen Anstalten untergebracht werde.

3. Bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Auslieferung haben die deutschen Gerichte zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze und das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz sowie – insbesondere im Auslieferungsverkehr mit Staaten, die nicht Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind – den nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren.

4. Dem ersuchenden Staat ist im Auslieferungsverkehr grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen. Dies gilt nicht nur gegenüber den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, sondern auch im allgemeinen völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr. Das Vertrauen kann jedoch durch entgegenstehende Tatsachen – wie etwa systemische Defizite im Zielstaat – erschüttert werden, angesichts derer gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die Mindeststandards nicht beachtet werden.

5. Völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen des ersuchenden Staates sind zwar grundsätzlich geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit einer Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird. Eine Zusicherung entbindet die Gerichte jedoch nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um die Situation im Zielstaat und so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können.

6. Zur Bindung der Gerichte an Recht und Gesetz gehört die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention. Sind für die Beurteilung eines Sachverhalts Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einschlägig, so sind die von diesem berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Würdigung einzubeziehen und es hat eine Auseinandersetzung mit den vom Gerichtshof gefundenen Abwägungsergebnissen stattzufinden.

7. Hat ein Verfolgter stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm im Falle der Auslieferung die reale Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung droht, weil die Möglichkeit einer ernsthaften und irreversiblen Gesundheitsverschlechterung infolge unzureichender Behandlungsmöglichkeiten und ein damit verbundenes intensives Leid beziehungsweise eine erhebliche Verkürzung der Lebenserwartung besteht, so obliegt es nach der Rechtsprechung des EGMR den Vertragsstaaten, das bestehende Risiko sorgfältig aufzuklären. Dabei sind sowohl die Bedingungen im Herkunftsland als auch individuelle Umstände zu berücksichtigen und allgemeine Quellen wie Berichte der Weltgesundheitsorganisation und namhafter Nichtregierungsorganisationen sowie vorhandene Atteste heranzuziehen.

8. Die Durchführung einer Auslieferung ohne angemessene Risikobeurteilung kann eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen, wenn gewichtige Gründe für eine fehlende Reisefähigkeit aufgrund einer physischen oder psychischen Erkrankung bestehen. Die Prüfung der mit der Auslieferung verbundenen spezifischen Risiken muss dabei auf einer aktuellen fachkundigen Einzelfallbeurteilung des Gesundheitszustands der betroffenen Person beruhen, die auch die Bedingungen der geplanten Übergabe in der spezifischen Auslieferungssituation berücksichtigt.

9. Die auslieferungsrechtliche Bewilligungsentscheidung ist einer isolierten verfassungsgerichtlichen Überprüfung nur zugänglich, wenn sie zulasten der Rechtsposition des Verfolgten von der vorangegangenen Zulässigkeitsentscheidung abweicht, weil dann im Rahmen des präventiven Rechtsschutzes nicht alle subjektiven öffentlichen Rechtspositionen berücksichtigt werden konnten und der von Art. 19 Abs. 4 GG gebotene Rechtsschutz nicht in hinreichendem Maße gewährt werden konnte.


Entscheidung

817. BVerfG 2 BvR 475/24 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 22. Mai 2024 (OLG Karlsruhe)

Kein Ausschluss von Bundesverfassungsrichtern von der Ausübung ihres Richteramtes betreffend ein missbräuchlich betriebenes Klageerzwingungsverfahren (eigene Betroffenheit bei Strafanzeige gegen den Richter; teleologische Reduktion der Ausschließungsvorschriften bei rechtsmissbräuchlichem Verhalten des Beschwerdeführers; Verwerfung unter Mitwirkung des betroffenen Richters; Übertragbarkeit der Rechtsprechung zur Richterablehnung).

§ 18 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG; § 19 Abs. 1 BVerfGG; § 172 Abs. 2 StPO

1. Begehrt ein Beschwerdeführer mit seiner gegen die Verwerfung eines Klageerzwingungsantrags gerichteten Verfassungsbeschwerde die Strafverfolgung eines Richters des Bundesverfassungsgerichts, so ist dieser grundsätzlich von der Ausübung seines Richteramtes ausgeschlossen, weil er von der Sache unmittelbar rechtlich betroffen ist (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG).

2. Abweichendes gilt jedoch, wenn der formal verwirklichte Ausschlussgrund auf ein offensichtlich rechtsmissbräuchliches Verhalten des Beschwerdeführers

zurückgeht, weil dieser die Strafanzeige allein wegen der bloßen Mitwirkung des Richters an einer Entscheidung über die Nichtannahme einer früheren Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers erstattet hat, ohne auch nur ansatzweise Anhaltspunkte für ein möglicherweise strafbares Verhalten aufzuzeigen.

3. Ebenso wie bei missbräuchlichen Ablehnungsgesuchen ist in derartigen Fällen unter Mitwirkung des abgelehnten Richters zu entscheiden. Dies gilt auch mit Rücksicht auf das ansonsten drohende Risiko einer missbräuchlichen Herbeiführung der Beschlussunfähigkeit des jeweiligen Spruchkörpers des Bundesverfassungsgerichts.