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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
November 2019
20. Jahrgang
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1. Bei einer Verurteilung wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung (§ 244 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4 StGB) kann regelmäßig ohne Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot (§ 46 Abs. 3 StGB) strafschärfend zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt werden, dass die Geschädigten durch die Tat psychisch erheblich beeinträchtigt wurden. § 244 Abs. 4 StGB setzt den Eintritt psychischer Beeinträchtigungen tatbestandlich nicht voraus. Jedenfalls dann, wenn eine gewisse Erheblichkeit solcher Beeinträchtigungen festgestellt wird, sind sie auch nicht ohne Weiteres regelmäßige Folge der Tatbestandsverwirklichung.
2. Sind an einer Deliktserie mehrere Personen als Mittäter beteiligt, ist bei jedem Beteiligten gesondert zu prüfen und zu entscheiden, ob die einzelnen Taten tateinheitlich oder tatmehrheitlich zusammentreffen. Maßgeblich ist dabei der Umfang des erbrachten Tatbeitrags. Leistet ein Mittäter für alle oder einige Einzeltaten einen individuellen, nur je diese fördernden Tatbeitrag, so sind ihm diese Taten - soweit keine natürliche Handlungseinheit vorliegt - als tatmehrheitlich begangen zuzurechnen.
3. Fehlt es an einer individuellen Tatförderung durch einen Mittäter, erbringt dieser aber im Vorfeld oder während des Laufs der Deliktserie Tatbeiträge, durch die alle oder mehrere Einzeltaten seiner Tatgenossen gleichzeitig gefördert werden, sind ihm die gleichzeitig geförderten einzelnen Straftaten als tateinheitlich begangen zuzurechnen, da sie in seiner Person durch den einheitlichen Tatbeitrag zu einer Handlung im Sinne des § 52 Abs. 1 StGB verknüpft werden. Ohne Bedeutung ist dabei, ob die Mittäter die einzelnen Delikte tatmehrheitlich begangen haben.
1. Die Erheblichkeit drohender Taten kann sich ohne Weiteres aus dem Anlassdelikt selbst ergeben, etwa bei Verbrechen. Ist dies nicht der Fall, kommt es grundsätzlich auf die zu befürchtende konkrete Ausgestaltung der Taten an. Zu erwartende Gewalt- und Aggressionsdelikte sind, soweit es sich nicht um bloße Bagatellen handelt,
regelmäßig zu den erheblichen Taten zu rechnen. Der Tatrichter hat die der Unterbringungsanordnung zugrundeliegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen. An die Darlegungen sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr es sich bei dem zu beurteilenden Sachverhalt unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) um einen Grenzfall handelt.
2. Zwar ist es als gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten anzusehen, wenn ein Täter trotz bestehenden Defekts über einen längeren Zeitraum hinweg keine erheblichen Straftaten begangen hat, diesem Umstand kann indes keine Bedeutung zukommen, wenn der Täter an der Begehung von Straftaten durch Sicherungsmaßnahmen gehindert war.
3. Verhaltensweisen innerhalb einer Betreuungseinrichtung gegenüber dem Pflegepersonal können nicht ohne Weiteres denjenigen Handlungen gleichgesetzt werden, die ein Täter außerhalb einer solchen Einrichtung begeht. Das bedeutet allerdings nicht, dass Aggressions- und Gewaltdelikte als Grundlage für die Annahme einer Allgemeingefährlichkeit eines Beschuldigten ausscheiden, weil sie in einer Betreuungseinrichtung begangen wurden. Jeder ist als Einzelner Mitglied der zu schützenden Allgemeinheit. Dementsprechend genügt es für eine Gefährlichkeit im Sinne des § 63 StGB, wenn vom Täter erhebliche rechtswidrige Taten nur gegen einen begrenzten Personenkreis oder sogar nur gegen eine Einzelperson zu erwarten sind.
4. Auch in solchen Fällen ist, wie stets, die zur Beurteilung der Gefährlichkeit notwendige Prognose auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln. Einzustellen sind insbesondere die konkrete Krankheits- und Kriminalitätsentwicklung sowie die auf die Person des Angeklagten und seine konkrete Lebenssituation bezogenen Risikofaktoren, die eine individuelle krankheitsbedingte Disposition zur Begehung von Straftaten jenseits der Anlasstaten belegen.
5. Taten, die in einer Unterbringung begangen werden sind nicht „in der Regel“ als rechtlich unerheblich anzusehen. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Taten ihre Ursache (auch) in der durch die Unterbringung für den Betreffenden begründeten Ausnahmesituation haben.
6. Neben der konkreten Art der drohenden Taten und dem Gewicht der jeweils bedrohten Rechtsgüter können auch die zu erwartende Häufigkeit und Rückfallfrequenz von Bedeutung sein. Neben einer qualitativen Bewertung kann also ergänzend auch eine quantitative Betrachtung anzustellen sein. Je höher die zu erwartende Rückfallfrequenz ist, desto eher kommen, in Grenzen, auch Abstriche bei der auf die einzelne Tat bezogenen schweren Verletzungsfolgen in Betracht, wobei maßgeblich ist, inwieweit sich aus der Art der konkret drohenden Taten und der zu erwartenden Rückfallfrequenz insgesamt eine schwere Störung des Rechtsfriedens ergibt.
1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Betroffene infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten der in § 63 Satz 1 StGB genannten Art begehen wird; eine nur latente Gefahr oder die bloße Möglichkeit künftiger Tatbegehungen genügt insoweit nicht.
2. Die Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten infolge seines Zustandes drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt.
3. Maßgebender Beurteilungszeitpunkt für die Gefährlichkeitsprognose ist die Situation im Zeitpunkt des Urteils. Dies bedeutet aber nicht, dass die Gefährlichkeitsprognose nur auf den Zeitpunkt der Entscheidung zu stellen ist; sie muss vielmehr einen längeren Zeitraum in den Blick nehmen. In Fällen, in denen auf Grund einer zwischenzeitlichen Behandlung im Urteilszeitpunkt eine Stabilisierung des Krankheitsbilds eingetreten ist, ist deshalb im Interesse der öffentlichen Sicherheit der Umstand in die Prognoseentscheidung einzustellen, dass in späterer, aber absehbarer Zeit mit einer erneuten Verschlechterung des Gesundheitszustands und der Wahrscheinlichkeit erneuter rechtswidriger Taten zu rechnen ist. Mögliche negative Entwicklungen, die in einem zeitlichen Abstand von mehreren Jahren oder in ungewisser Zukunft zu erwarten sind, vermögen die Annahme der Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit jedoch regelmäßig nicht zu tragen.
1. Die gemäß § 154a StPO wegbeschränkten Tatteile dürfen zwar nicht beträchtlich ins Gewicht fallen. Jedoch kommt es nicht darauf an, wie gewichtig der beschränkte Teil für sich genommen ist, sondern wie gewichtig sich der Wegfall im Verhältnis zur Bezugssanktion im konkreten Einzelfall auswirkt. Daher können auch abstrakt bedeutsame Tatbestände durch die Beschränkung entfallen.
2. Nach § 354 Abs. 1 StPO (analog) kann das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit einem Antrag der Staatsanwaltschaft beim Revisionsgericht auch auf die gesetzlich niedrigste Strafe erkennen, wobei diese auch dem Normalstrafrahmen entnommen werden kann, wenn sicher auszuschließen ist, dass das Tatgericht einen Sonderstrafrahmen angewendet hätte.
Auch eine Offenbarung von Wissen durch einen Tatbeteiligten erst nach einer Selbstanzeige eines anderen Beteiligten kann noch wesentliches Gewicht für die Aufklärung der Taten des anderen Beteiligten nach § 46b StGB zukommen, wenn hierdurch wichtige Tatsachen oder Beweise kundgetan werden oder den bereits vorhandenen Erkenntnissen eine sicherere Grundlage verschafft wird.
1. Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB kommt als außerordentlich beschwerende Maßnahme nur dann in Betracht, wenn eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind. Zudem ist eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung solcher Taten erforderlich. Die Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu stellen.
2. Die allseitige Kognitionspflicht (§ 264 StPO) gebietet, dass der – durch die zugelassene Anklage bzw. Antragsschrift abgegrenzte – Prozessstoff durch vollständige rechtliche Würdigung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, so stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar.
3. Eine versuchte schwere Brandstiftung durch Unterlassen in einem bewohnten, überwiegend mit Holzmöbeln ausgestatteten Zimmer begründet eine hinreichend schwere Anlasstat für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 Satz 1 StGB.
Bei einem mit Tötungsabsicht handelnden Täter ist das Fehlen von Erschütterung unmittelbar nach der Tat keineswegs erwartungswidrig und lässt daher keinen validen Rückschluss auf eine besondere innere Einstellung des Täters zu der Tat oder dem von ihm schuldhaft verwirklichten Unrecht zu. Eine strafschärfende Berücksichtigung dieses Umstands kommt unter diesen Voraussetzungen daher nicht in Betracht.
Bei der Wesentlichkeit der Aufklärungshilfe handelt es sich um einen Rechtsbegriff, der revisionsgerichtlicher Prüfung unterliegt. Sie ist zu bejahen, wenn die Tat ohne den Aufklärungsbeitrag nicht oder nicht im gegebenen Umfang aufgeklärt worden wäre, die Aussage des Angeklagten jedenfalls aber eine sicherere Grundlage für die Aburteilung des Tatbeteiligten schafft, indem sie den Strafverfolgungsbehörden die erforderliche Überzeugung vermittelt, dass ihre bisherigen Erkenntnisse zutreffen.
1. Entscheidend für das Vorliegen eines minder schweren Falles (hier: des Totschlags) ist, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem so erheblichen Maße abweicht, dass die Anwendung dieses Strafrahmens geboten erscheint. Für die Prüfung der Frage ist eine Gesamtbetrachtung erforderlich, bei der alle Umstände heranzuziehen und zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen.
2. Auch wenn dies nicht bedeutet, dass jeder derartige Umstand der ausdrücklichen Erörterung in den Urteilsgründen bedarf und die Nichterörterung stets einen Rechtsfehler begründet, so ist das Gericht doch verpflich-
tet, in den Urteilsgründen die für die Strafzumessung bestimmenden Umstände darzulegen. Danach ist regelmäßig insbesondere einbeziehen und zu erörtern, wenn der Angeklagte in einer objektiven Notwehrlage handelte, auch wenn die Verteidigung nicht erforderlich war und auch Voraussetzungen des § 33 StGB nicht erfüllt waren.
3. Die Strafbemessung ist zwar grundsätzlich Sache des Tatrichters, in die das Revisionsgericht nur bei Vorliegen eines Rechtsfehlers eingreifen darf. Ein solcher ist jedoch dann gegeben, wenn die Begründung für die verhängte Strafe dem Revisionsgericht die ihm obliegende sachlich-rechtliche Nachprüfung nicht ermöglicht, die Erwägungen des Tatrichters in sich fehlerhaft sind oder die Strafe sich von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, nach oben oder unten löst. Das gilt auch, soweit die tatrichterliche Annahme oder Verneinung eines minder schweren Falles zur revisionsgerichtlichen Prüfung steht.
§ 66 Abs. 1 StGB ist in der Fassung vom 22. Dezember 2010 bei bis zum 31. Mai 2013 begangenen Anlasstaten nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuwenden. Diese Voraussetzungen sind regelmäßig gewahrt, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus den konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Angeklagten abzuleiten ist. Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 1, § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB sind im Hinblick auf die für die Tatopfer oftmals gewichtigen psychischen Auswirkungen und die hohe Strafandrohung unabhängig von körperlicher Gewaltanwendung – unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls – grundsätzlich als schwere Sexualstraftaten in diesem Sinne zu werten.
Für die Anwendbarkeit des § 55 StGB ist der Zeitpunkt der letzten tatrichterlichen Sachentscheidung zur Schuld- oder Straffrage maßgebend, auch wenn eine Sache nach (teilweiser) Aufhebung einer ersten Verurteilung vom Revisionsgericht zurückverwiesen worden ist. Lediglich für den Vollstreckungsstand einer für die nachträgliche Gesamtstrafenbildung in Betracht kommenden Vorstrafe gilt Abweichendes. Diesbezüglich ist auf den Zeitpunkt des früheren, in der Revisionsinstanz (teil-)aufgehobenen Urteils abzustellen, sollte die Strafe später vollstreckt worden sein. Denn dem Angeklagten soll durch sein Rechtsmittel nicht der einmal erlangte Rechtsvorteil der nachträglichen Gesamtstrafenbildung genommen werden.