HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2019
20. Jahrgang
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V. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete


Entscheidung

1197. BGH 1 StR 346/18 - Beschluss vom 24. September 2019 (LG Augsburg)

BGHSt; Vorenthalten und Veruntreuen von Sozialversicherungsbeiträgen (Begriff des Arbeitgebers; Vorsatz: erforderliches Nachvollziehen der Wertungen des Arbeits- und Sozialversicherungsrecht, erforderliche Vorstellung hinsichtlich der Arbeitgeberstellung); Steuerhinterziehung (Berechnung der vorenthaltenen Lohnsteuer bei Schwarzarbeit: anzuwendende Lohnsteuerklasse).

§ 266a StGB; § 15 StGB; § 16 StGB; § 370 Abs. 1 AO

1. Vorsätzliches Handeln ist bei pflichtwidrig unterlassenem Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a Abs. 1 und 2 StGB) nur dann anzunehmen, wenn der Täter auch die außerstrafrechtlichen Wertungen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts – zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre – nachvollzogen hat, er also seine Stellung als Arbeitgeber und die daraus resultierende sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen hat. (BGHSt)

2. Irrt der Täter über seine Arbeitgeberstellung oder die daraus resultierende Pflicht zum Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen, liegt ein Tatbestandsirrtum vor; an seiner entgegenstehenden, von einem Verbotsirrtum ausgehenden Rechtsprechung hält der Senat nicht fest. (BGHSt)

3. Ob eine Person Arbeitgeber ist, richtet sich nach dem Sozialversicherungsrecht. Der Beurteilung, die aufgrund einer Vielzahl von Kriterien zu erfolgen hat (unter anderem das Maß der Eingliederung des die Dienste Leistenden in den Betrieb, das Bestehen eines Direktionsrechts bezüglich Zeit, Dauer, Ort und Ausführung der Dienstleistung, das Vorliegen eines eigenen unternehmerischen Risikos des die Dienste Leistenden), kann eine komplexe Wertung zugrunde liegen, wobei sich die Ergebnisse, da die Kriterien im Einzelfall unterschiedliches Gewicht haben können, nicht immer sicher vorhersehen lassen. Entscheidend für die Abgrenzung von unselbständiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit sind – ausgehend vom Vertragsverhältnis der Beteiligten – die tatsächlichen Gegebenheiten der „gelebten Beziehung“, die einer wertenden Gesamtbetrachtung zu unterziehen sind (st. Rspr.). (Bearbeiter)

4. Ob ein Arbeitgeber seine entsprechende Stellung und das Bestehen hieraus folgender sozialversicherungsrechtlicher Abführungspflichten für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat, muss vom Tatgericht im Rahmen der Beweiswürdigung im Einzelfall anhand der konkreten Tatumstände geklärt werden. Hierbei kann zunächst Bedeutung erlangen, wie eindeutig die Indizien sind, die – im Rahmen der außerstrafrechtlichen Wertung – für das Vorliegen einer Arbeitgeberstellung sprechen. Zudem kann von Relevanz sein, ob und inwiefern der Arbeitgeber im Geschäftsverkehr erfahren ist oder nicht und ob das Thema illegaler Beschäftigung in der jeweiligen Branche im gegebenen zeitlichen Kontext gegebenenfalls vermehrt Gegenstand des öffentlichen Diskurses war. Ein gewichtiges Indiz kann daneben überdies sein, ob das gewählte Geschäftsmodell von vornherein auf Verschleierung oder eine Umgehung von sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen ausgerichtet ist. Jedenfalls bei Kaufleuten, die als Arbeitgeber zu qualifizieren sind, sind auch die im Zusammenhang mit ihrem Gewerbe bestehenden Erkundigungspflichten in Bezug auf die arbeits- und sozialrechtliche Situation in den Blick zu nehmen, weil eine Verletzung einer Erkundigungspflicht auf die Gleichgültigkeit des Verpflichteten hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflicht hindeuten kann. (Bearbeiter)

5. Zwar ist vollumfänglich illegaler Beschäftigungsverhältnisse der Umfang hinterzogener Lohnsteuer grundsätzlich anhand des Eingangssteuersatzes der Lohnsteuerklasse VI zu bestimmen (vgl. BGHSt 56, 153 Rn. 16

ff.). Dies gilt jedoch hinsichtlich des der Strafzumessung zu Grunde zu legenden Schadens dann nicht, wenn die tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitnehmer bekannt waren oder ohne weiteres hätten festgestellt werden können, was insbesondere dann der Fall ist, wenn die Arbeitnehmer durch das Tatgericht zeugenschaftlich vernommen werden. In diesen Fällen ist eine unterschiedliche Behandlung im Vergleich zu den Konstellationen der Teilschwarzlohnzahlungen oder der Lohnsteuerhinterziehung auf nicht gerechtfertigt, so dass der Umfang hinterzogener Sozialversicherungsbeiträge anhand der tatsächlich gegebenen Lohnsteuerklasse der Pflegekräfte hätte ermittelt werden müssen. (Bearbeiter)


Entscheidung

1166. BGH 1 StR 107/18 - Urteil vom 23. Juli 2019 (LG Hildesheim)

BGHSt; Inverkehrbringen bedenklicher Arzneimittel (Begriff der Bedenklichkeit, erforderlicher Vorsatz hinsichtlich zugrunde liegender tatsächlicher Umstände); Einziehung (Umfang: Berücksichtigung von Aufwendungen des Täters, wenn er das Verbotensein seiner Tat fahrlässig verkennt).

§ 95 Abs. 1 Nr. 1 AMG; § 5 Abs. 2 AGM; § 15 StGB; § 16 StGB

1. Um den sozialen Bedeutungsgehalt der Bedenklichkeit eines Arzneimittels zu erfassen, bedarf es auch der Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die für die Abwägung des Verhältnisses zwischen dem bekannten Risiko und dem Nutzen von Relevanz sind. Diese muss der Täter nach einer Parallelwertung in der Laiensphäre richtig in sein Vorstellungsbild aufgenommen haben, um einen Vorsatzschuldvorwurf zu begründen. (BGHSt)

2. Verkennt der Täter das Verbotene des von ihm vorgenommenen Geschäfts fahrlässig, tätigt er die ihm entstandenen Aufwendungen nicht bewusst für eine Straftat im Sinne des § 73d Abs. 1 Satz 2 StGB, so dass sie für das Geschäft bei der Bestimmung des Erlangten zu berücksichtigen sind. (Bearbeiter)


Entscheidung

1150. BGH 4 StR 189/19 - Beschluss vom 7. August 2019 (LG Essen)

BGHSt; mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen (keine analoge Anwendung bei Verurteilung wegen als Erwachsener begangener Taten, bei gleichzeitigem Absehen von Verfolgung hinsichtlich weiterer Taten, die der Angeklagte bereits als Heranwachsender begangen hat).

§ 32 Satz 1 JGG; § 105 Abs. 1 JGG; § 154 Abs. 1 StPO

1. Wird der Angeklagte (nur) wegen Taten verurteilt, die er als Erwachsener begangen hat, hatte die Staatsanwaltschaft jedoch hinsichtlich weiterer Taten, die der Angeklagte bereits als Heranwachsender begangen hatte, von einer Verfolgung gemäß § 154 Abs. 1 StPO abgesehen, kommt eine analoge Anwendung des § 32 Satz 1 JGG i.V.m. § 105 Abs. 1 JGG nicht in Betracht. (BGHSt)

2. Zwar hat der 1. Strafsenat in einer solchen Verfahrenskonstellation im nicht tragenden Teil einer Entscheidung unter Hinweis auf obergerichtliche Rechtsprechung und Literaturmeinungen eine entsprechende Anwendung des § 32 Satz 1 JGG befürwortet. Dieser Auffassung vermag der Senat aber nicht zu folgen. (Bearbeiter)


Entscheidung

1178. BGH 1 StR 208/19 - Beschluss vom 5. Juni 2019 (LG Berlin)

BGHR; Einziehung (erlangtes Etwas bei Umsatzsteuerhinterziehung im Rahmen von Scheinlieferungen).

§ 73 Abs. 1 StGB; § 73c StGB; § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO; § 14c UStG

1. Bei der Hinterziehung von Umsatzsteuer im Rahmen einer Scheinlieferbeziehung kommt eine Einziehung des Wertes von Taterträgen (§ 73 Abs. 1, § 73c StGB) in Höhe der entgegen § 14c Abs. 2 Satz 2 Alternative 2 UStG nicht angemeldeten Umsätze beim Aussteller der Scheinrechnungen nicht in Betracht, weil die unterlassene Steueranmeldung nicht dazu führt, dass sich ein Vermögensvorteil in dessen Vermögen niederschlägt. Ein gegebenenfalls abzuschöpfender Vermögensvorteil tritt nur im Vermögen desjenigen ein, der auf Grundlage von Scheinrechnungen unberechtigt (vgl. § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG) Vorsteuerabzüge geltend macht. (BGH)

2. In einem derartigen Fall kann grundsätzlich gegen den Aussteller der Rechnung auch nicht die Einziehung als Gesamtschuldner angeordnet werden. Regelmäßig hat dieser nämlich keine zumindest vorübergehend (Mit-)Verfügungsgewalt an den erlangten Vorsteuerabzügen. (Bearbeiter).


Entscheidung

1200. BGH 1 StR 551/18 - Beschluss vom 26. Juni 2019 (LG Kiel)

Untreue (Vermögensnachteil: Begriff des Gefährdungsschadens, erforderliche Darstellung im Urteil).

§ 266 Abs. 1 StGB; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

1. Ein Nachteil im Sinne von § 266 Abs. 1 StGB kann als sog. Gefährdungsschaden auch darin liegen, dass das Vermögen des Opfers aufgrund der bereits durch die Tathandlung begründeten Gefahr des späteren endgültigen Vermögensabflusses in einem Maße konkret beeinträchtigt wird, dass dies schon zu diesem Zeitpunkt eine faktische Vermögensminderung begründet. Jedoch darf dann die Verlustwahrscheinlichkeit nicht so diffus sein oder sich in so niedrigen Bereichen bewegen, dass der Eintritt eines realen Schadens letztlich nicht belegbar bleibt. Voraussetzung ist vielmehr, dass unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls der Eintritt eines Schadens so naheliegend erscheint, dass der Vermögenswert aufgrund der Verlustgefahr bereits gemindert ist. Unter diesen Voraussetzungen kann bereits in dem Abschluss wirtschaftlich nachteiliger Verträge eine vermögensnachteilsgleiche Vermögensgefährdung liegen.

2. Da der Vermögensnachteil ein selbstständiges, neben der Voraussetzung der Pflichtverletzung stehendes Tatbestandsmerkmal darstellt, ist dieser – von einfach gelagerten und eindeutigen Fällen abgesehen – eigenständig zu ermitteln, anhand üblicher Maßstäbe des Wirtschaftslebens zu konkretisieren und zu beziffern (st. Rspr.).


Entscheidung

1109. BGH 5 StR 394/19 - Beschluss vom 24. September 2019 (LG Kiel)

Anforderungen an die Feststellung eines Vermögensnachteils bei der Untreue (Verschleifungsverbot; messbare Vermögenseinbuße; objektive Umstände; bloße Änderung des Vorstellungsbildes des Treunehmers;

keine Umgehung der Straflosigkeit des Versuchs; Rechtsanwalt; Treuhandkonto).

§ 266 StGB; Art. 103 Abs. 2 GG;

1. Tätigt ein Rechtsanwalt, der als Treuhänder Fremdgeld auf einem Anderkonto verwaltet, eine Überweisung dieser Gelder, obwohl er im Sinne eines Eventualvorsatzes in Kauf nimmt, dass er durch diese Überweisungen seine Pflichten aus dem Treuhandvertrag verletzt, entsteht hierdurch regelmäßig kein Vermögennachteil i.S.d. § 266 StGB, wenn die Bank die Durchführung der Überweisungen verweigert. Denn unter diesen Umständen bleiben die Gelder als Sicherheit des Treugebers auf dem Konto; die bloße Änderung des Vorstellungsbildes des ursprünglich gutgläubigen Treuhänders vermag einen Nachteil nicht zu begründen, da sonst das Tatbestandsmerkmal des Vermögensnachteils mit demjenigen der Treupflichtverletzung verschleifen und die Straflosigkeit des Untreueversuchs umgangen würde.

2. Das Nachteilserfordernis in § 266 StGB beschränkt die Strafbarkeit auf Fälle, in denen ein bestimmter Handlungserfolg in Form einer messbaren Vermögenseinbuße vorliegt. Bei der Auslegung muss der gesetzgeberische Wille berücksichtigt werden, dieses Merkmal als selbständiges neben dem der Pflichtverletzung zu statuieren; sie darf daher dieses Tatbestandsmerkmal nicht mit dem Pflichtwidrigkeitsmerkmal verschleifen, das heißt, es in diesem Merkmal aufgehen lassen. Deswegen und um das Vollendungserfordernis zu wahren, sind eigenständige Feststellungen zum Vorliegen eines Nachteils geboten. Von einfach gelagerten und eindeutigen Fällen abgesehen, müssen die Strafgerichte den von ihnen angenommenen Nachteil der Höhe nach beziffern und dessen Ermittlung in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen darlegen (zum Ganzen BVerfG HRRS 2010 Nr. 656).


Entscheidung

1096. BGH 5 StR 205/19 - Beschluss vom 15. August 2019 (LG Braunschweig)

Betrug (Berechnung des Vermögensschadens bei Leasinggeschäften; Gesamtsaldierung; vertragliche Ansprüche; Saldierungszeitpunkt; irrtumsbedingte Verfügung; Konkurrenzen); Untreue (einverständliche Schädigung des Vermögenseiner GmbH; existenzgefährdender Eingriff); Insolvenzverschleppung (Zahlungsunfähigkeit; wirtschaftskriminalistische Methode).

§ 263 StGB; § 266 StGB; § 15a InsO

1. Beim Abschluss eines Leasingvertrags erfordert die zur Schadensbestimmung (§ 263 StGB) erforderliche Gesamtsaldierung, dass der Geldwert des vom Leasinggeber erworbenen Anspruchs auf die vom Leasingnehmer zu leistenden vertraglich vereinbarten Leasingraten unter Berücksichtigung des jeweiligen Ausfallrisikos bewertet und mit dem Geldwert der eingegangenen Verpflichtung durch den Leasinggeber verglichen wird (vgl. BGH HRRS 2019 Nr. 265).

2. Das verbleibende Eigentum an einem Leasingfahrzeug darf bei der Berechnung des Vermögensschadens nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn der Leasingnehmer von Anfang an beabsichtigt, dem Leasinggeber das Fahrzeug gänzlich zu entziehen und das Eigentum dadurch aus dessen Vermögen herauszunehmen (siehe BGH HRRS 2018 Nr. 286).

3. Einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung können im Einverständnis ihrer Gesellschafter grundsätzlich Vermögenswerte entzogen werden, weil sie gegenüber ihren Gesellschaftern keinen Anspruch auf ihren ungeschmälerten Bestand hat. Ein Einverständnis der Gesellschafter ist allerdings unwirksam und die Vermögensverfügung des Geschäftsführers deshalb missbräuchlich i.S.d. § 266 StGB, wenn unter Verstoß gegen Gesellschaftsrecht die wirtschaftliche Existenz der Gesellschaft gefährdet wird, etwa durch Beeinträchtigung des Stammkapitals entgegen § 30 GmbHG, durch Herbeiführung oder Vertiefung einer Überschuldung, durch Gefährdungen der Liquidität oder durch Entziehung der Produktionsgrundlagen (st. Rspr., vgl. etwa BGH HRRS 2013 Nr. 369 m.w.N.).


Entscheidung

1190. BGH 1 StR 273/17 - Beschluss vom 25. Juli 2019 (LG Aachen)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Arzneimitteln, die nur auf Verschreibung an Verbraucher abgegeben werden dürfen (Tateinheit: Annahme von Bewertungseinheit bei einer Erwerbshandlung).

§ 95 Abs. 1 Nr. 4 AMG; § 4 Abs. 17 AMG; § 52 StGB

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Bewertungseinheit im Betäubungsmittelstrafrecht, die für gleichgelagerte Konstellationen des Inverkehrbringens von Arzneimitteln entsprechend gilt, ist eine einheitliche Tat dann anzunehmen, wenn ein und derselbe Güterumsatz Gegenstand der strafrechtlichen Bewertung ist. Die Annahme einer Bewertungseinheit setzt allerdings konkrete Anhaltspunkte voraus, dass bestimmte Einzelverkäufe aus einer einheitlich erworbenen Gesamtmenge herrühren. Eine lediglich willkürliche Zusammenfassung ohne ausreichende Anhaltspunkte kommt nicht in Betracht; auch der Zweifelssatz gebietet in solchen Fällen nicht die Annahme einer einheitlichen Tat.

2. Insoweit kann beim unerlaubten Handeltreiben mit Arzneimitteln, die nur auf Verschreibung an Verbraucher abgegeben werden dürfen, auf etwaige Erwerbshandlungen abgestellt werden. wenngleich der Erwerb nach der Legaldefinition des § 4 Abs. 17 AMG noch nicht als Tathandlung anzusehen ist. Denn durch diese wird ein Vorrat angelegt und damit das gemäß dieser Vorschrift als Inverkehrbringen anzusehende Vorrätighalten zum Verkauf begründet.


Entscheidung

1188. BGH 1 StR 265/18 - Urteil vom 10. Juli 2019 (LG Lübeck)

Steuerhinterziehung (Umfang der Steuerverkürzung: zulässige Schätzung auf Grundlage von Rohgewinnaufschlagsätzen; Vorsatz: Steueranspruchstheorie; Tatmehrheit bei Abgabe mehrerer Steuererklärungen durch eine Handlung); leichtfertige Steuerverkürzung (Voraussetzungen der Leichtfertigkeit bei gewerblich oder freiberuflich Tätigen).

§ 370 Abs. 1 AO; § 378 Abs. 1 AO; § 15 StGB; § 16 Abs. 1 S. 1 StGB

1. Ist eine konkrete Berechnung der Umsätze und Gewinne eines Unternehmens nicht möglich und kommen

ausgehend von der vorhandenen Tatsachenbasis andere Schätzungsmethoden nicht in Betracht, darf das Tatgericht die Besteuerungsgrundlagen gestützt auf die Richtwerte für Rohgewinnaufschlagsätze aus der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen pauschal schätzen (st. Rspr.). Da es sich bei der Anwendung der Richtsätze aber generell um ein eher grobes Schätzungsverfahren handelt und die Sätze auf bundesweite Prüfungsergebnisse zurückgehen, müssen auch bei dieser Schätzungsmethode die festgestellten Umstände des Einzelfalls, namentlich die örtlichen Verhältnisse und die Besonderheiten des Gewerbebetriebs, in den Blick genommen werden.

2. Das Tatgericht muss sich bei der Beweiswürdigung zum Rohgewinnaufschlagsatz zwar einerseits nicht zugunsten eines Angeklagten an den unteren Werten der in der Richtsatzsammlung genannten Spannen orientieren, wenn sich Anhaltspunkte für eine positivere Ertragslage ergeben, wie etwa sonst nicht erklärbare Vermögenszuwächse. Soweit Zweifel verbleiben, darf das Tatgericht aber andererseits auch nicht ohne Weiteres einen als wahrscheinlich angesehenen Wert aus der Richtsatzsammlung zugrunde legen, sondern muss einen als erwiesen angesehenen Mindestschuldumfang feststellen.

3. Leichtfertig im Sinne des § 378 Abs. 1 AO handelt, wer die Sorgfalt außer Acht lässt, zu der er nach den besonderen Umständen des Einzelfalls und seinen persönlichen Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist, obwohl sich ihm aufdrängen musste, dass dadurch eine Steuerverkürzung eintreten wird. Jeder Steuerpflichtige muss sich über diejenigen steuerlichen Pflichten unterrichten, die ihn im Rahmen seines Lebenskreises treffen. Dies gilt im besonderen Maße in Bezug auf solche steuerrechtlichen Pflichten, die aus der Ausübung eines Gewerbes oder einer freiberuflichen Tätigkeit erwachsen. Bei einem Kaufmann sind deshalb jedenfalls bei den Rechtsgeschäften, die zu seiner kaufmännischen Tätigkeit gehören, höhere Anforderungen an die Erkundigungspflichten zu stellen als bei anderen Steuerpflichtigen. In Zweifelsfällen hat er von sachkundiger Seite Rat einzuholen und einen als zuverlässig und erfahren bekannten Angehörigen der steuerberatenden Berufe hinzuzuziehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn er die erkannte Steuerpflichtigkeit eines Geschäfts durch eine modifizierte Gestaltung des Geschäfts zu vermeiden sucht. Zudem ist es Steuerpflichtigen regelmäßig möglich und zumutbar, offene Rechtsfragen nach Aufdeckung des vollständigen und wahren Sachverhalts im Besteuerungsverfahren zu klären.


Entscheidung

1184. BGH 1 StR 225/19 - Beschluss vom 21. August 2019 (LG Hanau)

Einziehung (erlangtes Etwas bei der Steuerhinterziehung; hier: Hinterziehung von Tabaksteuer); Steuerhinterziehung durch Unterlassen (steuerrechtliche Erklärungspflicht als strafbegründendes besonderes persönliches Merkmal).

§ 73 Abs. 1 StGB; § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO; § 28 Abs. 1 StGB

1. Beim Delikt der Steuerhinterziehung kann die verkürzte Steuer „erlangtes Etwas“ im Sinne von § 73 Abs. 1 StGB sein, weil sich der Täter Aufwendungen für diese Steuern erspart (st. Rspr.). Dies gilt jedoch nicht schlechthin, weil die Einziehung an einem durch die Tat tatsächlich beim Täter eingetretenen Vermögensvorteil anknüpft und damit mehr als die bloße Tatbestandserfüllung voraussetzt.

2. Im Hinblick auf den Charakter der Tabaksteuer als Verbrauch- bzw. Warensteuer ergibt sich ein unmittelbarer messbarer wirtschaftlicher Vorteil nur, soweit sich die Steuerersparnis im Vermögen des Täters dadurch niederschlägt, dass er aus den Tabakwaren, auf die sich die Hinterziehung der Tabaksteuern bezieht, einen Vermögenszuwachs erzielt, beispielsweise in Form eines konkreten Vermarktungsvorteils. Offene Steuerschulden begründen hingegen nicht stets über die Rechtsfigur der ersparten Aufwendungen einen Vorteil im Sinne des § 73 Abs. 1 StGB. Maßgeblich bleibt immer, dass sich ein Vorteil im Vermögen des Täters widerspiegelt. Nur dann hat der Täter durch die ersparten Aufwendungen auch wirtschaftlich etwas erlangt.


Entscheidung

1168. BGH 1 StR 154/19 - Beschluss vom 11. Juli 2019 (LG Leipzig)

Umsatzsteuerhinterziehung (Zeitpunkt der Tatbeendigung bei Einreichung einer unrichtigen Umsatzsteuerjahreserklärung).

§ 370 Abs. 1 AO; § 19 Abs. 3 AO

Die Hinterziehung der Umsatzsteuer ist bei Einreichung einer unrichtigen Umsatzsteuer-Jahreserklärung beendet, wenn die Erklärung beim Finanzamt eingeht, in Erstattungsfällen jedoch erst dann, wenn von Seiten des Finanzamts die entsprechende Zustimmung erteilt wurde.


Entscheidung

1106. BGH 5 StR 325/19 - Urteil vom 12. September 2019 (LG Hamburg)

Strafschärfende Berücksichtigung einer vom Vorsatz nicht erfassten Rauschgiftmenge bei der Einfuhr von Betäubungsmitteln (Fahrlässigkeit; Vorhersehbarkeit; Risiko für das Rechtsgut; Kurierfahrt mit großem Lieferfahrzeug; keine eigene Kenntnis des Rauschgiftverstecks).

§ 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG; § 30a Abs. 1 BtMG; § 46 StGB

1. Führt der Täter eine Rauschgiftmenge ein, die tatsächlich größer ist, als er sich vorstellt, darf die von seinem Vorsatz nicht erfasste Mehrmenge nur dann als tatschulderhöhend gewertet und mithin als strafschärfend berücksichtigt werden, wenn ihn insoweit der Vorwurf der Fahrlässigkeit trifft. Ob das der Fall ist, bestimmt sich nach den vom Täter in der konkreten Lebenssituation zu erbringenden Sorgfaltsanforderungen. Vorhersehbar ist, was der Täter nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten in der konkreten Tatsituation als möglich hätte vorhersehen können, sofern sich die eingetretenen Folgen innerhalb der Lebenserfahrung bewegen; sie müssen nicht in allen Einzelheiten vorhersehbar sein.

2. Dem Täter kann insoweit auch zur Last gelegt werden, dass er in einer Situation gehandelt hat, obwohl die möglichen Folgen für ihn ungewiss und nicht voraussehbar waren. In diesem Zusammenhang ist besonders von Belang, inwieweit der Täter Veranlassung hatte anzu-

nehmen, sein Verhalten sei in Hinblick auf das geschützte Rechtsgut riskant. Wer sich mit einem großen Lieferfahrzeug auf eine Kurierfahrt begibt, hat in diesem Sinne regelmäßig Anlass zu der Annahme, dass sich in dem Fahrzeug auch größere Drogenmengen von mehreren hundert Kilo befinden können. Das gilt auch dann, wenn der Täter das Rauschgiftversteck nicht selbst untersuchen und prüfen kann.


Entscheidung

1094. BGH 5 StR 196/19 - Beschluss vom 27. August 2019 (LG Berlin)

Verbringung erlaubnispflichtiger Schusswaffen in den Geltungsbereich des Waffengesetzes (Internethandel aus dem Ausland; Transportunternehmen; Handeltreiben; Überlassen; mittelbare Täterschaft; Tateinheit; Konkurrenzen; Handlungsort).

§ 52 WaffG; § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB; § 52 StGB

1. Das in § 2 Abs. 2 i.V.m. § 1 Abs. 3, § 21 Abs. 1 S. 1 WaffG geregelte Gebot, Waffenhandel nur mit behördlicher Erlaubnis vorzunehmen, an das die Strafbarkeitsbestimmung des § 52 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c WaffG als Blankettnorm anknüpft, erfasst auch den an potenzielle Käufer in Deutschland gerichteten Internethandel mit Waffen aus dem Ausland.

2. Werden unter Einschaltung eines (gutgläubigen) Transportunternehmers erlaubnispflichtige Waffen aus dem Ausland nach Deutschland verbracht, liegt in der Person des den Transport veranlassenden Täters ein inländischer Handlungsort vor. Das Handeln des Transportunternehmers wird insoweit dem Hintermann im Sinne einer mittelbaren Täterschaft zugerechnet.

3. Zwischen dem unerlaubten Handeltreiben mit Schusswaffen und ihrem unerlaubten Verbringen in den Geltungsbereich des Waffengesetzes besteht regelmäßig Tateinheit. Das Verbringen tritt nicht hinter dem Handeltreiben zurück.


Entscheidung

1177. BGH 1 StR 206/19 - Beschluss vom 7. Oktober 2019 (LG Nürnberg-Fürth)

Verhängung von Jugendstrafe (Strafzumessungserwägungen: Rechtfertigung einer länger als fünf Jahre andauernden Jugendstrafe nicht allein mit erzieherischen Gründen); Strafzumessung (Berücksichtigung des Einwirkens einer polizeilichen Vertrauensperson; Tatprovokation).

§ 18 Abs. 2 JGG; § 46 StGB; Art. 6 EMRK

1. Bei einer – unter anderem – wegen der Schwere der Schuld verhängten Jugendstrafe ist gemäß § 18 Abs. 2 JGG die Höhe der Strafe so zu bemessen, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist (st. Rspr). Die in den gesetzlichen Regelungen des allgemeinen Strafrechts zum Ausdruck gelangende Bewertung des Ausmaßes des in einer Straftat hervorgetretenen Unrechts ist zwar auch bei der Bestimmung der Höhe der Jugendstrafe zu berücksichtigen; keinesfalls darf aber die Begründung wesentlich oder gar ausschließlich nach solchen Zumessungserwägungen vorgenommen werden, die auch bei Erwachsenen in Betracht kommen. Die Bemessung der Jugendstrafe erfordert vielmehr von der Jugendkammer, das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folgen der Strafe für die weitere Entwicklung des Heranwachsenden abzuwägen.

2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs lässt sich eine länger als fünf Jahre andauernde Jugendstrafe allein erzieherisch in der Regel nicht begründen, weil eine Anstaltserziehung nur für eine Dauer von bis zu fünf Jahren Erfolg verspricht. Die Verhängung einer darüberhinausgehenden Jugendstrafe kann nur unter zusätzlicher Berücksichtigung anderer Strafzwecke – insbesondere des Schuldausgleichs – angezeigt sein.

3. Die Einwirkung einer polizeilichen Vertrauensperson auf den Täter, die diesen in erhöhte Tatschuld verstrickt, ist bei der Strafzumessung in der Regel zu würdigen – gleichgültig, ob sie sich in rechtsstaatlichem Rahmen gehalten oder ihn überschritten hat.


Entscheidung

1191. BGH 1 StR 282/19 - Beschluss vom 4. Oktober 2019 (LG Weiden i. d. OPf.)

Einschleusen von Ausländern (Begriff der das Leben gefährdenden Behandlung: erforderliche Feststellungen im Urteil).

§ 96 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

Das Merkmal einer das Leben gefährdenden Behandlung im Sinne des § 96 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG ist erfüllt, wenn die Behandlung, der der Ausländer während der Schleusung ausgesetzt ist, nach den Umständen des Einzelfalls geeignet ist, eine Lebensgefahr herbeizuführen; eine konkrete Gefährdung des Lebens muss dabei noch nicht eingetreten sein. Die Umstände, die eine das Leben gefährdende Behandlung des Geschleusten begründen, müssen dabei im Einzelnen festgestellt und belegt sein; insbesondere müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, woraus sich im konkreten Fall die Eignung der Behandlung zur Herbeiführung einer Lebensgefahr für den Geschleusten ergibt.


Entscheidung

1142. BGH 4 StR 21/19 - Beschluss vom 15. August 2019 (LG Bielefeld)

Fahren ohne Fahrerlaubnis (Dauerdelikt: keine Aufspaltung durch kurzzeitige Fahrtunterbrechungen).

§ 21 Abs. 1 Satz 1 StVG

Das Dauerdelikt des Fahrens ohne Fahrerlaubnis gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 StVG umfasst die gesamte von vornherein auch über eine längere Wegstrecke geplante Fahrt bis zu deren endgültigem Abschluss, ohne dass kurzzeitige Fahrtunterbrechungen zu einer Aufspaltung der einheitlichen Tat führen. Etwas anderes gilt nur, wenn die Fortsetzung der Fahrt auf einem neu gefassten Willensentschluss des Täters beruht.


Entscheidung

1179. BGH 1 StR 209/19 - Urteil vom 20. August 2019 (LG Coburg)

Unerlaubtes Einführen von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (minder schwerer Fall: Berücksichtigung der Gefährlichkeit des Rauschgifts).

§ 30 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 BtMG

Allein die Art des Rauschgifts ist für sich genommen nicht geeignet, einen minder schweren Fall nach § 30

Abs. 2 BtMG zu verneinen, da die herausgehobene Gefährlichkeit eines Suchtstoffes schon in die Bestimmung des Grenzwerts eingeflossen ist. Dieser Umstand relativiert auch das Gewicht, mit dem Art und Gefährlichkeit des Rauschgifts bei der Strafrahmenwahl nochmals Berücksichtigung erlangen können.