HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1156
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 342/19, Beschluss v. 13.08.2019, HRRS 2019 Nr. 1156
Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 26. März 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (§ 63 StGB), deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und eine isolierte Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis festgesetzt. Die hiergegen gerichtete und auf die ausgeführte Sachrüge gestützte Revision des Beschuldigten hat Erfolg.
Die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Gefährlichkeitsprognose ist nicht tragfähig begründet.
1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf nur angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, dass der Betroffene infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten der in § 63 Satz 1 StGB genannten Art begehen wird; eine nur latente Gefahr oder die bloße Möglichkeit künftiger Tatbegehungen genügt insoweit nicht (BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2011 - 5 StR 422/11, NStZ-RR 2012, 107, 108). Die Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 27. Februar 2019 - 4 StR 419/18, juris Rn. 11; vom 2. September 2015 - 2 StR 239/15, juris Rn. 9; vom 3. Juni 2015 - 4 StR 167/15, StV 2016, 724; vom 1. Oktober 2013 - 3 StR 311/13, NStZ-RR 2014, 42) und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten infolge seines Zustandes drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 2013 - 2 BvR 2957/12, Rn. 27; BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306).
Maßgebender Beurteilungszeitpunkt für die Gefährlichkeitsprognose ist die Situation im Zeitpunkt des Urteils (vgl. BGH, Urteile vom 28. März 2019 - 4 StR 530/18, Rn. 13; vom 23. Januar 2018 - 5 StR 488/17, Rn. 19; vom 10. August 2005 - 2 StR 209/05, NStZ-RR 2005, 370, 371). Dies bedeutet aber nicht, dass die Gefährlichkeitsprognose nur auf den Zeitpunkt der Entscheidung zu stellen ist; sie muss vielmehr einen längeren Zeitraum in den Blick nehmen (BGH, Urteile vom 3. August 2017 - 4 StR 193/17, StraFo 2017, 426; vom 30. August 1988 - 1 StR 358/88, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 6). In Fällen, in denen auf Grund einer zwischenzeitlichen Behandlung im Urteilszeitpunkt eine Stabilisierung des Krankheitsbilds eingetreten ist, ist deshalb im Interesse der öffentlichen Sicherheit der Umstand in die Prognoseentscheidung einzustellen, dass in späterer, aber absehbarer Zeit mit einer erneuten Verschlechterung des Gesundheitszustands und der Wahrscheinlichkeit erneuter rechtswidriger Taten zu rechnen ist (vgl. BGH, Urteile vom 11. Oktober 2018 - 4 StR 195/18, NStZ-RR 2019, 41, 42 f.; vom 3. August 2017 - 4 StR 193/17, StraFo 2017, 426; vom 30. August 1988 - 1 StR 358/88, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 6). Mögliche negative Entwicklungen, die in einem zeitlichen Abstand von mehreren Jahren oder in ungewisser Zukunft zu erwarten sind, vermögen die Annahme der Gefährlichkeit des Betroffenen für die Allgemeinheit jedoch regelmäßig nicht zu tragen.
2. Hieran gemessen begegnen die Erwägungen, mit denen das Landgericht die zur Maßregelanordnung führende Gefährlichkeitsprognose begründet hat, durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
Zwar ist das Landgericht im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Prognoseentscheidung die Hauptverhandlung ist, und dass die Gefährlichkeitsprognose längerfristig zu stellen ist. Das Landgericht hat als prognostisch günstig berücksichtigt, dass die Anlassdelikte nunmehr bereits mehr als fünfeinhalb Jahre zurückliegen und der an einer bipolaren affektiven Störung leidende Beschuldigte ungeachtet der fortbestehenden Erkrankung seither nicht mehr durch die Begehung rechtswidriger Taten aufgefallen ist. Darüber hinaus hat es in den Blick genommen, dass die Erkrankung zwar fortbesteht, aber derzeit remittiert ist. Die Annahme fortbestehender Gefährlichkeit hat das Landgericht - den Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen folgend - maßgeblich auf die Erwägung gestützt, dass die psychische Erkrankung nicht überwunden sei und die „sichere Erwartung eines Wiederauftretens manischer und depressiver Phasen früher oder später“ bestehe. Unsicherheit bestehe „allein hinsichtlich des Zeitpunkts neuerlicher Manifestationen dieser Zustände“. Ein neuerliches Wiederaufflammen der Erkrankung sei „in den nächsten Jahren“ zu erwarten, wenn der Beschuldigte sich keiner Behandlung unterziehe. Diese Ausführungen lassen offen, ob - wie von Rechts wegen erforderlich - in „absehbarer Zeit“, also in einem überschaubaren Zeitraum, mit einem Wiederaufflammen der Erkrankung und infolge dessen mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades mit der erneuten Begehung erheblicher rechtswidriger Taten zu rechnen ist. Damit bleibt letztlich sogar offen, ob innerhalb der vom Landgericht festgesetzten Bewährungszeit überhaupt mit einem Wiederaufflammen der Erkrankung zu rechnen ist, und die Maßregelanordnung erforderlich ist, um der vom Beschuldigten ausgehenden Gefahr wirksam zu begegnen.
3. Der Senat hebt das Urteil insgesamt auf, um dem neu zur Entscheidung berufenen Tatgericht insgesamt widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
1. Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird hinsichtlich der Anlasstat vom 11. Oktober 2013 Gelegenheit haben, sich genauer als bisher geschehen mit der Frage zu beschäftigen, ob der für die Verwirklichung des Tatbestands des § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB erforderliche Gefahrverwirklichungszusammenhang zwischen der Tathandlung verkehrswidrigen Überholens und der Gefährdung des betroffenen Verkehrsteilnehmers gegeben ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. März 2018 - 4 StR 469/17, NStZ 2019, 215, 216, vom 22. November 2016 - 4 StR 501/16, juris Rn. 6). Die bisher getroffenen Feststellungen, die sich auf die Mitteilung beschränken, dass der Beschuldigte sein Fahrzeug „nach links halb vor das Fahrzeug des Geschädigten Z.“ gezogen habe, um ihn „jedenfalls“ zu einem scharfen Abbremsen seines Fahrzeugs zu zwingen, belegen dies nicht zweifelsfrei.
2. Auch die Erwägungen, mit denen das Landgericht - abweichend von den Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen - seine Annahme begründet hat, der Beschuldigte sei „aufgrund Wahnerlebens“ nicht in der Lage gewesen, das Unrecht seines Tuns einzusehen (§ 20 StGB), sind nicht nachvollziehbar. Ausführungen dazu, in welcher Weise sich das vom Landgericht angenommene „Wahnerleben“ bei Begehung der Anlasstat konkret auf die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten ausgewirkt hat, fehlen. Es erschließt sich auch nicht, aus welchen Gründen das Landgericht von der Einschätzung der Sachverständigen, die von erhaltener Unrechtseinsicht, aber einer Aufhebung der Steuerungsfähigkeit ausgegangen ist, abgewichen ist.
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1156
Externe Fundstellen: StV 2021, 244
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner