HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2019
20. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

429. BGH 3 ARs 10/18 - Beschluss vom 6. Februar 2019

Beweiserhebung durch Aktenvorlage im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit; Untersuchungsauftrag; Antwortpflicht der Bundesregierung; Vorlage von bereits dem parlamentarischen Kontrollgremium bereitgestellten Informationen; Geheimhaltung; Entscheidung der Bundesregierung; keine Schmälerung der Rechte des Bundestags durch Schaffung des Kontrollgremiums; Verschwiegenheitspflicht; Öffentlichkeit der Beweisaufnahme im Untersuchungsausschuss; Gefährdung des Staatswohls; kein Erlass des Beweisbeschlusses durch den Ermittlungsrichter).

Art. 44 GG; § 10 Abs. 1 PKGrG; § 13 PUAG; § 17 PUAG; § 18 PUAG

1. Das in Art. 44 GG gewährleistete Untersuchungsrecht gehört zu den ältesten und wichtigsten Rechten des Parlaments, das die Möglichkeit zu der Sachverhaltsaufklärung schafft, die das Parlament zur Wahrung seiner Kontrollfunktion gegenüber der ihm verantwortlichen Regierung benötigt. Dabei gilt das Gebot der Wirksamkeit parlamentarischer Kontrolle, die unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes effektiver Opposition auch die im Grundgesetz vorgesehenen Minderheitenrechte einschließt.

2. Das Recht auf Aktenvorlage gehört zum Kern des Untersuchungsrechts. Der Anspruch auf Vorlage von Akten im Verantwortungsbereich der Regierung folgt nicht lediglich aus dem Recht auf Amtshilfe gemäß Art. 44 Abs. 3 GG; er ist Bestandteil des Kontrollrechts aus Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG und des Rechts der Beweiserhebung nach Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG. Der Untersuchungsausschuss muss sich nicht mit Aktenauskünften zufrieden geben oder sein Verlangen auf bestimmte Aktenteile beschränken. Vielmehr soll er sich anhand der vollständigen Akten selbst ein Bild vom Umfang ihrer Entscheidungserheblichkeit machen können.

3. Ein Untersuchungsausschuss kann im Rahmen seines Untersuchungsauftrags seine Kontrollaufgabe insoweit auch dadurch wahrnehmen, dass er die Bundesregierung um Vorlage derjenigen Informationen ersucht, die diese zuvor dem Parlamentarischen Kontrollgremium zur Verfügung gestellt hat. Ob ihm diese Informationen im gleichen Umfang wie dem Kontrollgremium vorgelegt werden können, entscheidet die Bundesregierung, nicht die Mehrheit des Untersuchungsausschusses.

4. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse und das Parlamentarische Kontrollgremium sind Teile des Bundestages. Gemäß § 1 Abs. 2 PKGrG bleiben die Rechte des Deutschen Bundestages und seiner Ausschüsse von der Einrichtung des Gremiums und der Wahrnehmung seiner Kontrollfunktion unberührt. Daraus folgt, dass die Existenz des Parlamentarischen Kontrollgremiums die im Übrigen bestehenden parlamentarischen Informationsansprüche nicht verdrängt. Vielmehr tritt die Kontrollaufgabe des Gremiums zu den Kontrollrechten des Parlaments hinzu, ohne diese zu schmälern.

5. Dem Deutschen Bundestag und seinen Ausschüssen bleibt es danach unbenommen, von der Bundesregierung Aufklärung über nachrichtendienstliche Vorgänge zu verlangen. Auch die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen sollte durch die Bildung des Parlamentarischen Kontrollgremiums nicht eingeschränkt werden. Vor diesem Hintergrund kann sich die Bundesregierung ihrer Antwortpflicht gegenüber dem Informationsanspruch des Bundestages, seiner Ausschüsse oder einzelner Abgeordneter nicht mit der Begründung entziehen, dass sie sich zur Tätigkeit der Nachrichtendienste des Bundes nur in den dafür vorgesehenen besonderen Gremien des Deutschen Bundestages äußere.

6. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die dem Kontrollgremium zugänglich gemachten Informationen geheim bleiben, folgt nicht, dass die in § 10 Abs. 1 S. 2 und 3 PKGrG normierte Verschwiegenheitspflicht über die dort genannten Adressaten hinaus auch die Bundesregierung trifft oder sich diese im Hinblick auf von ihr dem Kontrollgremium zur Verfügung gestellte Informationen auf eine Verschwiegenheitspflicht berufen kann. Anderenfalls hätte sich der Deutsche Bundestag mit der Einrichtung des Parlamentarischen Kontrollgremiums wesentlicher Informationsmöglichkeiten begeben und die Kontrolle gegenüber der Bundesregierung in Bezug auf die nachrichtendienstliche Tätigkeit des Bundes nicht etwa verbessert, sondern verschlechtert.

7. Zwar gilt für die Beweisaufnahme in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen gem. § 13 Abs. 1 Satz 2 PUAG der Grundsatz der Öffentlichkeit. Dieser beansprucht indes keine uneingeschränkte Geltung, denn auch das Untersuchungsausschussgesetz sieht in den §§ 14 ff. PUAG Regelungen zum Schutz staatlicher Geheimnisse vor. Diese sind Ausdruck des Umstands, dass das Parlament ohne eine Beteiligung am geheimen Wissen der Regierung sein Recht auf parlamentarische Kontrolle nicht wirksam auszuüben vermag. Angesichts dieser Bestimmungen kommt der Bundesregierung gegenüber einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss jedenfalls aus Gründen der Gefährdung des Staatswohls regelmäßig kein Recht zur Verweigerung der Vorlage von Akten zu.

8. Der Senat folgt nicht der Ansicht, wonach der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs gem. § 17 Abs. 4 PUAG bei Vorliegen der Voraussetzungen den Beweisbeschluss selbst zu erlassen hat. Vielmehr gilt der allgemeine Grundsatz, dass ein Verfahrensbeteiligter, von dem - wie hier - angesichts seiner verfassungsmäßig verankerten Bindung an Recht und Gesetz die Respektierung von Gerichtsentscheidungen auch ohne Vollstreckungsdruck erwartet werden darf, einer solchen Verpflichtung bereits im Falle ihrer bloßen Feststellung nachkommt.


Entscheidung

430. BGH 5 StR 143/18 - Urteil vom 23. Januar 2019 (LG Frankfurt Oder)

Verwerfung eines Befangenheitsgesuchs als unzulässig unter Mitwirkung des abgelehnten Richters (Willkür; Richter in eigener Sache; Verkennung von Tragweite und Bedeutung der Verfassungsgarantie; „nur“ fehlerhafte Rechtsanwendung; Verwerfung aus formalen Erwägungen; Entscheidung des Revisionsgerichts nach Beschwerdegrundsätzen; Glaubhaftmachung des Hinzutretens besonderer Umstände; inhaltliche Prüfung); bandenmäßiger Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge; Ablehnung des Antrags auf Vernehmung eines Auslandszeugen; Einziehung.

§ 26a StPO; § 27 StPO; § 244 Abs. 5 S. 2 StPO; Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG; § 30a Abs. 1 BtMG; § 73 StGB

1. Ein Verstoß gegen die Zuständigkeitsregelungen der §§ 26a, 27 StPO führt nur dann zu einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, wenn die Vorschriften willkürlich angewendet werden, weil der abgelehnte Richter sein eigenes Verhalten wertend beurteilt, sich also gleichsam zum „Richter in eigener Sache“ macht, oder die richterliche Entscheidung die Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie verkennt. Dagegen liegt bei einer „nur“ schlicht fehlerhaften Anwendung der Zuständigkeitsvorschriften ein Verfassungsverstoß nicht vor.

2. Erfolgt die Verwerfung des Befangenheitsantrags als unzulässig allein aus formalen Erwägungen, wurden die Ablehnungsgründe aber nicht inhaltlich geprüft, ist danach zu differenzieren, ob die Entscheidung des Gerichts auf einer groben Missachtung oder Fehlanwendung des Rechts beruht, ob also Auslegung und Handhabung der Verwerfungsgründe offensichtlich unhaltbar oder aber lediglich schlicht fehlerhaft sind. In letzterem Fall entscheidet das Revisionsgericht nach Beschwerdegrundsätzen sachlich über die Besorgnis der Befangenheit.

3. Jedenfalls die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs nach § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO ist unbedenklich, wenn dieses lediglich damit begründet worden ist, der Richter sei an einer Vorentscheidung zu Lasten des Angeklagten beteiligt gewesen. Dies gilt namentlich auch für die Ablehnung von Beweisanträgen. Soweit damit prozessimmanent die Mitteilung einer für den Angeklagten nachteiligen Beweiswürdigung des Gerichts vor Urteilsverkündung einhergeht, ist dies vom Angeklagten hinzunehmen. Anders verhält es sich beim Hinzutreten besonderer Umstände, die über die Tatsache einer negativen Vorentscheidung als solcher sowie die damit notwendig verbundenen inhaltlichen Äußerungen hinausgehen.


Entscheidung

380. BGH 2 StR 247/18 - Beschluss vom 19. Dezember 2018 (LG Erfurt)

Revisionsbegründung (Darlegungsanforderungen; Prüfung des Vorliegen eines Beweisverwertungsverbotes).

§ 105 Abs. 1 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO muss jeder Beschwerdeführer im Rahmen einer Verfahrensrüge die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen grundsätzlich so vollständig und genau darlegen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung in die Lage versetzt wird, über den geltend gemachten Mangel endgültig zu entscheiden. Für den Revisionsvortrag wesentliche Schriftstücke oder Aktenstellen sind im Einzelnen zu bezeichnen und zum Bestandteil der Revisionsbegründung zu machen.

2. Diese Anforderungen gelten auch dann, wenn ein Beschwerdeführer rügt, das Gericht habe zu Unrecht das Vorliegen eines Verwertungsverbotes für ein Beweismittel verneint, das auf Grund einer Durchsuchung erlangt wurde. Zwar kann das Revisionsgericht die für das Vorliegen eines Verwertungsverbotes in tatsächlicher Hinsicht entscheidungserheblichen Fragen gegebenenfalls im Wege des Freibeweises überprüfen; dies kann jedoch wie auch sonst bei behaupteten Verletzungen von Verfahrensvorschriften nur auf der Grundlage eines entsprechenden zulässigen Revisionsvortrags erfolgen.

3. Wird das Beweisverwertungsverbot darauf gestützt, dass das Beweismittel in rechtswidriger Weise ohne ermittlungsrichterliche Anordnung erlangt worden sei, wird also die Rechtmäßigkeit der Beweisgewinnung konkret in Zweifel gezogen, sind nicht nur die in der Hauptverhandlung hierzu gestellten Anträge und Beschlüsse vollständig und zutreffend mitzuteilen, sondern es ist regelmäßig auch die Verdachts- und Beweislage, die im Zeitpunkt der beanstandeten Beweisgewinnung gegeben war, anhand der Aktenlage zu rekonstruieren und mitzuteilen. Denn erst auf dieser Grundlage kann das Revisionsgericht das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots umfassend beurteilen. Dies erfordert zunächst, die Rechtmäßigkeit der Beweismittelgewinnung zu prüfen, ob also eine richterliche Anordnung der Ermittlungsmaßnahme entbehrlich gewesen sein könnte, weil eine richterliche Anordnung nicht eingeholt werden konnte, ohne dass der Zweck der Maßnahme gefährdet wurde, etwa weil der Verlust der Beweismittel drohte (§ 105 Abs. 1 StPO). War die Beweisgewinnung rechtswidrig, ist sodann zu prüfen, ob hieraus im konkreten Fall ein Beweisverwertungsverbot folgt.


Entscheidung

393. BGH 2 ARs 69/19 (2 AR 48/19) - Beschluss vom 12. März 2019

Gerichtsstand kraft Übertragung bei Hinderung des zuständigen Gerichts (Zuständigkeit für die Übertragungsentscheidung; Auslegungsgrundsätze; Maßstab für eine Verlegung).

§ 15 StPO

1. Soll die Sache einem Landgericht außerhalb des Bezirks des übergeordneten Oberlandesgerichts übertragen werden, so muss das Gericht entscheiden, das sowohl

dem verhinderten wie auch dem zu beauftragenden Gericht übergeordnet ist, mithin der Bundesgerichtshof.

2. Die Vorschrift des § 15 StPO, der die Befugnis einräumt, ein eigentlich nicht zuständiges Gericht mit der Verhandlung und Entscheidung einer Sache zu beauftragen, ist wegen des damit verbundenen Eingriffs in das mit Verfassungsrang ausgestattete Prinzip des gesetzlichen Richters restriktiv auszulegen. Nicht jede Gefahr für die öffentliche Sicherheit kann Anlass für eine Zuständigkeitsübertragung geben, sondern nur eine solche, die auf Grund ihres Grades und des Ausmaßes der drohenden Schäden eine Situation begründet, die dem Fall der tatsächlichen Verhinderung des zuständigen Gerichts (§ 15 Alt. 1 StPO) vergleichbar ist und eine nachteilige Rückwirkung auf die Unbefangenheit der zur Urteilsfindung berufenen Personen ausüben kann.

3. Eine Verlegung kommt zudem nur dann in Betracht, wenn die Gefahr ihren Ursprung gerade in der Durchführung der Verhandlung vor dem an sich zuständigen Gericht hat und nicht auf andere Weise als durch einen Eingriff in das gesetzliche Zuständigkeitssystem beseitigt werden kann. Erforderlichenfalls ist die Verhandlung in ein besonders gesichertes Areal oder Gebäude zu verlegen. Das zuständige Gericht ist auch nicht daran gehindert, die Hauptverhandlung, wenn es dies nach pflichtgemäßem Ermessen für geboten erachtet, sogar im Ganzen außerhalb seines Bezirks durchzuführen.


Entscheidung

372. BGH 1 StR 499/18 - Urteil vom 6. Februar 2019 (LG Tübingen)

Molekulargenetische Vergleichsuntersuchung (Darstellungsanforderungen im Urteil).

§ 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

1. Die Darstellung der Ergebnisse einer auf einer molekulargenetischen Vergleichsuntersuchung beruhenden Wahrscheinlichkeitsberechnung ist so auszugestalten, dass die Wahrscheinlichkeitsberechnung für das Revisionsgericht nachvollziehbar ist. Deshalb muss das Tatgericht in den Urteilsgründen mitteilen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergaben, mit welcher „Wahrscheinlichkeit“ die festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten ist und, sofern der Angeklagte einer fremden Ethnie angehört, inwieweit dieser Umstand bei der Auswahl der Vergleichspopulation von Bedeutung war (vgl. BGH NJW 2015, 2594 Rn. 20 mwN).

2. Dies gilt nach neuer Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hinsichtlich der beiden erstgenannten Darlegungsanforderungen nicht für die in der Praxis vorkommenden Regelfälle der DNA-Vergleichsuntersuchungen, die sich auf eindeutige Einzelspuren beziehen und keine Besonderheiten in der forensischen Fragestellung aufweisen, da es sich insoweit mittlerweile um ein standardisiertes Verfahren handelt (vgl. BGH NJW 2018, 3192, 3193).

3. Bei Mischspuren, d.h. von Spuren, die mehr als zwei Allele in einem DNA-System aufweisen und demnach von mehr als einer einzelnen Person stammen, wird von den Tatgerichten weiterhin verlangt, in den Urteilsgründen mitzuteilen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergaben und mit welcher „Wahrscheinlichkeit“ die festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten ist.

4. Je nach den Umständen des konkreten Einzelfalls können strengere Anforderungen gelten (vgl. BGH NStZ-RR 2016, 118, 119). Dabei wird sich regelmäßig die Angabe empfehlen, wie viele Spurenverursacher in Betracht kommen und um welchen Typ von Mischspur es sich handelt sowie welche Bedeutung einer fremden Ethnie für die Vergleichspopulation zukommt. Solange allerdings nicht ausschließlich ein Alternativtäter aus der fremden Ethnie in Betracht kommt, ist die am Tatort lebende deutsche bzw. europäische Wohnbevölkerung als Vergleichspopulation nicht zu beanstanden (vgl. BGH NStZ 2016, 111 ff.).


Entscheidung

425. BGH 3 StR 516/18 - Beschluss vom 19. Dezember 2018 (LG Düsseldorf)

Anforderungen an die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache (Indiz- oder Hilfstatsache; antizipierte Beweiswürdigung; Beschlussbegründung; Begründungstiefe; formalisierter Dialog; Überprüfbarkeit in der Revision).

§ 244 Abs. 3 StPO

1. Das Tatgericht darf Indiz- oder Hilfstatsachen als für die Entscheidung tatsächlich bedeutungslos erachten (§ 244 Abs. 3 S. 2 Var. 2 StPO), wenn es aus diesen eine mögliche Schlussfolgerung, die der Antragsteller erstrebt, nicht ziehen will. Hierzu ist die unter Beweis gestellte Tatsache so, als sei sie erwiesen, in das aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme erlangte Beweisergebnis einzustellen und im Wege einer prognostischen Betrachtung zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung gegebenenfalls in Anwendung des Zweifelsatzes in einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde.

2. Die antizipierende Würdigung ist in einem den Beweisantrag ablehnenden Beschluss (§ 244 Abs. 6 StPO) näher darzulegen. Zwar kann und muss diese Beschlussbegründung in der Regel weder die Ausführlichkeit noch die Tiefe der Beweiswürdigung der späteren Urteilsgründe aufweisen; jedoch erweist es sich in aller Regel als rechtsfehlerhaft, wenn die Ablehnung wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit allein auf die Aussage gestützt wird, die unter Beweis gestellte Indiz- oder Hilfstatsache ließe keinen zwingenden, sondern lediglich einen möglichen Schluss zu, den das Gericht nicht ziehen wolle.


Entscheidung

379. BGH 2 StR 247/18 - Urteil vom 19. Dezember 2018 (LG Erfurt)

Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit; Grundsatz „in dubio pro reo“); Vorsatzfeststellung.

§ 261 StPO; § 15 StGB

1. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwin-

den vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind.

2. Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat es die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung näher gelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden.

3. Rechtsfehlerhaft ist eine Beweiswürdigung schließlich dann, wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt worden sind. Voraussetzung für die Überzeugung des Tatrichters von einem bestimmten Sachverhalt ist nicht eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit, sondern es genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt. Dabei ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat.

4. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung von der Täterschaft zu gewinnen vermag. Auf einzelne Elemente der Beweiswürdigung ist er grundsätzlich nicht anzuwenden.


Entscheidung

432. BGH 5 StR 373/18 - Beschluss vom 11. Dezember 2018 (LG Braunschweig)

Entscheidungsmöglichkeiten des Revisionsgerichts in Bezug auf eine vom Rechtsmittelangriff umfasste rechtsfehlerhafte Adhäsionsentscheidung (Aufhebungsbefugnis; Zuweisung an das Tatgericht; Wertung im Einzelfall); Anforderungen an die Beweiswürdigung bei molekulargenetischer Vergleichsuntersuchung.

§ 353 Abs. 1 StPO; § 406a Abs. 3 StPO; § 261 StPO

Die aus § 353 Abs. 1 StPO folgende Befugnis des Revisionsgerichts, eine – vom Rechtsmittelangriff umfasste – rechtsfehlerhafte Adhäsionsentscheidung aufzuheben, wird durch § 406a Abs. 3 StPO nicht verdrängt. Vielmehr eröffnet § 406a Abs. 3 Satz 1 StPO dem Revisionsgericht lediglich eine weitere Entscheidungsmöglichkeit. Inwieweit es seine diesbezügliche Aufhebungsbefugnis – auch mit Blick auf die vorläufige Vollstreckbarkeit der Adhäsionsentscheidung (§ 406b StPO) – selbst wahrnimmt oder nach Zurückweisung des strafrechtlichen Teils dem Tatgericht zuweist, bedarf der Wertung im Einzelfall.


Entscheidung

414. BGH 4 StR 555/18 - Beschluss vom 13. Februar 2019 (LG Detmold)

Gegenstand des Urteils (prozessualer Tatbegriff; Änderung im Verlauf des Verfahrens).

§ 264 Abs. 1 StPO

1. Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Die Tat als Prozessgegenstand ist dabei nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten darin zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört dazu das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorgang nach der Auffassung des Lebens ein einheitliches Vorkommnis bildet.

2. Verändert sich im Verlaufe des Verfahrens das Bild des Geschehens, wie es in der Anklageschrift und dem Eröffnungsbeschluss umschrieben ist, so ist die Prüfung der Frage, ob die Identität der prozessualen Tat trotz Veränderung des Tatbildes noch gewahrt ist, nach dem Kriterium der „Nämlichkeit“ der Tat zu beurteilen. Dies ist – ungeachtet gewisser Unterschiede – dann der Fall, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als ein einmaliges und unverwechselbares Geschehen kennzeichnen. Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung sowie durch das Tatopfer bestimmt.


Entscheidung

399. BGH 4 StR 61/18 - Beschluss vom 8. November 2018

Kosten und notwendige Auslagen bei Freispruch (Kosten der Nebenklage).

§ 467 Abs. 3 StPO

Eine Erstattung der Auslagen der Nebenklage kommt bei einer Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses nicht in Betracht. Dies ist in der Beschlussformel nicht gesondert auszusprechen.