HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2019
20. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH


I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

409. BGH 4 StR 456/18 - Urteil vom 17. Januar 2019 (LG Dortmund)

Notwehr (Gebotenheit; Notwehrprovokation: Abgrenzung zwischen Absichtsprovokation und [nur] vorsätzlicher Provokation).

§ 32 Abs. 2 StGB

1. Eine Absichtsprovokation begeht, wer zielstrebig einen Angriff herausfordert, um den Gegner unter dem Deckmantel einer äußerlich gegebenen Notwehrlage an seinen Rechtsgütern zu verletzen. In einem solchen Fall ist dem Täter Notwehr – jedenfalls grundsätzlich – versagt, weil er rechtsmissbräuchlich handelt, indem er einen Verteidigungswillen vortäuscht, in Wirklichkeit aber angreifen will.

2. Erfolgt die Provokation (nur) vorsätzlich, wird dem Täter das Notwehrrecht nicht vollständig und nicht zeitlich unbegrenzt genommen; es werden an ihn jedoch umso höhere Anforderungen im Hinblick auf die Vermeidung gefährlicher Konstellationen gestellt, je schwerer die rechtswidrige und vorwerfbare Provokation der Notwehrlage wiegt. Wer unter erschwerenden Umständen die Notwehrlage provoziert hat, muss unter Umständen auf eine sichere erfolgversprechende Verteidigung verzichten und das Risiko hinnehmen, dass ein minder gefährliches Abwehrmittel keine gleichwertigen Erfolgschancen hat.

3. Auch wenn der Täter den Angriff auf sich lediglich leichtfertig provoziert hat, darf er von seinem grundsätzlich gegebenen Notwehrrecht nicht bedenkenlos Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen. Er muss vielmehr dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst Zuflucht nehmen, nachdem er alle Möglichkeiten der Schutzwehr ausgenutzt hat; nur wenn sich ihm diese Möglichkeit nicht bietet, ist er zu der erforderlichen Verteidigung befugt.

4. Ein rechtlich gebotenes oder erlaubtes Tun führt hingegen nicht ohne weiteres zu Einschränkungen des Notwehrrechts, auch wenn der Täter wusste oder wissen musste, dass andere durch dieses Verhalten zu einem

rechtwidrigen Angriff veranlasst werden könnten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt eine Notwehreinschränkung vielmehr voraus, dass die tatsächlich bestehende Notwehrlage durch ein rechtswidriges, jedenfalls aber sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten des Angegriffenen verursacht worden ist und zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang besteht.


Entscheidung

410. BGH 4 StR 470/18 - Beschluss vom 15. Januar 2019 (LG Leipzig)

Rücktritt (fehlgeschlagener Versuch; Rücktritt bei mehraktigem Geschehen); Vorsatz (bedingter Tötungsvorsatz).

§ 15 StGB; § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB

1. Ein Versuch ist fehlgeschlagen, wenn die Tat nach dem Misslingen des zunächst vorgestellten Tatablaufs mit den bereits eingesetzten oder anderen naheliegenden Mitteln objektiv nicht mehr vollendet werden kann und der Täter dies erkennt, oder wenn er subjektiv die Vollendung der Tat nicht mehr für möglich hält.

2. Bei einem mehraktigen Geschehen ist der Rücktritt vom Versuch hinsichtlich eines Einzelakts ausgeschlossen, wenn dieser Einzelakt bereits als fehlgeschlagener Versuch zu werten ist. Sind die Einzelakte untereinander und mit der letzten Tathandlung durch die subjektive Zielsetzung des Angeklagten zu einem einheitlichen Geschehen verbunden, kommt es für die Beurteilung der Frage, ob ein fehlgeschlagener Versuch vorliegt, allein auf die subjektive Sicht des Angeklagten nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung an.

3. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, ferner, dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet. Zwar liegt es bei äußerst gefährlichen Handlungen nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen, und – weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt – einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt.


Entscheidung

406. BGH 4 StR 345/18 - Beschluss vom 16. Januar 2019 (LG Hamburg)

Tötungsvorsatz beim Fahren in den Gegenverkehr; Feststellungen für die Verdeckungsabsicht des Mordes.

§ 15 StGB; § 211 Abs. 2 Var. 9 StGB

1. Zum Tötungsvorsatz beim Fahren in den Gegenverkehr.

2. Kann das Schwurgericht nicht klären, ob auch suizidale Gedanken mit motivgebend waren, stellt dies das im Übrigen gegebene Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht nicht in Frage.


Entscheidung

381. BGH 2 StR 312/18 - Urteil vom 16. Januar 2019 (LG Mühlhausen)

Rücktritt (Rücktrittshorizont; Abgrenzung beendeter und unbeendeter Versuch; Korrektur des Rücktrittshorizontes: Opferreaktionen nach letzter Ausführungshandlung).

§ 24 Abs. 1 Satz 1 StGB

1. Wenn der Täter nach seinem Kenntnisstand nach der letzten Ausführungshandlung in zutreffender Einschätzung der durch die Tathandlung verursachten Gefährdung des Opfers oder in Verkennung der tatsächlichen Ungeeignetheit seiner Handlung den Erfolgseintritt für möglich hält, ist der Versuch beendet. Ein strafbefreiender Rücktritt setzt in solchen Fällen voraus, dass der Täter den Erfolgseintritt durch eigene Tätigkeit verhindert oder sich ernsthaft darum bemüht, wenn der Erfolg ohne sein Zutun ausbleibt (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 und Satz 2 StGB). Rechnet der Täter dagegen nach der letzten Ausführungshandlung nach seinem Kenntnisstand (noch) nicht mit dem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges, und sei es auch nur in Verkennung der durch seine Handlung verursachten Gefährdung des Opfers, so ist der Versuch unbeendet, wenn die Vollendung aus der Sicht des Täters noch möglich ist. In diesen Fällen genügt bloßes Aufgeben weiterer Tatausführung und Nichtweiterhandeln, um die strafbefreiende Wirkung des Rücktritts zu erlangen.

2. Nach den in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Korrektur des Rücktrittshorizonts entwickelten Grundsätzen kommt ein unbeendeter Versuch auch dann in Betracht, wenn der Täter nach seinem Handeln den Erfolgseintritt zwar für möglich hält, unmittelbar darauf aber zu der Annahme gelangt, sein bisheriges Tun könne den Erfolg doch nicht herbeiführen und er nunmehr von weiteren fortbestehenden Handlungsmöglichkeiten zur Herbeiführung des Erfolges absieht.

3. Dies kommt dann in Betracht, wenn das angegriffene Tatopfer nach der letzten Ausführungshandlung noch – vom Täter wahrgenommen – zu körperlichen Reaktionen fähig ist, die geeignet sind, Zweifel daran aufkommen zu lassen, das Opfer sei bereits tödlich verletzt, etwa wenn das Opfer noch in der Lage ist, sich vom Tatort wegzubewegen. Solche Umstände können geeignet sein, die Vorstellung des Täters zu erschüttern, alles zur Erreichung des gewollten Erfolgs getan zu haben.


Entscheidung

371. BGH 1 StR 448/18 - Beschluss vom 23. Januar 2019 (LG München I)

Schuldunfähigkeit aufgrund von Alkoholkonsum (erforderliche Berechnung der Blutalkoholkonzentration; mögliche Indizien gegen Schuldunfähigkeit).

§ 20 StGB

Von einer Berechnung der Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit ist ein Tatgericht nicht schon dann entbunden, wenn die Angaben des Angeklagten zum konsumierten Alkohol nicht exakt sind (vgl. BGH NStZ-RR 2010, 257, 258). Vielmehr ist eine Berechnung der Blutalkoholkonzentration aufgrund von Schätzungen unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes auch dann vorzunehmen, wenn die Einlassung des Angeklagten sowie gegebenenfalls die Bekundungen von Zeugen zwar keine sichere Berechnungsgrundlage ergeben, jedoch eine ungefähre zeitliche und mengenmäßige Eingrenzung des Alkoholkonsums ermöglichen (vgl. BGH StV 1993, 519).


II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

420. BGH 3 StR 27/18 - Beschluss vom 30. Oktober 2018 (LG Dortmund)

Schwere Verunglimpfung des Staates (Kunstfreiheit; werkgerechte Interpretation; kein grundrechtlicher Ehrschutz des Staates; Schutz des Bestandes der verfassungsmäßigen Ordnung; Abwägung; Verhältnis von Kunst und Meinungsfreiheit; mittelbare Eignung zur Gefährdung des Bestands der verfassungsmäßigen Ordnung); Volksverhetzung (keine Abwägung bei Angriff auf die Menschenwürde; Missachtung des Lebensrechts in der deutschen Gemeinschaft; öffentlicher Friede).

§ 90a StGB; § 130 StGB; Art. 5 Abs. 2, Abs. 3 GG; Art. 1 Abs. 1 GG

1. Der Schutz des Staates und seiner Symbole nach § 90a StGB darf nicht zu einer Immunisierung des Staates gegen Kritik und selbst gegen Ablehnung führen. Dem Staat kommt kein grundrechtlicher Ehrenschutz zu. Rechtsgut des § 90a StGB ist der Bestand der Bundesrepublik Deutschland und ihrer verfassungsmäßigen Ordnung. Dieses Rechtsgut ist mit etwaigen widerstreitenden Grundrechten des Angeklagten (hier der Kunstfreiheit) einzelfallbezogen abzuwägen.

2. Als Grundlage einer solchen Abwägung muss im Wege einer werkgerechten Interpretation unter Berücksichtigung der der Kunst eigentümlichen Strukturmerkmale der in der künstlerischen Einkleidung verborgene Aussagekern ermittelt werden. Bei der Auslegung mehrdeutiger Aussagen darf - wie bei dem Grundrecht der Meinungsfreiheit (vgl. BVerfG, HRRS 2008 Nr. 1006) - nicht die zu einer strafrechtlichen Sanktion führende Bedeutung zu Grunde gelegt werden, ohne vorher andere mögliche Deutungen mit schlüssigen Gründen auszuschließen.

3. Das Grundgesetz baut zwar auf Werteloyalität, erzwingt diese jedoch nicht, so dass der Grundrechtsschutz auch dem zukommt, der die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen nicht teilt. Eine Strafbarkeit nach § 90a StGB kommt im Lichte dessen – sowie mit Blick auf das Rechtsgut der Vorschrift (oben Ls. 1) – erst in Betracht, wenn aufgrund der konkreten Art und Weise der in einem Kunstwerk zum Ausdruck kommenden Meinungsäußerung der Staat dermaßen verunglimpft wird, dass dies zumindest mittelbar geeignet erscheint, den Bestand der Bundesrepublik, die Funktionsfähigkeit ihrer staatlichen Einrichtungen oder die Friedlichkeit in Deutschland zu gefährden.

4. Ergibt die werkgerechte Interpretation eines Kunstwerks, dass dieses einen Angriff auf die Menschenwürde von Personen darstellt, weil eine bestimmte Bevölkerungsgruppe unter Missachtung des Gleichheitssatzes als minderwertig dargestellt und ihr das Lebensrecht in der deutschen Gemeinschaft abgesprochen wird, stehen die Grundrechte der Kunst- und Meinungsfreiheit einer Bestrafung nach § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht entgegen. Diese müssen vielmehr zurücktreten, wenn die Menschenwürde anderer als oberster Wert und Wurzel aller Grundrechte angetastet wird. Die Würde des Menschen ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig.


Entscheidung

426. BGH 3 StR 563/18 - Beschluss vom 5. Februar 2019 (LG Kleve)

Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen (Erkennbarkeit einer Person bzw. Teile derselben auf dem Bild; keine Tatbestandsmäßigkeit bei Bildern unkenntlichen Inhalts).

§ 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB

§ 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB dient dem Schutz des durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleisteten höchstpersönlichen Lebensbereichs des Einzelnen durch Eingriffe mittels Bildaufnahmen. Die Vorschrift erfasst nur solche Bildaufnahmen, auf denen erkennbar eine Person - ganz oder teilweise - abgebildet ist. Ermöglicht die Bildqualität schon nicht die Feststellung, dass es sich um die Abbildung einer Person bzw. Teile derselben handelt, ist der Anwendungsbereich des § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht eröffnet, da eine Verletzung des Schutzgutes der Norm durch die Anfertigung von Bildern unkenntlichen Inhalts nicht zu besorgen ist.


Entscheidung

400. BGH 4 StR 61/18 - Beschluss vom 8. November 2018 (LG Zweibrücken)

Misshandlung von Schutzbefohlenen (Verbrechenstatbestand: erhebliche Entwicklungsstörung, Begehen durch Unterlassen; Definition des Quälens)

§ 225 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 StGB

1. Der Verbrechenstatbestand des § 225 Abs. 3 Nr. 2 StGB setzt voraus, dass eine der in § 225 Abs. 1 StGB umschriebenen tatbestandlichen Handlungen die naheliegende Möglichkeit begründet, sie werde bei der schutzbefohlenen Person zu den in § 225 Abs. 3 StGB genannten Weiterungen führen. Dabei erfordert die in Nummer 2 genannte erhebliche Entwicklungsschädigung in Anlehnung an § 171 StGB (§ 170d StGB aF), dass der normale Ablauf des körperlichen oder seelischen Entwicklungsprozesses dauernd oder nachhaltig gestört ist.

2. Handelt es sich um eine Unterlassungstat, so begründet der Täter die tatbestandlich vorausgesetzte konkrete Gefahr, wenn er deren Entstehen durch sein Eingreifen hätte abwenden können. Der Tatbestand kann auch dann verwirklicht werden, wenn in der Person des Schutzbefohlenen bereits vor der Tat Schäden oder die Gefahr von

Schäden im Sinne der Qualifikation gemäß § 225 Abs. 3 StGB bestanden haben. Zur Hervorrufung der für den qualifizierten Fall vorausgesetzten Gefahren ist es dann aber erforderlich, dass die Tat die Gefahr verursacht, die bereits vorhandenen oder zu befürchtenden Schäden in erheblichem Maße zu vergrößern bzw. die wegen einer bereits gegebenen individuellen Schadensdisposition bestehenden Gefahren messbar zu steigern. In subjektiver Hinsicht ist dazu (zumindest bedingter) Vorsatz erforderlich.

3. Quälen gemäß § 225 Abs. 1 Nr. 1 StGB bedeutet das Verursachen länger dauernder oder sich wiederholender (erheblicher) Schmerzen oder Leiden körperlicher oder seelischer Art. Es wird im Allgemeinen durch mehrere Tathandlungen bewirkt, wobei oft erst deren ständige Wiederholung den besonderen Unrechtsgehalt des Quälens verwirklicht. Ob sich mehrere Körperverletzungen zu einer als Quälen zu bezeichnenden Tathandlung zusammenfügen, ist aufgrund einer Gesamtbetrachtung zu entscheiden. Dabei sind räumliche und situative Zusammenhänge, zeitliche Dichte oder eine sämtliche Einzelakte prägende Gesinnung mögliche Indikatoren. Die zugefügten Schmerzen oder Leiden müssen dabei über die typischen Auswirkungen einzelner Körperverletzungshandlungen hinausgehen und der Vorsatz des Täters sich auch hierauf erstrecken. Ist dies der Fall, so kann ein Quälen auch durch Unterlassen begangen werden. Dabei ist auch in diesen Fällen eine Verurteilung nur dann zulässig, wenn das strafbare Verhalten so konkret bezeichnet wird, dass erkennbar ist, welche bestimmten Taten von der Verurteilung erfasst werden.


Entscheidung

408. BGH 4 StR 385/18 - Beschluss vom 30. Januar 2019 (LG Bochum)

Urkundenfälschung (Brief- und Paketmarken).

§ 148 StGB; § 267 Abs. 1 StGB; § 807 BGB

Bei Brief- und Paketmarken der Deutschen Post AG, die nach der Neuordnung des Post- und Telekommunikationswesens nicht mehr § 148 StGB unterfallen, handelt es sich um Urkunden im Sinne von § 267 Abs. 1 StGB. Sie verkörpern als Inhaberpapiere im Sinne des § 807 BGB einen Anspruch auf Beförderung der Postsendung im Umfang des aufgedruckten Werts und perpetuieren insoweit zu Beweiszwecken eine entsprechende Gedankenerklärung des Ausstellers (die entsprechende Beförderungsleistung gegenüber jedem schuldbefreiend erbringen zu wollen, der gültige Briefmarken in Höhe des vorgesehenen Leistungsentgelts auf die Postsendung klebt).


Entscheidung

383. BGH 2 StR 419/18 - Beschluss vom 14. November 2018 (LG Bonn)

Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (Beischlafähnlichkeit der sexuellen Handlung: Einführen des Daumens oder eines Fingers in den Mund des Kindes).

§ 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB

1. Der Begriff „Eindringen in den Körper“ umschreibt besonders nachhaltige Begehungsweisen der Tat. Er ist nicht auf Vaginal-, Anal- und Oralverkehr beschränkt. Erfasst ist zum Beispiel auch das Eindringen mit Gegenständen in Vagina oder Anus.

2. Die Gesetzgebungsmaterialien belegen, dass der Gesetzgeber eine umfassende Regelung treffen wollte, um besonders schwerwiegende sexuelle Handlungen zu erfassen. Eine penetrierende sexuelle Handlung allein führt aber noch nicht zur Qualifikation des sexuellen Missbrauchs. Erforderlich ist auch, dass der Täter mit dem Kind dabei entweder den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen lässt. Welche Handlungen dem Beischlaf ähnlich sind, lässt das Gesetz offen.

3. Die Beischlafähnlichkeit der sexuellen Handlung setzt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs keine äußerliche Ähnlichkeit mit dem Bewegungsablauf beim Vaginalverkehr voraus. Eine Ähnlichkeit mit dem Beischlaf liegt regelmäßig schon dann vor, wenn die sexuelle Handlung entweder auf Seiten des Opfers oder des Täters unter Einbeziehung des primären Geschlechtsteils geschieht. Sie ist aber vor allem an dem Gewicht der Rechtsgutverletzung zu messen.

4. Nach diesem Maßstab ist das Einführen des Daumes oder eines Fingers in den Mund des Kindes jedoch kein Fall einer beischlafähnlichen Handlung. Eine solche Handlung besitzt kein dem Beischlaf vergleichbares Belastungsgewicht für das geschützte Rechtsgut. Insbesondere ist kein primäres Geschlechtsorgan bei Täter oder Opfer beteiligt.


Entscheidung

389. BGH 2 StR 562/18 - Beschluss vom 5. Februar 2019 (LG Aachen)

Vergewaltigung (Tenorierung); Körperverletzung (körperliche Misshandlung durch nicht einverständlichen Geschlechtsverkehr).

§ 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB; § 223 Abs. 1 Alt. 1 StGB

1. In Fällen des vollzogenen Beischlafs im Sinne des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB ist die Tat im Tenor als „Vergewaltigung“ zu bezeichnen.

2. Ein nicht einverständlicher Geschlechtsverkehr kann zwar eine üble, unangemessene Behandlung des Opfers darstellen. Eine mehr als unerhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens im Sinne der Misshandlungsalternative des § 223 Abs. 1 StGB liegt jedoch nicht vor, wenn sich bei der Geschädigten nach der Tat weder körperliche Auffälligkeiten noch Verletzungen finden und nicht festgestellt werden kann, dass eine durch die Tat eingetretene nachhaltige Traumatisierung des Opfers vom Täter (bedingt) vorsätzlich herbeigeführt worden ist.

3. Ängste und Albträume, unter denen die Geschädigte in Folge der Tat leidet, können nicht ohne weiteres als Körperverletzungserfolg im Sinne des § 223 StGB bewertet werden.


Entscheidung

405. BGH 4 StR 301/18 - Beschluss vom 18. Dezember 2018 (LG Bochum)

Urteil (Kennzeichnung besonders schwerer Fälle in der Urteilsformel).

§ 260 StPO; § 267 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Alt. 1 StGB

1. Bei Anwendung des § 267 Abs. 3 StGB ist die Einordnung der Tat als besonders schwerer Fall im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Alt. 1 StGB („gewerbsmäßig“) nicht in die Entscheidungsformel aufzunehmen.

2. Die Kennzeichnung der Tat als besonders schwerer Fall im Sinne des § 243 Abs. 1 StGB ist nicht in die Urteilformel aufzunehmen.


Entscheidung

384. BGH 2 StR 489/18 - Beschluss vom 23. Januar 2019 (LG Fulda)

Sexueller Missbrauch von Kindern (Konkurrenzen); Strafzumessung (schärfende Berücksichtigung verjährter Taten).

§ 78 StGB; § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB; § 46 StGB

1. § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB stellt Vorbereitungshandlungen selbständig unter Strafe und sieht dafür einen geringeren Strafrahmen vor als § 176 Abs. 1 StGB. Der Tatbestand ist daher subsidiär. Er ist nicht in den Schuldspruch aufzunehmen. Schuldumfang und Unrechtsgehalt der Tat bleiben von dieser Änderung unberührt.

2. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es zulässig, verjährte Taten strafschärfend zu berücksichtigen.