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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 393

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 2 ARs 312/18, Beschluss v. 30.01.2019, HRRS 2019 Nr. 393


BGH 2 ARs 312/18 (2 AR 193/18) - Beschluss vom 30. Januar 2019

Entscheidung über das zuständige Gericht.

§ 67 Abs. 6 StGB; § 14 StPO

Entscheidungstenor

Die Untersuchung und Entscheidung der Sache wird der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim übertragen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Gifhorn hat am 23. September 2015 gegen den Verurteilten wegen Körperverletzung in zwei Fällen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat erkannt und daneben gemäß § 64 StGB dessen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Wegen anderer Verurteilungen befand sich der Verurteilte bereits seit dem 13. November 2014 im Strafvollzug; am 25. November 2015 wurde er zur Vollstreckung der vorgenannten Maßregel in einem Klinikum in H. aufgenommen.

Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim hat mit Beschluss vom 28. August 2017 die im Urteil des Amtsgerichts Gifhorn vom 23. September 2015 angeordnete Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt mangels hinreichend konkreter Aussicht auf Erfolg gemäß § 64 Satz 2, § 67d Abs. 5 Satz 1, § 67e Abs. 1 StGB für erledigt erklärt und den - nach Anrechnung in dieser Sache erlittenen Freiheitsentzug - noch nicht erledigten Rest der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem vorgenannten Urteil des Amtsgerichts Gifhorn nicht zur Bewährung ausgesetzt. Die gegen diesen Beschluss eingelegte sofortige Beschwerde des Verurteilten hat das Oberlandesgericht Celle mit Beschluss vom 28. September 2017 verworfen.

Am 6. September 2017 wurde der Verurteilte aus der Maßregelvollzugseinrichtung entlassen und in die JVA W. zur Verbüßung mehrerer Freiheitsstrafen verlegt. Derzeit verbüßt der Verurteilte aufgrund des Urteils des Amtsgerichts Gifhorn vom 1. Juli 2014 (8 Ds 42 Js 15081/14) eine Freiheitsstrafe von acht Monaten und im Anschluss daran eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten aufgrund des Urteils des Amtsgerichts Gifhorn vom 19. November 2013 (8 Ds 42 Js 12241/13). Anschließend sind die Strafreste aus den Urteilen des Amtsgerichts Gifhorn vom 1. Juli 2014 und 23. September 2015 mit einem Strafende am 4. November 2020 notiert.

Mit Schriftsatz vom 9. April 2018 hat der Verurteilte über seine Verteidigerin bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig beantragt, den Vollzug der Maßregel in dem Zeitraum vom 1. Juni 2016 bis 28. August 2017 auf die noch zu verbüßenden Freiheitsstrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Gifhorn gemäß § 67 Abs. 6 StGB anzurechnen.

Die Verteidigerin hat auf den Hinweis der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig bezüglich einer dortigen örtlichen Unzuständigkeit vom 20. April 2018 ausgeführt, dass nicht die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim, sondern die dortige Strafvollstreckungskammer örtlich zuständig sei, weil die Entscheidung über die Erledigung der Maßregel keine Entscheidung über die Anrechnung auf verfahrensfremde Strafen voraussetze und die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim deshalb mit der Frage einer Anrechnung auf verfahrensfremde Strafen nie befasst gewesen sei.

Mit Beschluss vom 30. Juli 2018 hat sich die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig hinsichtlich der Entscheidung nach § 67 Abs. 6 StGB für örtlich unzuständig erklärt und der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim die Akten zur weiteren Veranlassung vorgelegt. Diese hat den Vorgang mit Beschluss vom 27. August 2018 dem Bundesgerichtshof gemäß § 14 StPO zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.

II.

1. Der Bundesgerichtshof ist als gemeinschaftliches oberes Gericht der Landgerichte Hildesheim (Bezirk des Oberlandesgerichts Celle) und Braunschweig (Bezirk des Oberlandesgerichts Braunschweig) für die Gerichtsstandsbestimmung zuständig.

2. Die Entscheidung über den Antrag des Verurteilten, den Vollzug der Maßregel in dem Zeitraum vom 1. Juni 2016 bis 28. August 2017 auf die noch zu verbüßenden Freiheitsstrafen aus den Verfahren 8 Ds 42 Js 12241/13 und 8 Ds 42 Js 15081/14 der Staatsanwaltschaft Hildesheim gemäß § 67 Abs. 6 StGB anzurechnen, obliegt der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim.

a) Soweit die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim mit Beschluss vom 28. August 2017 über die weitere Unterbringung des Verurteilten entschieden und (lediglich) die Maßregel mangels hinreichend konkreter Aussicht auf Erfolg gemäß § 64 Satz 2, § 67d Abs. 5 Satz 1, § 67e Abs. 1 StGB für erledigt erklärt hat, hat sie ersichtlich keine (konkludente) Entscheidung zu § 67 Abs. 6 StGB getroffen. Demnach ist die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim noch mit dieser zu treffenden Entscheidung „befasst“ im Sinne des § 462a Abs. 1 Satz 1, § 463 Abs. 1 StPO, denn zum Zeitpunkt der erforderlich gewesenen Entscheidung war der Verurteilte noch in einem zu ihrem Bezirk gehörenden Klinikum aufgenommen gewesen. Dass sich der Verurteilte zum Zeitpunkt der Antragstellung am 9. April 2018 bereits seit sieben Monaten in der JVA W. befunden hat, steht dem deswegen nicht entgegen (vgl. auch Senat, Beschluss vom 8. Juli 1975 - 2 ARs 181/75, BGHSt 26, 165, 166).

b) Die Entscheidung über die Anrechnung des Maßregelvollzugs auch auf verfahrensfremde Freiheitsstrafen gemäß § 67 Abs. 6 StGB kann regelmäßig nicht isoliert von der Prüfung gemäß § 67e StGB erfolgen, sondern wird in der Regel gemeinsam mit dieser zu fällen sein.

Gemäß § 67 Abs. 6 StGB - eingeführt durch das „Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 des Strafgesetzbuches und zur Änderung anderer Vorschriften“ vom 8. Juli 2016 (BGBl. I, S. 1610), in Kraft seit dem 1. August 2016 - bestimmt das Gericht, dass eine Anrechnung des Maßregelvollzugs auch auf eine verfahrensfremde Strafe erfolgt, wenn deren Vollzug für die verurteilte Person eine unbillige Härte wäre.

aa) Bereits der Wortlaut des Gesetzes in § 67 Abs. 6 StGB legt - wie auch der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift ausführt - nahe, dass die Strafvollstreckungskammer, die zur Entscheidung gemäß § 67e Abs. 1 StGB berufen ist, zugleich die Voraussetzungen des § 67 Abs. 6 StGB zu prüfen hat.

bb) Die systematische Einbettung der Vorschrift spricht ebenfalls dafür.

Eine Anrechnung des Maßregelvollzugs auf eine verfahrensfremde Strafe ist nur möglich, wenn der Vollzug für den Verurteilten eine „unbillige Härte“ wäre, damit die Kumulation von Straf- und Maßregelvollzug nicht zu einem übermäßigen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Verurteilten führt, den der Gesetzgeber mit der Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. März 2012 (Az.: 2 BvR 2258/09, BVerfGE 130, 372) vermeiden wollte (vgl. BTDrucks. 18/7244, S. 25 ff.).

Gemäß § 67 Abs. 6 Satz 2 StGB sind bei der zu treffenden Entscheidung insbesondere das Verhältnis der Dauer des bisherigen Freiheitsentzugs zur Dauer der verhängten Strafen, der erzielte Therapieerfolg und seine konkrete Gefährdung durch eine weitere Vollstreckung der Strafe sowie das Verhalten des Verurteilten im Vollstreckungsverfahren zu berücksichtigen. Allerdings müssen die drei explizit in § 67 Abs. 6 Satz 2 StGB genannten Kriterien nicht zwingend kumulativ vorliegen, sondern sie sind vielmehr „neutral formuliert“ in die einzelfallbezogene Gesamtabwägung einzubeziehen und im Verhältnis zueinander zu gewichten (vgl. BTDrucks. 18/7244, S. 27). Für die Umsetzung dieses Regelungskonzepts kommt es somit entscheidend auf die Vollstreckungs- und Vollzugssituation im Einzelfall an, die von der Strafvollstreckungskammer, die bereits mit der Entscheidung nach § 67e Abs. 1 StGB befasst ist, bereits aufgrund ihrer Sachnähe besser beurteilt werden kann.

cc) Letztlich entspricht dieses Ergebnis auch dem der Gesetzesbegründung zu entnehmenden Sinn und Zweck der Regelung, wonach „in der Praxis […] die Frage, ob ein Härtefall im Sinne des § 67 Absatz 6 StGBE vorliegt, in der Regel mit der Frage, ob eine Entlassung aus dem Vollzug der Maßregel insbesondere nach § 67d StGB sowie eine Aussetzung des Strafrestes nach § 57 StGB in Betracht kommt, zusammenfallen (wird), so dass sich eine gemeinsame Entscheidung durch das Gericht zur Beschleunigung des Verfahrens anbietet.“ (BTDrucks. 18/7244, S. 26).

Eine Entscheidung gemäß § 67 Abs. 6 StGB ist mithin regelmäßig mit dem Ende des Maßregelvollzugs zu treffen (vgl. auch MüKo-StGB/Maier, 3. Aufl., § 67 Rn. 122b), zumal sich nach Beendigung des Maßregelvollzugs grundsätzlich keine neuen in die Gesamtabwägung einzustellenden Erkenntnisse zum Verlauf und Erfolg des Maßregelvollzugs ergeben können. Die Strafvollstreckungskammer, die eine Entscheidung nach § 67e Abs. 1 StGB zu treffen hat, ist somit regelmäßig schon mit der Entscheidung nach § 67 Abs. 6 Satz 1 StGB befasst.

Das ist hier die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim, die über den Antrag des Verurteilten, den Vollzug der Maßregel in dem Zeitraum vom 1. Juni 2016 bis 28. August 2017 auf die noch zu verbüßenden Freiheitsstrafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Gifhorn gemäß § 67 Abs. 6 StGB anzurechnen, zuständigkeitshalber zu entscheiden hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 393

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner