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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2019
20. Jahrgang
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Von Dr. Momme Buchholz, Kiel[*]
Der Beschluss des 2. Strafsenats wird an dieser Stelle stellvertretend für eine Vielzahl von revisionsgerichtlicher Entscheidungen, in denen die eigene Sachentscheidungskompetenz in Rede steht, besprochen.
Vorliegend verwirft der 2. Strafsenat die Revision teilweise, da nach dessen Auffassung ein Beruhen nicht vorliegt und lässt den Ausspruch über die Gesamtstrafe trotz einer erfolgten Teileinstellung nach § 154 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO bestehen. Der BGH meint ausschließen zu können, dass das mit der Zurückverweisung zuständig werdende Tatgericht auf eine niedrigere Strafe erkennen würde.
Damit umschifft der BGH die Voraussetzungen der revisionsgerichtlichen Sachentscheidungsbefugnisse des § 354 Abs. 1, 1a und b StPO, welche nach dem Bundesverfassungsgericht in verfassungskonformer Weise eng ausgelegt werden müssen.[1]
Die Sachentscheidungskompetenz des Revisionsgerichts spielt in der strafprozessrechtlichen Praxis eine bedeutende Rolle. So soll der BGH in circa 27 % der begründeten Entscheidungen eigene Sachentscheidungen treffen.[2] Der Umgang der Revisionsgerichte mit der in diesem Zusammenhang zentralen Norm des § 354 StPO zeigt sich exemplarisch an dem vorliegenden Beschluss.
Nach einer erfolgreichen Revision gilt der Grundsatz, dass eine Zurückverweisung an eine andere Abteilung oder Kammer der Vorinstanz zu erfolgen hat.[3] Dies ergibt sich zwar nicht aus der Gesetzessystematik; diese scheint auf den ersten Blick sogar dagegen zu sprechen, da die den Grundsatz durchbrechende eigene Sachentscheidungsbefugnis des Revisionsgerichts bereits in den Abs. 1 bis 1b geregelt ist. Nur "in anderen Fällen" bestimmt § 354 Abs. 2 S. 1 StPO den Zurückverweisungsgrundsatz. Jedoch sind die Anwendungsbereiche der Abs. 1 bis 1b vom Wortlaut her derart eng, dass diese "anderen Fälle" nach der Normkonstruktion den Grundsatz abbilden. Aus Gründen der Prozessökonomie werden von diesem Grundsatz in den Abs. 1 bis 1b Ausnahmen gemacht.[4]
Entgegen einer von Teilen der Literatur vertretenen Auffassung soll es bei der Beruhensfrage auf die Sicht des (etwaigen) neuen Tatrichters[5] oder des Revisionsgerichts[6] ankommen. Der 2. Strafsenat nimmt hingegen mit weiteren Stimmen der Literatur an, dass die Sicht
des Ausgangsgerichts entscheidend sei.[7] Dies ist richtig. Nach § 337 StPO kommt es auf die Gesetzesverletzung des Ausgangsgerichts an. Daher ist dessen Sicht maßgeblich. Insbesondere kann es nicht auf das Revisionsgericht ankommen, da § 337 StPO gerade keine eigene Sachentscheidungskompetenz verleiht.
Das Landgericht hatte den Angeklagten im dem 2. Strafsenat zur Entscheidung vorgelegten Verfahren wegen vier Delikten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Der 2. Senat stellte bezüglich zwei dieser Delikte das Verfahren ein.
Dass das mit der Zurückverweisung zuständig werdende Gericht auf eine niedrigere Strafe erkennen würde, schloss der BGH zu Unrecht aus. Zwar kann ein solcher Ausschluss dann in Betracht kommen, wenn bei einer Vielzahl von Einzeltaten (dreistelliger Bereich) eine verhältnismäßig geringfügige Anzahl von Taten wegfällt und diese in der Bedeutung für die Verurteilung keine herausragende Stellung einnehmen.[8] Fallen von vier Einzeltaten aber zwei weg, sind sie auch im Verhältnis zu den übrigen zwei Taten von geringem Gewicht, so kann das Revisionsgericht nicht in begründeter Weise ausschließen, dass das Tatgericht nicht zu einer niedrigeren Strafe kommen würde. Deshalb hätte der 2. Strafsenat in der vorliegenden Entscheidung ein Beruhen im Sinne des § 337 StPO annehmen und sodann § 354 Abs. 1, 1a und b StPO prüfen müssen.
§ 354 Abs. 1 StPO gestattet dem Revisionsgericht nur unter sehr engen Vorgaben eigene Sachentscheidungen. Es ist dazu nur dann befugt, wenn "nur auf Freisprechung oder auf Einstellung oder auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet". Die Beschränkung auf diese Fälle, in denen die Rechtsfolge eindeutig oder eine Benachteiligung des Angeklagten ausgeschlossen ist, erklärt sich dadurch, dass das Revisionsgericht zu tatsächlichen Erörterungen selbst nicht befugt ist. Die eigene revisionsgerichtliche Entscheidung nach Abs. 1 erfolgt allein auf Grundlage des tatrichterlich festgestellten Sachverhaltes.[9]
Erkennbar sind diese engen Voraussetzungen vorliegend nicht erfüllt. Der BGH verurteilt den Angeklagten zu der gleichen Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten wie bereits das Landgericht. Weder erfolgte also eine Freisprechung, eine Einstellung oder eine Verurteilung zu einer absolut bestimmten Strafe. Auch wurde nicht auf die gesetzlich niedrigste Strafe erkannt. Insoweit kann sich der 2. Strafsenat vorliegend nicht auf § 354 Abs. 1 StPO in direkter Anwendung stützen.
Auch der durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz aus dem Jahr 2004 eingefügte § 354 Abs. 1a StPO[10] war hier nicht einschlägig. Danach kann das Revisionsgericht eine vom Tatrichter verhängte Strafe zwar auch dann bestehen lassen, wenn sie angemessen ist (S. 1) oder – sofern ein Antrag der Staatsanwaltschaft vorliegt – angemessen herabsetzen (S. 2). Dies allerdings nur dann, wenn die Gesetzesverletzung bei der Zumessung der Rechtsfolge erfolgte. Der 2. Strafsenat stellte jedoch keine Gesetzesverletzung bei der Strafzumessung fest, sondern änderte den Schuldspruch, nachdem auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft eine Teileinstellung gemäß § 154 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO erfolgte.
Es läuft im Ergebnis darauf hinaus, dass der BGH eine analoge Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO hätte prüfen müssen.[11] Diese setzt voraus, dass eine revisionsgerichtliche Entscheidung ohne Änderung oder Ergänzung der tatrichterlichen Feststellungen getroffen werden kann und keine dem Tatrichter vorbehaltene Wertung oder Beurteilung enthält.[12] Selbstverständlich kommt dies aus prozessökonomischen Gründen dann in Betracht, wenn lediglich offensichtliche Versehen und Klarstellungen zu erfolgen haben.[13]
Der BGH nimmt eine analoge Anwendung jedoch in der vorliegenden Fallkonstellation (Aufrechterhaltung der Gesamtstrafe trotz Wegfall von Einzelstrafen) auch dann an, wenn die Aufrechterhaltung aufgrund der Sachlage unter Berücksichtigung von Anzahl und Höhe der bestehen gebliebenen Einzelstrafen zu rechtfertigen ist.[14] Dies ist in hohem Maße kritikwürdig. Denn selbst nach diesen Maßstäben liegt es sehr fern, dass der 2. Strafsenat eine analoge Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO angenommen hätte. Immerhin ist bei insgesamt nur vier verurteilten Taten die Hälfte weggefallen.
Die Ansicht der BGH wird allerdings bereits im Grundsatz in der Literatur zu Recht kritisch gesehen. Denn weder liegt eine planwidrige Regelungslücke vor, noch ist die Interessenlage vergleichbar.[15] § 354 Abs. 1a StPO regelt die Herabsetzung/Aufrechterhaltung des Strafmaßes abschließend, spätestens seit dessen Einführung kann von einer planwidrigen Regelungslücke nicht mehr
ausgegangen werden.[16] Wird der Schuldspruch infolge einer Teileinstellung berichtigt, ist es vielmehr regelmäßig so, dass mit dem reduzierten Schuldspruch auch eine Reduktion der Rechtsfolge naheliegt.[17]
[*] Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Gubitz und Partner, Kiel.
[1] BVerfGE 118, 212, 232 ff. = HRRS 2007 Nr. 647 ; vgl. Kuhne, Die Sachentscheidungsbefugnisse des Revisionsgerichts, 2018, S. 75 ff. mit weiteren Nachweisen zur Genese der Entscheidung.
[2] Berenbrink GA 2008, 625, 630.
[3] Eine nähere Bestimmung des Spruchkörpers ist dem Revisionsgericht folglich verwehrt, vgl. KK-StPO/Gericke, 7. Aufl. 2013, § 354 Rn. 29.
[4] Zudem wird daneben auch auf den Schutz des Angeklagten rekurriert, welchem durch die Sachentscheidung des Revisionsgerichts eine erneute Hauptverhandlung ohne jeden Ertrag erspart werden soll, vgl. BeckOK-StPO/Wiedner, 31. Edition 15.10.2018, § 354 Rn. 3.
[5] Dehne-Niemann ZIS 2008, 239, 246; Scheffler NStZ 1992, 297, 298.
[6] Frisch, Revisionsrechtliche Probleme, S. 295.
[7] Vgl. Rn. 3; siehe auch Kuhne, Die Sachentscheidungsbefugnisse des Revisionsgerichts, 2018, S. 28 f.; Gribbohm NJW 1980, 1440, 1441; Sander StraFo 2010, 365, 366.
[8] Vgl. BeckOK-StPO/Wiedner, 31. Edition 15.10.2018, § 354 Rn. 76.
[9] Vgl. BeckOK-StPO/Wiedner, 31. Edition 15.10.2018, § 354 Rn. 5.
[10] Siehe BVerfGE 118, 212= HRRS 2007 Nr. 647 zur Verfassungsmäßigkeit der Norm: Zwar sei die Norm noch verfassungsgemäß, seine Anwendung solle jedoch in verfassungskonformer Auslegung erfolgen. Wie sich das Verfassungsgericht dies konkret vorstellt, hat es leider nicht beschrieben.
[11] Vgl. weitere Fälle aus der Rechtsprechung: BGH NStZ 2007, 476 = HRRS 2007 Nr. 447 (364 Fälle der Untreue, Wegfall von 9 Fällen); BGH HRRS 2007 Nr. 1052 (9 Fälle des sexuellen Missbrauchs, Einsatzstrafe 3 Jahre 9 Monate, Wegfall der geringsten Einzelstrafe von 6 Monaten); BGH HRRS 2009 Nr. 216 (9 verbleibende Freiheitsstrafen zwischen 1 Jahr 3 Monaten und 2 Jahren 9 Monaten, Wegfall der geringsten Strafe von 1 Jahr).
[12] BGH NStZ 2008, 213 = HRRS 2008 Nr. 92.
[13] Auch wenn sogar in diesen Fällen an der Planwidrigkeit der Regelungslücke gezweifelt werden kann.
[14] Vgl. nur BGH NStZ-RR 2014, 291, 292 = HRRS 2014 Nr. 745; BGH HRRS 2007 Nr. 1128; BGH HRRS 2009 Nr. 350; BGH HRRS 2016 Nr. 521.
[15] Kuhne, Die Sachentscheidungsbefugnisse des Revisionsgerichts, 2018, S. 314, 340 ff. mit weiteren Nachweisen.
[16] Kuhne, Die Sachentscheidungsbefugnisse des Revisionsgerichts, 2018, S. 369 f.: "Durch das Unterlassen der eigentlich gebotenen Zurückverweisung an ein neues Tatgericht entstehen zudem erneut Bedenken im Hinblick auf das Recht auf den gesetzlichen Richter, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG."
[17] Vgl. MüKoStPO/Knauer/Kudlich, 1. Aufl. 2019, StPO § 354 Rn. 56.