HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2019
20. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

366. BVerfG 2 BvR 675/14 (Zweiter Senat) - Beschluss vom 12. März 2019 (LG Rostock / AG Rostock)

Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Einrichtung eines richterlichen Bereitschaftsdienstes (Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung; präventiver Richtervorbehalt für Durchsuchungsanordnungen; Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden bei Gefahr im Verzug; Erfordernis uneingeschränkter Erreichbarkeit eines richterlichen Bereitschaftsdienstes zur Tageszeit; verfassungsrechtlich gebotener Schutz vor nächtlichen Wohnungsdurchsuchungen; Nachtzeit nach heutigen Lebensgewohnheiten ganzjährig zumindest von 21 Uhr bis 6 Uhr; ermittlungsrichterlicher Bereitschaftsdienst zur Nachtzeit nur bei über den Ausnahmefall hinausgehendem praktischem Bedarf; Beurteilungs- und Prognosespielraum bei der Bedarfsermittlung durch die Gerichtspräsidien; Pflicht der Fachgerichte zur Überprüfung der Ausgestaltung der Bereitschaftsdienstzeiten).

Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 104 Abs. 3 StPO; § 105 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 758a Abs. 4 Satz 2 ZPO; § 21e Abs. 1 Satz 1 GVG

1. Aus Art. 13 GG ergibt sich die Verpflichtung der staatlichen Organe, dafür Sorge zu tragen, dass die effektive Durchsetzung des grundrechtssichernden Richtervorbehaltes gewährleistet ist. Damit korrespondiert die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters, auch durch die Einrichtung eines Bereitschaftsdienstes, zu sichern. (BVerfG)

2. Zu den Anforderungen an einen dem Gebot der praktischen Wirksamkeit des Richtervorbehalts entsprechenden richterlichen Bereitschaftsdienst gehört die uneingeschränkte Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters bei Tage, auch außerhalb der üblichen Dienststunden. Die Tageszeit umfasst dabei ganzjährig die Zeit zwischen 6 Uhr und 21 Uhr. Während der Nachtzeit ist ein ermittlungsrichterlicher Bereitschaftsdienst jedenfalls bei einem Bedarf einzurichten, der über den Ausnahmefall hinausgeht. (BVerfG)

3. Ob und inwieweit ein über den Ausnahmefall hinausgehender Bedarf an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen die Einrichtung eines ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes zur Nachtzeit erfordert, haben die Gerichtspräsidien nach pflichtgemäßem Ermessen in eigener Verantwortung zu entscheiden. Für die Art und Weise der Bedarfsermittlung steht ihnen ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu. (BVerfG)

4. Dem Gewicht des mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in die räumliche Privatsphäre entspricht es, dass die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehalten ist. Der präventive Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Wohnungsgrundrechts und zielt auf eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz. (Bearbeiter)

5. Die für die Organisation der Gerichte und die Rechtsstellung der dort tätigen Ermittlungsrichter zuständigen Organe haben für eine sachliche und personelle Ausstattung der Gerichte zu sorgen, die eine wirksame präventive richterliche Kontrolle von Wohnungsdurchsuchungen gewährleistet. (Bearbeiter)

6. Entsprechend der Bedeutung des verfassungsrechtlichen Richtervorbehalts ist der unbestimmte Rechtsbegriff der Gefahr im Verzug, die eine Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden zur Anordnung von Durchsuchungen eröffnet, eng auszulegen. Voraussetzung ist, dass eine richterliche Anordnung nicht mehr eingeholt werden kann, ohne dass ein Beweismittelverlust droht. (Bearbeiter)

7. Die Annahme von Gefahr im Verzug kann nicht allein mit dem abstrakten Hinweis begründet werden, eine richterliche Entscheidung sei gewöhnlich zu einer bestimmten Zeit mangels Erreichbarkeit eines zuständigen Richters nicht zu erlangen. In einem solchen Fall besteht vielmehr nur dann Gefahr im Verzug, wenn ein richterlicher Bereitschaftsdienst zu dieser Zeit im Einklang mit Art. 13 Abs. 2 GG nicht eingerichtet wurde und ein Zuwarten bis zur Erreichbarkeit eines Richters nicht möglich ist. (Bearbeiter)

8. Hinsichtlich der erforderlichen Erreichbarkeit eines richterlichen Bereitschaftsdiensts differenziert das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung zwischen Tages- und Nachtzeit. Die Erfahrung, dass tagsüber regelmäßig ein deutlich größerer Bedarf an Durchsuchungsanordnungen besteht als während der Nachtstunden, gebietet tagsüber die uneingeschränkte Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters unabhängig vom konkreten Bedarf. (Bearbeiter)

9. Nächtliche Durchsuchungen sind von Verfassungs wegen nur ausnahmsweise zulässig, weil eine Wohnungsdurchsuchung während dieser Zeit nicht allein in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Wohnungsinhabers, sondern darüber hinaus auch in dessen Nachtruhe und in die damit verbundene besondere Privatsphäre eingreift. (Bearbeiter)

10. Die Definition der Nachtzeit in § 104 Abs. 3 StPO wird dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutz vor nächtlichen Wohnungsdurchsuchungen nicht vollständig gerecht. Sie berücksichtigt nicht, dass angesichts der seit der Schaffung der Strafprozessordnung veränderten soziokulturellen Verhältnisse und der heutigen Lebensgewohnheiten zumindest die Stunden von 21 Uhr bis 6 Uhr ganzjährig als Nachtzeit anzusehen sind. (Bearbeiter)

11. Während der Nachtzeit ist die Einrichtung eines ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdiensts von Verfassungs wegen nur geboten, soweit in dem jeweiligen Gerichtsbezirk ein über den Ausnahmefall hinausgehender praktischer Bedarf besteht. Inwieweit dies der Fall ist, haben die Gerichtspräsidien nach pflichtgemäßem Ermessen in eigener Verantwortung zu entscheiden. Für die Art und Weise der Bedarfsermittlung steht ihnen ein Beurteilungs- und Prognosespielraum zu. Neben statistischen Erhebungen können dabei auch plausible Erfahrungswerte wie die Bevölkerungsdichte, die geographische Lage oder die Kriminalitätsbelastung des Gerichtsbezirks zugrunde gelegt werden. (Bearbeiter)

12. Die eine Durchsuchung für rechtmäßig erklärende Beschwerdeentscheidung verletzt das Wohnungsgrundrecht, wenn sie für die Beurteilung einer Gefahr im Verzug allein darauf abstellt, ob ein Zuwarten bis zum Beginn des vorhandenen ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes den Durchsuchungszweck gefährdet hätte. Das Beschwerdegericht ist vielmehr auch gehalten, zu prüfen, ob die konkrete Ausgestaltung der Bereitschaftsdienstzeiten den Anforderungen aus Art. 13 GG gerecht wird. Letzteres ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn an Samstagen zwischen 6 Uhr und 10 Uhr ein Ermittlungsrichter nicht erreichbar ist. (Bearbeiter)


Entscheidung

365. BVerfG 2 BvR 252/19 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 28. März 2019 (LG Augsburg / AG Augsburg)

Einstweilige Anordnung gegen einen Bewährungswiderruf wegen nicht erbrachter Abstinenznachweise (Abgabe von Urinkontrollen; Bewährungswiderruf nur bei gröblichem oder beharrlichem Weisungsverstoß; Erfordernis eines kausalen Zusammenhangs zwischen Weisungsverstoß und negativer Legalprognose; Rechtsstaatsprinzip; Überwiegen des Freiheitsgrundrechts bei der Folgenabwägung).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 56c StGB; § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB

1. Der Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB ist nur bei einem gröblichen oder beharrlichen Weisungsverstoß möglich. Der Bewährungswiderruf ist keine Strafe für den Weisungsverstoß. Ebensowenig lässt der Verstoß gegen eine

Weisung ohne weiteres Rückschlüsse auf eine kriminelle Prognose zu. Vielmehr haben die Fachgerichte im Rahmen einer Gesamtwürdigung im Einzelnen zu prüfen, inwieweit gerade aufgrund des Weisungsverstoßes die Gefahr weiterer Straftaten besteht.

2. Eine Widerrufsentscheidung wegen Verstößen gegen die Weisung, Urinproben zur Abstinenzkontrolle abzugeben, die möglicherweise auf einer Verletzung der genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen beruht, unterliegt der Aussetzung im Wege der einstweiligen Anordnung, weil bei der gebotenen Rechtsfolgenabwägung das Freiheitsgrundrecht das staatliche Interesse an einer unverzüglichen Strafvollstreckung überwiegt.


Entscheidung

363. BVerfG 2 BvQ 11/19 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. März 2019 (AG Frankfurt am Main)

Erfolgloser Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Auswertung sichergestellter Datenträger (Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; Geltung auch im verfassungsgerichtlichen Eilrechtsschutzverfahren; Ausschöpfung des fachgerichtlichen Rechtsschutzes; Einlegung der Beschwerde; Antrag auf Aussetzung der Vollziehung).

§ 32 Abs. 1 BVerfGG; § 92 Abs. 2 BVerfGG; § 110 StPO; § 304 StPO; § 307 Abs. 2 StPO

Aufgrund des auch im verfassungsgerichtlichen Eilrechtsschutzverfahren geltenden Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die vorläufige Sicherstellung von Datenträgern zum Zwecke der Durchsicht nicht in Betracht, solange der Betroffene die Rechtsbehelfe der Beschwerde und eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung nicht ausgeschöpft hat.


Entscheidung

364. BVerfG 2 BvR 229/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 18. Februar 2019 (OLG Karlsruhe / LG Freiburg im Breisgau / AG Freiburg im Breisgau)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Zurückweisung von Befangenheitsanträgen (Anfechtbarkeit mit der Revision; keine isolierte Anfechtung mit der Verfassungsbeschwerde; Grundsatz der Subsidiarität).

§ 92 Abs. 2 BVerfGG; § 28 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 338 Nr. 3 StPO

Die Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs unterliegt der Anfechtung im Rahmen der Revision gegen die Entscheidung in der Hauptsache; der isolierten Anfechtung mit der Verfassungsbeschwerde ist sie hingegen entzogen.