HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2011
12. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

69. BGH 1 StR 497/10 – Beschluss vom 3. November 2010 (LG Mosbach)

BGHR; Konnexitätserfordernis beim Beweisantrag (bestimmte Behauptung der begründenden Tatsachen; Behauptung „aufs Geratewohl“; Darlegungsanforderungen an eine Verfahrensrüge; Recht auf Verfahrensfairness: Dialog); Beweisermittlungsantrag.

Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK; § 244 Abs. 3 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Bedarf es der Darlegung der Konnexität, so hat der Antragsteller die Tatsachen, die diese begründen sollen, bestimmt zu behaupten. (BGHR)

2. Ein Beweisantrag im Sinne des § 244 StPO setzt als erstes Erfordernis die konkrete und bestimmte Behauptung einer Tatsache voraus. Zweitens ist ein bestimmtes Beweismittel zu benennen, mit dem der Nachweis der Tatsache geführt werden soll. Sind diese beiden Voraussetzungen erfüllt, kann je nach der Fallgestaltung eine dritte hinzutreten, die sog. Konnexität zwischen Beweismittel und Beweisbehauptung. Darunter ist im Falle des Zeugenbeweises zu verstehen, dass der Antrag erkennen lassen muss, weshalb der Zeuge überhaupt etwas zu dem Beweisthema bekunden können soll, etwa weil er am Tatort war, in der Nachbarschaft wohnt, eine Akte gelesen hat usw. (BGHSt 43, 321, 329 f. mwN). (Bearbeiter)

3. Dieser Zusammenhang zwischen Beweistatsache und Beweismittel wird sich in vielen Fällen von selbst verstehen. Es sind aber auch Konstellationen denkbar, in denen zwar konkrete und bestimmte Behauptungen aufgestellt werden, denen eigene Wahrnehmungen eines Zeugen zugrunde liegen sollen, der Antrag jedoch nicht erkennen lässt, weshalb der Zeuge seine Wahrnehmung hat machen können. Verhält es sich so, bedarf es der näheren Darlegung des erforderlichen Zusammenhangs, der Konnexität zwischen Beweistatsache und Beweismittel (BGHSt 43, 321, 330). (Bearbeiter)

4. Es muss dem Tatgericht plausibel gemacht werden, dass der benannte Zeuge in der Lage gewesen ist, die Beweistatsache wahrzunehmen (BGHSt 52, 284, 287). In der Antragsbegründung ist insoweit ein nachvollziehbarer Grund anzugeben (BGH NStZ 2006, 585, 586), zumal dann, wenn keine Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, weshalb ein Zeuge das Gegenteil dessen gesagt haben soll, was er zuvor in einem an den gleichen Gesprächspartner gerichteten Brief bekundet hatte. (Bearbeiter)

5. Einem Beweisbegehren muss nach bisheriger Rechtsprechung nicht (oder nur nach Maßgabe der Aufklärungspflicht) nachgegangen werden, wenn die Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne begründete Vermutung für ihre Richtigkeit aufs Geratewohl, d.h. „ins Blaue hinein“ aufgestellt wird, so dass es sich in Wahrheit nur um einen nicht ernst gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag handelt. Ob es sich um einen solchen handelt, ist aus der Sicht eines „verständigen“ Antragstellers auf der Grundlage der von ihm selbst nicht in Frage gestellten Tatsachen zu beurteilen (zusammenfassend BGH NStZ 2008, 474 mwN; s. auch BGH NJW 1997, 2762, 2764; BGH NStZ 2003, 497). (Bearbeiter)


Entscheidung

68. BGH 1 StR 400/10 - Beschluss vom 20. Oktober 2010 (LG Memmingen)

Unterlassene Mitteilung von Verständigungsgesprächen im Zwischenverfahren (Zuständigkeit des Vorsitzenden; Beruhen; Bemessung der Sanktionsschere: keine festen Grenzen); Betrug (Vermögensschaden; nachträgliche Schadensverlagerung: tatsächliche Wiederverkaufsmöglichkeit bei minderwertigen Fleisch).

§ 263 StGB; § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO; § 202a StPO; § 257c StPO; § 337 StPO; § 338 StPO

1. Die Frage nach dem Vorliegen einer unzulässig weit geöffneten „Sanktionsschere“ bezieht sich auf den Zeitpunkt der Verständigungsgespräche. Der Unterschied in der – antizipierten – Strafzumessungsbewertung im Falle eines streitigen Verfahrens im Vergleich zum einvernehmlichen Verfahren liegt zwar allein in der Ablegung eines Geständnisses und dessen Folgen, wie Verkürzung der Hauptverhandlung oder Schonung der Opfer der Straftat. Das Gewicht eines Geständnisses kann allerdings in verschiedenen Verfahren sehr unterschiedlich sein. Deshalb verbietet sich eine mathematische Betrachtung, etwa der angemessene Strafrabatt dürfe in der Regel nicht mehr als 20 % bis 30 % betragen. Maßgeblich sind immer die Verhältnisse des Einzelfalls.

2. Kommt es mangels einer Verständigung zu einer langen Hauptverhandlung mit einer umfangreichen Beweiserhebung, so kann sich der aus den Akten gewonnene Eindruck von Tat und Täter im Einzelfall entscheidend verändern, zum Vor- oder zum Nachteil des Angeklagten. Dem früher für den Fall eines Geständnisses genannten Strafrahmen (§ 257c Abs. 3 StPO) kann dann keine Orientierung zukommen, ebenso wenig einer anfangs für den Fall einer streitigen Hauptverhandlung prognostizierten Strafe. Eines besonderen Hinweises darauf bedarf es nicht. Feste, gar mathematisch bestimmte Regeln über die Ausrichtung der Strafhöhe nach der Durchführung eines „streitigen“ Verfahrens an der für den Falle eines Geständnisses vor oder zu Beginn der Hauptverhandlung genannten Obergrenze verbieten sich deshalb. Eine Strafe kann ohne Geständnis auch mehr als ein zusätzliches Drittel über der im Rahmen der Verständigungsgespräche genannten Strafobergrenze liegen.

3. Mitzuteilen sind gemäß §§ 202a, 212 StPO Erörterungen des Gerichts mit den Verfahrensbeteiligten. Sondierende Äußerungen allein des bzw. der Vorsitzenden einer großen Strafkammer beim Landgericht können nicht ohne weiteres als Erklärungen der Strafkammer verstanden werden. Nur vom Gericht geführte oder ausdrücklich autorisierte Erörterungen sind aktenkundig zu machen (§ 202a Satz 2 StPO) und in der Hauptverhandlung nach Verlesung des Anklagesatzes mitzuteilen (243 Abs. 4 Satz 1 StPO). Dies ist dann auch in der Sitzungsniederschrift zu vermerken (§ 273 Abs. 1a Satz 2 1. Alt. StPO).

4. Einem Verstoß gegen § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO kommt keine absoluten Revisionsgründen entsprechende Wirkung zu. Er führt nicht zu der unwiderlegbaren Vermutung, wonach bei einer Verletzung der Norm eine Beeinflussung des Urteilsspruchs nie ausgeschlossen werden kann.

5. Einem für den Fall eines Geständnisses vor oder zu Beginn einer Hauptverhandlung in den Raum gestellten Strafrahmen kommt für die Strafzumessung nach langer streitiger Hauptverhandlung in der Regel keine Bedeutung mehr zu, so dass einer mangelnden Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO in der Regel auch kein Beruhen zukommt. Dies gilt ebenso für eine in diesem Zusammenhang genannte zu erwartende Strafe für den Fall einer Verurteilung ohne ein Geständnis.

6. Konnte der getäuschte Abnehmer von Fleischprodukten, die entgegen der Angaben des Verkäufers minderwertig sind, diese Fleischprodukte noch vor Aufdeckung der Tat gutgläubig als Lebensmittel weiterverkaufen, verhindert dies nicht die Annahme eines Vermögensschadens. Es liegt allein eine nachträgliche Schadensverlagerung vor.


Entscheidung

48. BGH 5 StR 433/10 - Beschluss vom 26. Oktober 2010 (LG Braunschweig)

Letztes Wort; schlüssiger Wiedereintritt in die Verhandlung (Verkündung eines Beschlusses; Zum-Ausdruck-Bringen eines fortbestehenden Tatverdachts).

§ 258 StPO; § 257c StPO; § 337 StPO

1. Die, wenngleich begründungslose, exklusive Aufhebung eines Haftbefehls gegen einen Mitangeklagten vor Urteilsverkündung stellt einen schlüssigen Wiedereintritt in die Verhandlung dar.

2. Dies gilt nur für den von der Aufhebung des Haftbefehls nicht betroffenen Angeklagten, wenn der verkündete Beschluss eine Bestätigung und einen teilweisen Vollzug einer nur mit dem frei gelassenen Mitangeklagten getroffenen Verständigung vor der später anberaumten Urteilsverkündung darstellt. Hinsichtlich des frei gelassenen Mitangeklagten fehlt es demgegenüber am Beruhen.

3. Das Landgericht bringt durch eine nicht sofortige Bescheidung des Antrags der Staatsanwaltschaft auf Haftbefehlsaufhebung im Gegensatz zum Mitangeklagten schlüssig das Fortbestehen eines dringenden Tatverdachts gegen diesen, einen Freispruch erstrebenden Angeklagten zum Ausdruck. Dem Beschluss des Landgerichts ließ sich für ihn entnehmen, dass das Gericht – bei offener Beweislage – das Geständnis des Mitangeklagten zu seinem Nachteil verwerten und ihn zu einer zu vollstreckenden Freiheitsstrafe verurteilen könnte, weshalb ihm unter diesen Aspekten die Gelegenheit zu geben war, hierzu abschließend nochmals Entlastendes vorzubringen.


Entscheidung

100. BGH 4 StR 359/10 - Beschluss vom 28. Oktober 2010 (LG Bielefeld)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrages wegen Prozessverschleppungsabsicht (Rechtliches Gehör; Wahrheitsaufklärung; Aufklärungspflicht; Recht auf effektive Verteidigung; Präklusion).

§ 244 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 246 StPO

1. Die Strafprozessordnung gestaltet das Strafverfahren als einen vom Prinzip der materiellen Wahrheitserforschung beherrschten Amtsprozess aus, in dem das Gericht von Amts wegen zur Erforschung der Wahrheit verpflichtet ist. Dem Gebot der Sachaufklärung kommt dabei auch gegenüber dem Interesse an einer Verfahrensbeschleunigung und der Verhinderung bzw. Abwehr eines missbräuchlichen Verhaltens, wie der Stellung eines Beweisantrags zum Zwecke der Prozessverschleppung, grundsätzlich der Vorrang zu. Gebietet daher die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit, einem Beweisantrag in der Sache nachzugehen, darf er nicht wegen Prozessverschleppung abgelehnt werden (BVerfG NJW 2010, 592, 593 [Rn. 18], 594 [Rn. 26]; BGH NStZ 2010, 161 f.).

2. Die Frage, ob eine Beweiserhebung der Sachaufklärung dient, muss der Tatrichter in dem Beschluss, mit dem er den Beweisantrag wegen Verschleppungsabsicht ablehnt, beantworten. Nur dann kann das Revisionsgericht überprüfen, ob die Ablehnung rechtsfehlerfrei erfolgt ist. Dagegen obliegt es dem Revisionsgericht als bloßer Rechtsinstanz - ähnlich der Überprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung - jedenfalls grundsätzlich nicht, die Sachdienlichkeit der Beweiserhebung selbst zu prüfen und gegebenenfalls zu verneinen. Fehlt es einem beanstandeten Beschluss aber an jeglicher Darlegung dazu, weshalb der Beweis nichts Entlastendes für den Beschwerdeführer erbringen können soll, ist es dem Senat verwehrt, eine nach den Umständen nicht auf der Hand liegende Beurteilung vorzunehmen, ob eine beantragte Vernehmung der Erforschung der Wahrheit dienlich gewesen wäre.


Entscheidung

67. BGH 1 StR 145/10 - Beschluss vom 17. November 2010 (LG Mannheim)

Beweisantrag (Unzulässigkeit der Vernehmung eines späteren Mitangeklagten; zwischenzeitliche Verfahrensverbindung; Zeitpunkt der Entscheidung; Recht auf ein faires Verfahren; Recht auf Ladung und Vernehmung eines Entlastungszeugen); ausreichende Kompensation der Verletzung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung.

Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d EMKR; § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO; Art. 13 EMRK

1. Ein Mitangeklagter kann nicht Zeuge sein, so dass ein Beweisantrag auf seine Vernehmung unzulässig ist im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO. Dies gilt auch dann, wenn das Verfahren gegen den Mitangeklagten zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht verbunden war, zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag aber mit dem des Antragstellers verbunden war.

2. Das Tatgericht ist auch nicht gehalten, unverzüglich nach Antragstellung eine Entscheidung zu treffen, sondern konnte diese längstens bis zu dem in § 258 Abs. 1 StPO bezeichneten Schluss der Beweisaufnahme zurückstellen. Angeklagter und Verteidigung haben keinen Anspruch auf sofortige oder alsbaldige Entscheidung. Es entspricht vielmehr dem Grundsatz der Prozessökonomie, über einen Beweisantrag erst dann zu entscheiden, wenn hierzu eine aus Sicht des Gerichts hinreichend zuverlässige Entscheidungsgrundlage besteht, die durch einen möglichen oder gar nahe liegenden weiteren Verfahrensverlauf nicht alsbald wieder in Frage gestellt werden würde. Nur ausnahmsweise können besondere Umstände – etwa unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensfairness – eine zeitnahe Verbescheidung des Beweisantrags erfordern.

3. Bei der Bemessung der Höhe einer Kompensation wegen der Verletzung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung ist auch in den Blick zu nehmen, dass eine überzogene strafmildernde Berücksichtigung des Zeitfaktors als Folge justizieller Mängel generell den Zielen effektiver Verteidigung der Rechtsordnung zuwiderliefe; dies gilt namentlich im Bereich - hier gegebener - schwerer Wirtschaftskriminalität (vgl. BGH wistra 2006, 428).


Entscheidung

114. BGH 4 StR 530/10 - Beschluss vom 16. November 2010 (LG Essen)

Verstoß gegen eine Wahrunterstellung (Beweisantrag).

§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs müssen sich die Urteilsgründe zwar nicht stets mit einer als wahr unterstellten Behauptung auseinandersetzen. Eine Stellungnahme ist aber dann erforderlich, wenn nicht ohne Weiteres zu ersehen ist, wie die Beweiswürdigung mit der Wahrunterstellung in Einklang gebracht werden kann, oder wenn aus sonstigen Gründen ohne ausdrückliche Erörterung der als wahr unterstellten Tatsache die Überlegungen des Gerichts zur Beweisführung lückenhaft bleiben (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 36; BGH StV 2002, 641, 642).


Entscheidung

16. BGH 3 StR 451/09 - Beschluss vom 19. Januar 2010 (LG Hannover)

Zurückweisung eines Beweisantrags (Vernehmung eines Auslandszeugen; Begründung); Beweisantizipation (Darstellung in den Urteilsgründen; Darlegung der wesentlichen Gesichtspunkte).

§ 244 Abs. 5 Satz 2, Abs. 6 StPO

1. Die Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung eines Auslandszeugen ist zwar gemäß § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO gestattet. Sie bedarf aber eines Gerichtsbeschlusses (§ 244 Abs. 6 StPO), der zu begründen ist. Diese Begründung hat die Funktion, den Antragsteller davon zu unterrichten, wie das Gericht den Antrag bewertet, damit er in der Lage ist, sich in seiner Verteidigung auf die Verfahrenslage einzustellen, die durch die Ablehnung entstanden ist. Zugleich soll durch die Gründe des Ablehnungsbeschlusses dem Revisionsgericht die rechtliche Überprüfung der tatrichterlichen Entscheidung ermöglicht werden. Hieraus folgt, dass das Tatgericht in seinem Beschluss die für die Ablehnung wesentlichen Gesichtspunkte, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, so doch in ihrem wesentlichen Kern nachvollziehbar darlegen muss (BGHSt 40, 60, 63).

2. Liegt eine – wie in diesem Fall – fehlerhafte Begründung vor, kann das Revisionsgericht die notwendige vorweggenommene Beweiswürdigung des Tatgerichts nicht durch eine eigene Bewertung ersetzen (BGH NJW 2005, 2322, 2323).


Entscheidung

79. BGH 2 StR 331/10 - Beschluss vom 27. Oktober 2010 (LG Kassel)

Absoluter Revisionsgrund der unbeachteten Urteilsabsetzungsfrist (tatsächliche Verhinderung an der Unterschriftsleistung: Grenzen des Beurteilungsspielraum des Vorsitzenden und Einsatz eines Proberichters).

Art. 6 EMRK; § 338 Nr. 7 StPO; § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO

1. Zwar kann die Versetzung an ein anderes Gericht im Einzelfall der Unterzeichnung des Urteils entgegenstehen (vgl. BGHR StPO § 275 Abs. 2 Satz 2 Verhinderung 1 und 3; BGH NStZ-RR 1999, 46). Auch kann die Überlastung mit anderen Dienstgeschäften grundsätzlich einen Verhinderungsgrund darstellen. Voraussetzung ist aber stets, dass sich der Vorsitzende ernsthaft darum bemüht hat, dem in § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO formulierten Gebot, dass das Urteil von allen mitwirkenden Berufsrichtern zu unterschreiben ist, Geltung zu verschaffen. Bei der Unterzeichnung eines Strafurteils handelt es sich nämlich um ein dringliches unaufschiebbares Dienstgeschäft, weshalb der Vorsitzende verpflichtet ist, rechtzeitig organisatorische Vorsorge für die Erfüllung dieser Pflicht zu treffen (BGH NStZ 2006, 586).

2. Der Vorsitzende muss gegebenenfalls Absprachen mit einem versetzten Proberichter treffen, um die – auch im Sinne des Beschleunigungsgebots – eine zeitnahe Unterschriftsleistung zu ermöglichen. Eine nach Fertigstellung des Urteilsentwurfs von einem Proberichter behauptete überlastungsbedingte Verhinderung darf er nicht ohne weiteres hinnehmen. Er hat die behauptete dienstliche Belastung oder Tätigkeit des Proberichters im Hinblick darauf zu bewerten und zu gewichten, dass es sich bei der Mitwirkung an der Fertigstellung des Urteils um ein unaufschiebbares Dienstgeschäft handelt. Er muss gegebenenfalls bei der Justizverwaltung auch auf eine Entlastung des Proberichters hinwirken.


Entscheidung

59. BGH 5 StR 485/10 - Beschluss vom 9. Dezember 2010 (LG Neuruppin)

Urteilsabsetzungsfrist (Überschreiten; hinreichende Rechtfertigung; gesundheitliche Probleme; Verantwortung des Vorsitzenden; Verantwortung der Berufsrichter).

§ 275 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 338 Nr. 7 StPO

1. Ein Irrtum über die Dauer der Hauptverhandlung kann die verspätete Absetzung des Urteils nicht rechtfertigen.

2. Nicht nur der Berichterstatter, sondern alle berufsrichterlichen Mitglieder des Spruchkörpers sind für eine Einhaltung der Frist nach § 275 Abs. 1 StPO verantwortlich. Das Urteil muss notfalls durch den zweiten beisitzenden Richter abgefasst und fertig gestellt werden, wenn die anderen Berufsrichter verhindert sind. Eine Ausnahme besteht nur dann, wenn nach den Geschäftsverhältnissen des Spruchkörpers und der Belastung seiner Mitglieder diesen das nicht möglich und zumutbar ist (vgl. BGHSt 26, 247, 249).

3. Andere Dienstgeschäfte des Berichterstatters, etwa auch die Teilnahme an einer Hauptverhandlung, müssen zur rechtzeitigen Abfassung des Urteils zurücktreten.


Entscheidung

82. BGH 2 StR 403/10 - Beschluss vom 10. November 2010 (LG Koblenz)

Beweiswürdigung bei Aussage gegen Aussage (Vermutungen; mangelnde Aussagekonstanz; Detailarmut; Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes).

§ 261 StPO; § 176a StGB

1. In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (st. Rspr. vgl. nur BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 13 und 14). Dies gilt insbesondere dann, wenn der einzige Belastungszeuge nur ausgesprochen detailarm berichtet.

2. Die Detailarmut der Angaben einer Nebenklägerin kann Auswirkungen auf die Aussagekraft des Konstanzkriteriums für die Bewertung der Glaubhaftigkeit einer Aussage haben. Die Konstanz der Angaben der Nebenklägerin darf letztlich nicht damit begründet werden, dass sie in Übereinstimmung mit ihrer polizeilichen Aussage auch im Rahmen der Hauptverhandlung keine näheren Details zu berichten wusste.


Entscheidung

2. BGH 3 StR 141/09 - Beschluss vom 29. Oktober 2009 (LG Osnabrück)

Verweisung einer Sache an ein Gericht höherer Ordnung durch das Berufungsgericht (implizite Aufhebung des Urteils des ersten Tatrichters); horizontale Teilrechtskraft (Wegfall bei Vorliegen eines Prozesshindernisses); Verschlechterungsverbot.

§ 328 StPO; § 331 Abs. 2 StPO; § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO

1. Verweist das Berufungsgericht in Fällen, in denen das zuerst mit der Sache befasste Gericht seine sachliche Zuständigkeit überschritten hat, die Sache an das zuständige Gericht, so führt dies zum Fortfall des mit der Berufung angefochtenen Urteils, weil in einem Verfahren nur Raum für ein Urteil erster Instanz ist. Dies gilt - über den Wortlaut des § 328 Abs. 2 StPO hinaus - auch dann, wenn sich erst im Laufe des Berufungsverfahrens herausstellt, dass die Zuständigkeit des Vorderrichters nicht besteht oder bestanden hat.

2. Erwachsen aufgrund eines wirksam beschränkten Rechtsmittels einzelne Bestandteile einer Entscheidung zu einer einheitlichen Tat in Rechtskraft (sog. horizontale Teilrechtskraft), so steht dies der Berücksichtigung eines Prozesshindernisses – etwa der fehlenden sachlichen Zuständigkeit - in einer späteren Entscheidung auch hinsichtlich der bereits rechtskräftig gewordenen Entscheidungsbestandteile nicht entgegen. Hier ist die Rechtsmittelbeschränkung wegen des Fehlens einer Verfahrensvoraussetzung unbeachtlich, sodass das Rechtsmittel als unbeschränkt eingelegt anzusehen ist.


Entscheidung

22. BGH 3 StR 507/09 - Beschluss vom 13. Januar 2010 (LG Hannover)

Besetzungsrüge; gesetzlicher Richter; Geschäftsverteilung (Präsidiumsbeschluss; ausschließliche Übertragung bereits anhängiger Verfahren; hohe Begründungsanforderungen; eingehende Darlegung der Überlastung; Beschleunigungsgebot); Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft.

§ 338 Nr. 1 StPO; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 21e GVG; § 233 StGB

1. § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG erlaubt dem Präsidium die Änderung der Geschäftsverteilung während eines laufenden Geschäftsjahres, wenn dies wegen Überlastung eines Spruchkörpers erforderlich wird. Zu diesem Zweck kann auch eine Hilfsstrafkammer eingerichtet werden, der Verfahren nach allgemeinen sachlich-objektiven Kriterien zugewiesen werden. Die Zuweisung bereits anhängiger Verfahren ist grundsätzlich nur möglich, wenn die Neuregelung generell gilt, also auch eine unbestimmte Vielzahl künftiger gleichartiger Fälle erfasst (vgl. BVerfG NJW 2003, 345; 2005, 2689 f. m.w.N.). Nur in Ausnahmefällen, wenn allein so dem Beschleunigungsgebot Rechnung getragen werden kann, ist eine beschränkte Zuweisung allein bereits eingegangener Verfahren zulässig (vgl. BVerfG NJW 2009, 1734 f.).

2. In Anbetracht des Ausnahmecharakters solcher Fälle und des Gewichts des Grundsatzes des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist dann eine detaillierte Dokumentation der Gründe, die eine derartige Umverteilung erfordern, nötig (vgl. BGH Urteil vom 9. April 2009 - 3 StR 376/08 - Rdnr. 17; Beschluss vom 4. August 2009 - 3 StR 174/09 - Rdnr. 18). Mängel in der Begründung des Beschlusses kann das Präsidium bis zur Entscheidung über einen nach § 222b StPO erhobenen Besetzungseinwand durch einen ergänzenden, die Gründe für die Umverteilung dokumentierenden Beschluss ausräumen (vgl. BGH Urteil vom 9. April 2009 - 3 StR 376/08 - Rdnr. 20; Beschluss vom 4. August 2009 - 3 StR 174/09 - Rdnr. 22).


Entscheidung

53. BGH 5 StR 466/10 - Beschluss vom 23. November 2010 (LG Hamburg)

Prozesskostenhilfe (wirtschaftliche Verhältnisse; Darlegung in der Revisionsinstanz); Nebenkläger.

§ 114 ZPO; § 177 ZPO; § 397a StPO

Auch wenn der Nebenkläger seine wirtschaftlichen Voraussetzungen vor dem Tatrichter bereits dargelegt hat, ist zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe in der Revisionsinstanz zumindest eine Bezugnahme hierauf erforderlich. Diese ist mit der Versicherung zu verbinden, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht verändert haben.


Entscheidung

7. BGH 3 StR 357/10 - Beschluss vom 9. November 2010 (LG Hannover)

Urteilsgründe (Darstellungsmangel; Beweiswürdigung; eingehende Erörterung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage; Stützung durch weitere Beweismittel; obligatorische Mitteilung).

§ 267 StPO; § 261 StPO

Begründet der Tatrichter die Glaubhaftigkeit der Darstellungen eines zentralen Zeugen ausdrücklich auch mit deren Bestätigung durch weitere Zeugenaussagen und sonstige Beweismittel, so ist es unerlässlich, dass diese die Aussage stützenden Aussagen und Beweismittel wenigstens in ihrem Kerngehalt im Urteil mitgeteilt werden.


Entscheidung

29. BGH 5 StR 297/10 - Urteil vom 9. November 2010 (LG Berlin)

Überzeugungsbildung (Aufgabe des Tatrichters; hinreichende subjektive Gewissheit; überspannte Anforderungen); Beweiswürdigung (Mängel einer einen Mitangeklagten belastenden Einlassung; Verweigerung einer Konfrontation).

§ 261 StPO; § 212 StGB

Im Bereich der vom Tatrichter zu würdigenden Tatsachen ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit ein absolut sicheres Wissen über einen Tathergang, dem gegenüber andere Möglichkeiten seines Ablaufs unter allen Umständen ausscheiden müssten, verschlossen. Es ist also die für die Schuldfrage entscheidende, ihm allein übertragene Aufgabe des Tatrichters, ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen verantwortlich zu prüfen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht.