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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 100

Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 359/10, Beschluss v. 28.10.2010, HRRS 2011 Nr. 100


BGH 4 StR 359/10 - Beschluss vom 28. Oktober 2010 (LG Bielefeld)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrages wegen Prozessverschleppungsabsicht (Rechtliches Gehör; Wahrheitsaufklärung; Aufklärungspflicht; Recht auf effektive Verteidigung; Präklusion).

§ 244 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 246 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Strafprozessordnung gestaltet das Strafverfahren als einen vom Prinzip der materiellen Wahrheitserforschung beherrschten Amtsprozess aus, in dem das Gericht von Amts wegen zur Erforschung der Wahrheit verpflichtet ist. Dem Gebot der Sachaufklärung kommt dabei auch gegenüber dem Interesse an einer Verfahrensbeschleunigung und der Verhinderung bzw. Abwehr eines missbräuchlichen Verhaltens, wie der Stellung eines Beweisantrags zum Zwecke der Prozessverschleppung, grundsätzlich der Vorrang zu. Gebietet daher die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit, einem Beweisantrag in der Sache nachzugehen, darf er nicht wegen Prozessverschleppung abgelehnt werden (BVerfG NJW 2010, 592, 593 [Rn. 18], 594 [Rn. 26]; BGH NStZ 2010, 161 f.).

2. Die Frage, ob eine Beweiserhebung der Sachaufklärung dient, muss der Tatrichter in dem Beschluss, mit dem er den Beweisantrag wegen Verschleppungsabsicht ablehnt, beantworten. Nur dann kann das Revisionsgericht überprüfen, ob die Ablehnung rechtsfehlerfrei erfolgt ist. Dagegen obliegt es dem Revisionsgericht als bloßer Rechtsinstanz - ähnlich der Überprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung - jedenfalls grundsätzlich nicht, die Sachdienlichkeit der Beweiserhebung selbst zu prüfen und gegebenenfalls zu verneinen. Fehlt es einem beanstandeten Beschluss aber an jeglicher Darlegung dazu, weshalb der Beweis nichts Entlastendes für den Beschwerdeführer erbringen können soll, ist es dem Senat verwehrt, eine nach den Umständen nicht auf der Hand liegende Beurteilung vorzunehmen, ob eine beantragte Vernehmung der Erforschung der Wahrheit dienlich gewesen wäre.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 2. Dezember 2009 mit den Feststellungen aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte wegen besonders schwerer Vergewaltigung verurteilt wurde und b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wegen räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung und wegen besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Mit seiner Revision beanstandet der Angeklagte das Verfahren und die Anwendung des materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg, soweit der Angeklagte wegen besonders schwerer Vergewaltigung verurteilt wurde; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Der Angeklagte rügt hinsichtlich seiner Verurteilung wegen besonders schwerer Vergewaltigung mit Recht die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Prozessverschleppung.

a) Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen erzwang der Angeklagte am 13. April 2008 durch Schläge und Drohung mit einer Schusswaffe den Analverkehr mit dem Nebenkläger Tim K. "Hysterisch und verstört" (UA 16) verließ Tim K. anschließend seine Wohnung und ließ sich von einer Zeugin in die Nähe seines Elternhauses fahren. Am Abend traf Tim K. seinen Lebensgefährten, erzählte diesem aber von der Tat zunächst nichts (UA 16); wann (genau) und wo dieses Treffen stattfand, vermochte die Strafkammer nicht festzustellen (UA 63).

Am letzten Tag der Hauptverhandlung stellte der Verteidiger des die Begehung dieser Tat bestreitenden Angeklagten den Antrag, dessen Lebensgefährtin ("Ehefrau") als Zeugin dazu zu vernehmen, dass Tim K. und sein Lebensgefährte am Abend des 13. April 2008 in die Wohnung des Angeklagten gekommen seien, die Zeugin für diese und den Angeklagten Essen und Trinken zubereitet habe und man einige Stunden zusammengesessen sei, "wobei hier in keiner Form über eine etwaige sexuelle Nötigung gesprochen wurde".

Diesen Antrag lehnte die Strafkammer am selben Hauptverhandlungstag ab, da er zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt worden sei. Zur Begründung führte sie aus:

Die Vernehmung der Zeugin T. würde ggfs. die nochmalige Vernehmung der Zeugen K. und W. erfordern. In der bisherigen Beweisaufnahme hat sich für eine Zusammenkunft am Tatabend nichts ergeben. Es kann auch nicht anders als durch eine auf Entlastung des Angekl. ausgerichtete konstruierte Behauptung erklärt werden, dass die Beweisbehauptung erst jetzt in die Hautverhandlung eingeführt wurde.

Denn für den Fall, dass die Behauptung wahr wäre, ist es nicht nachvollziehbar, dass diese Tatsache in der mehrtägigen Beweisaufnahme nicht schon früher, insbes. im Zusammenhang mit der Befragung der Zeugen K. und W. eingeführt worden ist, zumal der Angeklagte sich gerade zu dem Vorwurf der Vergewaltigung auch schon spontan eingelassen hat.

b) Diese Erwägungen tragen die Ablehnung des Beweisantrags nicht.

aa) Die Strafkammer geht zutreffend davon aus, dass es sich bei dem Antrag um einen Beweisantrag handelt.

Der erste Teil der Beweisbehauptung ist unmittelbar auf eine (positive) Wahrnehmung der Zeugin gerichtet (Erscheinen von Tim K. und seines Lebensgefährten in der Wohnung des Angeklagten am Abend des 13. April 2008, Zubereitung von Essen und Getränken). Der zweite Teil der Beweisbehauptung betrifft zwar eine sogenannte Negativtatsache, aber nicht nur ein Beweisziel, sondern den - nach dem Vorbringen des Antragstellers - von der Zeugin selbst wahrgenommenen Inhalt eines Gesprächs. Es liegt also keiner der Fälle vor, in denen aus der unmittelbaren Wahrnehmung der Beweisperson erst darauf geschlossen werden soll, dass ein weiteres Geschehen nicht stattgefunden habe. Die Beweisbehauptung konnte deshalb Gegenstand des Zeugenbeweises sein (vgl. BGH, Urteil vom 26. Januar 2000 - 3 StR 410/99, NStZ 2000, 267, 268; Beschluss vom 15. April 2003 - 1 StR 64/03, NJW 2003, 2761 f.).

bb) Die Ablehnung des Beweisantrags durch die Strafkammer begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Die Strafprozessordnung gestaltet das Strafverfahren als einen vom Prinzip der materiellen Wahrheitserforschung beherrschten Amtsprozess aus, in dem das Gericht von Amts wegen zur Erforschung der Wahrheit verpflichtet ist. Dem Gebot der Sachaufklärung kommt dabei auch gegenüber dem Interesse an einer Verfahrensbeschleunigung und der Verhinderung bzw. Abwehr eines missbräuchlichen Verhaltens, wie der Stellung eines Beweisantrags zum Zwecke der Prozessverschleppung, grundsätzlich der Vorrang zu. Gebietet daher die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit, einem Beweisantrag in der Sache nachzugehen, darf er nicht wegen Prozessverschleppung abgelehnt werden (BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 2009 - 2 BvR 2580/08, NJW 2010, 592, 593 [Rn. 18], 594 [Rn. 26]; BGH, Beschluss vom 10. November 2009 - 1 StR 162/09, NStZ 2010, 161 f.).

Die Frage, ob eine Beweiserhebung der Sachaufklärung dient, muss der Tatrichter in dem Beschluss, mit dem er den Beweisantrag wegen Verschleppungsabsicht ablehnt, beantworten. Nur dann kann das Revisionsgericht überprüfen, ob die Ablehnung rechtsfehlerfrei erfolgt ist. Dagegen obliegt es dem Revisionsgericht als bloßer Rechtsinstanz - ähnlich der Überprüfung der tatrichterlichen Beweiswürdigung - jedenfalls grundsätzlich nicht, die Sachdienlichkeit der Beweiserhebung selbst zu prüfen und gegebenenfalls zu verneinen. Da es in dem beanstandeten Beschluss aber an jeglicher Darlegung dazu fehlt, weshalb der Beweis nichts Entlastendes für den Beschwerdeführer erbringen können soll, ist es dem Senat verwehrt, die - nach den Umständen nicht auf der Hand liegende - Beurteilung vorzunehmen, ob die Vernehmung der Ehefrau des Angeklagten der Erforschung der Wahrheit dienlich gewesen wäre (vgl. auch BGH, Beschluss vom 18. September 2008 - 4 StR 353/08, NStZ-RR 2009, 21).

2. Die deshalb gebotene Aufhebung der Verurteilung wegen besonders schwerer Vergewaltigung, die es dem neu zur Entscheidung berufenen Landgericht gegebenenfalls auch ermöglicht, nähere Feststellungen zu der vom Angeklagten verwendeten Schusswaffe zu treffen, hat die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe zur Folge. Dagegen schließt der Senat aus, dass die Schuldsprüche wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Körperverletzung und die deshalb verhängten Einzelstrafen von dem Rechtsfehler berührt werden. Sie können daher bestehen bleiben.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 100

Externe Fundstellen: NStZ 2011, 230

Bearbeiter: Karsten Gaede