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HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 29

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 297/10, Urteil v. 09.11.2010, HRRS 2011 Nr. 29


BGH 5 StR 297/10 - Urteil vom 9. November 2010 (LG Berlin)

Überzeugungsbildung (Aufgabe des Tatrichters; hinreichende subjektive Gewissheit; überspannte Anforderungen); Beweiswürdigung (Mängel einer einen Mitangeklagten belastenden Einlassung; Verweigerung einer Konfrontation).

§ 261 StPO; § 212 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Im Bereich der vom Tatrichter zu würdigenden Tatsachen ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit ein absolut sicheres Wissen über einen Tathergang, dem gegenüber andere Möglichkeiten seines Ablaufs unter allen Umständen ausscheiden müssten, verschlossen. Es ist also die für die Schuldfrage entscheidende, ihm allein übertragene Aufgabe des Tatrichters, ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen verantwortlich zu prüfen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht.

Entscheidungstenor

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 2. Februar 2010 werden verworfen.

Die Staatskasse hat die Kosten der Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und die hierdurch den Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Die Nebenkläger haben die Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen.

Gründe

Das Schwurgericht hat den Angeklagten A. wegen dreier Verbrechen nach dem Betäubungsmittelgesetz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihn ferner vom Vorwurf des Mordes freigesprochen, soweit ihm zur Last liegt, am 5. März 2007 Öz. nach einem Streit durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet zu haben, um einen Konkurrenten im Streckmittelhandel aus dem Wege zu räumen. Dagegen richten sich die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Vaters sowie der Tochter des Getöteten, die sich dem Verfahren als Nebenkläger angeschlossen haben. Die Staatsanwaltschaft beanstandet ferner, dass der Angeklagte A. von dem weiteren Vorwurf freigesprochen worden ist, im Anschluss an das Tötungsverbrechen den Angeklagten M. genötigt zu haben, im Keller seines Getränkeladens die Leiche des Öz. zu vergraben.

Das Schwurgericht hat den Angeklagten M. wegen unerlaubten Besitzes einer halbautomatischen Selbstladewaffe - der Tatwaffe - zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilt. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hat der Senat im Beschlusswege gemäß § 349 Abs. 2 StPO verworfen. Hinsichtlich dieses Angeklagten beanstandet die Revision der Staatsanwaltschaft, dass keine weitergehende tateinheitliche Verurteilung wegen Strafvereitelung erfolgt ist.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger bleiben ohne Erfolg.

1. Das Schwurgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

a) Der Angeklagte A. verdiente seinen Lebensunterhalt als Streckmittel- und Rauschgifthändler in Berlin. Der Angeklagte M. betrieb dort seit 2004 mehrere Getränkeläden. Ihn verband eine Freundschaft mit Öz., der im Frühjahr 2006 das Streckmittelgeschäft von A. übernommen hatte.

A. verlangte einige Monate später das Geschäft von Öz. zurück. Unter Vermittlung des Angeklagten M., der beträchtliche Erlöse aus dem Streckmittelgeschäft bis März 2007 im Keller seines Getränkeladens aufbewahrte, kam es im Herbst 2006 zu einer vorläufigen Lösung des Konfliktes: Öz. durfte weiter mit Streckmitteln handeln, musste die Gewinne jedoch mit A. teilen. Spätestens im Februar 2007 verlangte A. allerdings die vollständige Übergabe des Geschäftes und den Rückzug des Öz. aus dem Streckmittelhandel.

Öz. hatte in den Tagen vor dem 5. März 2007 beschlossen, seine geschäftlichen Angelegenheiten in Deutschland zu klären und anschließend in die Türkei zu fahren, um ihm dort zustehendes Geld aus einem gescheiterten Drogengeschäft einzufordern, an dem sich nicht ausschließbar auch der Angeklagte M. beteiligt hatte (UA S. 9). Zur Klärung des Streites mit A. wollte er sich zeitnah mit diesem treffen.

"Öz. wurde in den Abendstunden des 5. März 2007 im Getränkeladen des Angeklagten M. durch einen gezielten Schuss in den Hinterkopf aus einer halbautomatischen Selbstladewaffe Kaliber 7,65 mm Browning getötet. Der Angeklagte M. verbrachte die Leiche noch am selben Abend in den Keller des Getränkeladens. Er verbreiterte und vertiefte das Loch, in welchem er zuvor die Geldbeträge für A. und Öz. aufbewahrt hatte, rollte die Leiche hinein und bedeckte sie mit Sand. Die Tatwaffe versteckte er im Keller. Drei Tage später vergrub er - an anderer Stelle - auch die Waffe im Keller und überzog den Kellerboden dort, wo er Leiche und Waffe vergraben hatte, mit einer dünnen Betonschicht" (UA S. 10).

b) Ein Cousin des Getöteten erstattete im Mai 2007 eine Vermisstenanzeige. M. wurde als Zeuge vernommen. Er bekundete - wie gegenüber dem Anzeigeerstatter und einem Freund des Getöteten -, über den Verbleib von Öz. nichts zu wissen. Im Februar 2009 gewann der Vater des Getöteten aus einem Gespräch mit dem Angeklagten M. die Überzeugung, dass sein Sohn entweder von A. oder von M. getötet worden sei. Er wandte sich an die Polizei. Die Mordkommission vernahm den Angeklagten M. am 14. Februar 2009 zunächst als Zeugen. Zu einem weiteren Vernehmungstermin am 19. Februar 2009 erschien M. in Begleitung seines Verteidigers. Aufgrund seines auffälligen Aussageverhaltens wurde er als Mordgehilfe erfasst. Während einer weiteren Beschuldigtenvernehmung am 21. Februar 2009 wurde der Getränkeladen mit Leichenspürhunden durchsucht, was M. mitgeteilt worden war. Dieser gestand nun, die Leiche und die Waffe vergraben zu haben, und belastete A. unter Angabe weiterer Einzelheiten in zwei nachfolgenden Vernehmungen als Täter. Diese Angaben hat die Staatsanwaltschaft zur Grundlage der Mordanklage gegen A. genommen, die vom Schwurgericht unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen worden ist.

c) Der Angeklagte A. hat in der Hauptverhandlung geschwiegen. Der Angeklagte M. hat über eine durch seinen Verteidiger verlesene Erklärung ausgeführt, dass der Inhalt seiner polizeilichen Vernehmungen zutreffend sei. Am letzten Verhandlungstag hat er über seinen Verteidiger erklärt, er scheue die Beantwortung von Fragen nicht, soweit es nur um seine Person ginge; er habe sich dennoch entschieden, weiterhin keine Fragen zu beantworten, weil Unschuldige und unbeteiligte Dritte zu Schaden kommen könnten, wenn er spreche (UA S. 5).

d) Das Landgericht hat in Anwendung des Zweifelssatzes zugunsten des Angeklagten A. angenommen, dass M. der Täter gewesen sei, und zugunsten des Angeklagten M., dass A. der Schütze gewesen sei, der zudem M. zur Beseitigung der Leiche und der Waffe genötigt habe (UA S. 11).

e) Die Schwurgerichtskammer hat in ihrer Beweiswürdigung mehrere den Angeklagten A. belastende Umstände herausgestellt:

Er habe über ein "erstklassiges" Motiv verfügt, Öz. zu töten. Insoweit habe der Zeuge Bi. die Bekundungen des M. bestätigt (UA S. 52 f.). Die Aussagen des M. wiesen eine Reihe von Kennzeichen auf, die für eine erlebnisbegründete Schilderung sprächen. Er habe ein komplexes Geschehen mit einer Vielzahl von Einzelheiten geschildert, die sich nahtlos ineinander fügten und zu einer bildhaften Schilderung führten.

f) Das Landgericht hat in seine Würdigung aber auch Umstände einbezogen, die nach seiner Auffassung Zweifel am Wahrheitsgehalt der Bekundungen des Angeklagten M. begründen, namentlich Folgendes:

Als seltsam und nicht ohne weiteres verständlich hat das Landgericht das Überlassen der mit Spuren des A. behafteten Tatwaffe in der Obhut des M. bewertet. Mehrere von M. behauptete Äußerungen gegenüber Zeugen nach der Tat wurden von diesen nicht bestätigt (UA S. 64 bis 66). Schließlich konnte das Landgericht nicht ausschließen, dass auch zwischen M. und Öz. ein Konflikt um Geldforderungen bestand (UA S. 53 f.).

Zweifel von großem Gewicht an der Glaubhaftigkeit der Angaben des M. haben sich für das Landgericht aus dessen Beschreibung des entscheidenden Moments für den weiteren Verlauf des Streits zwischen A. und Öz., nämlich des Wechsels der Waffengewalt von dem gut trainierten, vor der Gefährlichkeit des A. gewarnten Öz. auf den wesentlich älteren A., ergeben. Die Darlegungen seien insoweit außergewöhnlich blass (UA S. 61). Gerade in diesem Punkt hätte in der Hauptverhandlung eine eingehende Befragung des Angeklagten M. und gegebenenfalls eine Nachstellung des Geschehens anhand seiner Angaben nahe gelegen. Aufgrund seines - auch sonst hinsichtlich der Bedrohung zumindest fraglichen und wenig nachvollziehbaren (UA S. 68) - Aussageverhaltens sei dies nicht möglich gewesen (UA S. 61 f.).

g) Das Schwurgericht hat nach einer Gesamtabwägung aller Umstände nicht ausschließen können, "dass M. selbst (möglicherweise nach einem von Öz. initiierten Streit) geschossen hat und später versuchte, A. zu belasten, um den Tatverdacht von sich abzuwenden. Dabei handelt es sich nicht um ‚abstrakte' oder ‚theoretische' Zweifel, sondern um ein Alternativgeschehen, das im Ergebnis zwar nicht wahrscheinlich, aber eben aufgrund konkreter Zweifel an der Aussage des M. als möglich angesehen werden muss" (UA S. 69).

2. Die von den Revisionen jeweils mit der Sachrüge angegriffene Beweiswürdigung des Schwurgerichts hält der sachlichrechtlichen Überprüfung stand.

Spricht das Tatgericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist das durch das Revisionsgericht grundsätzlich hinzunehmen, da die Beweiswürdigung Sache des Tatgerichts ist. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt nur, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder das Gericht überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung gestellt hat. Aus den Urteilsgründen muss sich auch ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. Brause NStZ-RR 2010, 329, 330 f. m.N.). Solche Fehler vermag der Senat dem Urteil des Landgerichts nicht zu entnehmen.

a) Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft macht mit ihrem zentralen Angriff geltend, das Schwurgericht habe überspannte Anforderungen an seine Überzeugungsbildung gestellt, indem es - zusammenfassend bewertet (UA S. 69) - die alternative Tatbegehung durch M. im Ergebnis zwar als nicht wahrscheinlich, aber aufgrund konkreter Zweifel an der Aussage des M. als möglich angesehen habe.

aa) Diese Bewertung steht indes im Einklang mit dem zutreffenden Verständnis des § 261 StPO. "Der vom Gesetz verwendete Begriff der Überzeugung schließt die Möglichkeit eines anderen, auch gegenteiligen Sachverhalts nicht aus; vielmehr gehört es gerade zu ihrem Wesen, dass sie sehr häufig dem objektiv möglichen Zweifel ausgesetzt bleibt. Denn im Bereich der vom Tatrichter zu würdigenden Tatsachen ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit ein absolut sicheres Wissen über einen Tathergang, dem gegenüber andere Möglichkeiten seines Ablaufs unter allen Umständen ausscheiden müssten, verschlossen. Es ist also die für die Schuldfrage entscheidende, ihm allein übertragene Aufgabe des Tatrichters, ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen verantwortlich zu prüfen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht" (BGHSt 10, 208, 209). Einen Grad von Wahrscheinlichkeit der Täterschaft des A., der ihm die Überwindung von Zweifeln an dessen Schuld gestattet hätte, hat das Schwurgericht nicht angenommen.

bb) Dies geschah rechtsfehlerfrei auf der Grundlage der gebotenen erschöpfenden und fehlerfreien Auswertung der vorhandenen Erkenntnismittel (vgl. BGHSt 10, 208, 211; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung unzureichende 20). Die Revisionen übersehen, dass das Schwurgericht bei der Würdigung von Qualitätsmängeln in den Bekundungen des M. die von diesem Angeklagten durch sein Aussageverhalten vereitelte konfrontative Befragung mit in die Bewertung einzubeziehen hatte (vgl. BGHSt 51, 150, 157 m.w.N.). Gerade hinsichtlich des vom Schwurgericht zu Recht als bedeutsam bewerteten Abschnitts des Tatgeschehens, des zudem besonders blass geschilderten Waffenwechsels, durfte es insoweit eine markante Schwäche den der Aussage des M. im Übrigen entnommenen bedeutsamen belastenden Angaben entgegenstellen.

b) Soweit die Revision der Staatsanwaltschaft die Beweiswürdigung als selektiv, lückenhaft und teilweise widersprüchlich bewertet, zeigt sie keine sachlichrechtlichen Fehler auf.

Dem Revisionsgericht ist es verwehrt, Details aus dem Rand- und Nachtatgeschehen, denen das Schwurgericht in geringem Umfang eine Beeinträchtigung der Aussagequalität des Angeklagten M. entnommen hat, anders zu bewerten (vgl. BGH, Urteil vom 27. Oktober 2010 - 5 StR 319/10 m.w.N.). Solches setzt die Revision mit ihrer Kritik indes voraus. Die Annahmen des Schwurgerichts, aus denen es gefolgert hat, die Aussagen des Angeklagten M. seien wenig plausibel, haben als mögliche, auf der Grundlage lückenlos bewerteter Feststellungen gezogene Schlüsse des Tatgerichts in der Revisionsinstanz Bestand. Die Grenze der Denkfehlerhaftigkeit wird vom Landgericht in seiner Beweiswürdigung an keiner Stelle überschritten.

3. Danach haben der Freispruch des Angeklagten A. und die lediglich begrenzte Verurteilung des Angeklagten M. Bestand. Eine Postpendenzverurteilung des Angeklagten M. wegen Strafvereitelung war bei der zweifelhaften Vortatbeteiligung hier nicht möglich.

HRRS-Nummer: HRRS 2011 Nr. 29

Bearbeiter: Ulf Buermeyer