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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2009
10. Jahrgang
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1. Die Verwendungsregelung des § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO setzt grundsätzlich voraus, dass die zu verwendenden Daten polizeirechtlich rechtmäßig erhoben wurden. (BGHSt)
2. Die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zu den sog. relativen Beweisverwertungsverboten, nach denen nicht jeder Verstoß bei der Beweiserhebung zu einem Verwertungsverbot hinsichtlich der so erlangten Erkenntnisse führt, gelten auch für die in neuerer Zeit vermehrt in die Strafprozessordnung eingeführten Verwendungsregelungen bzw. Verwendungsbeschränkungen. (BGHSt)
3. Zur Verwendbarkeit von Daten im Strafverfahren, die durch eine akustische Wohnraumüberwachung auf der Grundlage einer polizeirechtlichen Ermächtigung zur Gefahrenabwehr gewonnen worden sind, welche noch keine Regelung zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung enthielt. (BGHSt)
4. Der Begriff „verwertbare Daten“ in § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO bezieht sich auf die gesetzlichen Beweisverwertungsverbote in § 100c Abs. 5 und 6 StPO sowie auf das Beweiserhebungsverbot aus § 100c Abs. 4 StPO. (BGHSt)
5. Werden durch eine Wohnraumüberwachungsmaßnahme Gespräche eines nach § 52 StPO Zeugnisverweigerungsberechtigten aufgezeichnet, so richtet sich die Verwertbarkeit dieser Gesprächsinhalte stets nach der Vorschrift des § 100c Abs. 6 StPO. Für eine isolierte Anwendung des § 52 StPO ist daneben kein Raum. (BGHSt)
6. Zur Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, wenn sich der Täter ausschließlich im Inland aufgehalten hat. (BGHSt)
7. Das Unterstützen einer Vereinigung umfasst regelmäßig auch Sachverhalte, die ansonsten materiellrechtlich als Beihilfe (§ 27 Abs. 1 StGB) zur mitgliedschaftlichen Beteiligung an der Vereinigung zu bewerten wären. (BGHSt)
8. Mit dem Abschluss des Lebensversicherungsvertrags ist der Eingehungsbetrug vollendet, wenn der Versicherungsnehmer darüber getäuscht hat, dass er den Versicherungsfall fingieren will, um die Versicherungssumme geltend machen zu lassen. (BGHSt)
9. Bei der Änderung strafprozessualer Bestimmungen für das weitere Verfahren ist grundsätzlich auf die neue Rechtslage abzustellen. Dies gilt auch bei einer Änderung des Rechtszustands zwischen dem tatrichterlichen Urteil und der Revisionsentscheidung. (Bearbeiter)
10. Wird eine Straftat nach einem nicht in dem maßgeblichen Straftatenkatalog enthaltenen Tatbestand, die sich als Betätigungsakt einer als Katalogtat erfassten Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung darstellt (vgl. § 100c Abs. 2 StPO), tateinheitlich mit der Katalogtat begangen, so können die Erkenntnisse aus einer akustischen Wohnraumüberwachung auch zum Nachweis der tateinheitlichen Nichtkatalogtat verwertet werden, zu deren Verfolgung allein die Maßnahme nicht hätte angeordnet werden dürfen. (Bearbeiter)
11. Der Senat neigt – nicht tragend – der Ansicht zu, dass in Abkehr von bisheriger Rechtsprechung tatsächliche Feststellungen, die der Tatrichter freibeweislich trifft, in der Revisionsinstanz ebenso wie seine Überzeugungsbildung auf strengbeweislicher Grundlage nur auf Rechtsfehler in der Beweiswürdigung zu überprüfen seien. (Bearbeiter)
1. Die sofortige Beschwerde nach § 101 Abs. 7 Satz 3 StPO ist auch dann statthaft, wenn die mit ihr angegriffene Entscheidung von der nach Anklageerhebung mit der Sache befassten Strafkammer des Landgerichts in deren mit der Revision angegriffenem Urteil getroffen wurde. (BGHSt)
2. Für die Entscheidung über eine solche sofortige Beschwerde ist das Oberlandesgericht zuständig, auch wenn über die zugleich eingelegte Revision der Bundesgerichtshof zu befinden hat. (BGHSt)
1. Die fortdauernde Abwesenheit des nach § 247 StPO während einer Zeugenvernehmung entfernten Angeklagten bei der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen begründet den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO.
2. Die dem entgegentretende Entscheidung des 5. Strafsenats widerspricht der Rechtsprechung des 4. Strafsenats, der an dieser festhält.
1. Der 4. Strafsenat hält an seiner, der beabsichtigten Entscheidung des 5. Strafsenats widersprechenden Rechtsprechung fest, wonach der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO vorliegt, wenn eine Augenscheinseinnahme anlässlich einer Zeugenvernehmung unter Ausschluss des Angeklagten von der Hauptverhandlung durchgeführt und nach Wiederzulassung des Angeklagten in seiner Anwesenheit nicht wiederholt wurde. Diese Rechtsprechung des 4. Strafsenats steht der beabsichtigten Verwerfung der Revision im vorliegenden Fall jedoch mangels Entscheidungserheblichkeit nicht entgegen.
2. Gemäß § 230 Abs. 1 StPO hat die Hauptverhandlung in ununterbrochener Anwesenheit des Angeklagten stattzufinden, sofern das Gesetz keine Ausnahme zulässt. Seine Anwesenheit soll nicht nur dem Tatrichter einen unmittelbaren Eindruck von der Person des Angeklagten vermitteln und damit die Wahrheitsfindung fördern; gleichermaßen dient sie der Sicherung einer uneingeschränkten Verteidigung des Angeklagten und der Wahrung seines Rechts auf rechtliches Gehör (BGHSt 26, 84, 90). Deshalb sind Vorschriften, die, wie § 247 StPO, Ausnahmen von der ununterbrochenen Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung zulassen, regelmäßig eng auszulegen (BGHSt 15, 194, 195; 22, 18, 20; 26, 218, 220). Im Hinblick auf die in den gesetzlichen Wertungen zum Ausdruck kommende fundamentale Bedeutung des Anwesenheitsrechts des Angeklagten hat der Senat Bedenken, den Begriff der Vernehmung im Sinne des § 247 StPO der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 338 Nr. 6 StPO anzugleichen (vgl. Senatsbeschluss vom heutigen Tage – 4 ARs 6/09).
3. Eine Heilung des geltend gemachten Verfahrensverstoßes liegt darin, dass der Angeklagte das Augenscheinsobjekt während seiner Unterrichtung gemäß § 247 Satz 4 StPO besichtigt hat und alle weiter anwesenden notwendigen Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit hatten, das Augenscheinsobjekt ihrerseits erneut zu besichtigen.
1. Rechtsprechung des 3. Strafsenats steht der vom 5. Strafsenat erstrebten Rechtsprechung nicht entgegen, wonach dem Begriff der Vernehmung in § 247 StPO derselbe Gehalt zukomme, den er nach §§ 171a ff GVG hat.
2. Der Senat regt an, die Frage wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache nach § 132 Abs. 4 GVG dem Großen Senat für Strafsachen vorzulegen.
3. Die Verwertung eines – rechtsfehlerhaft – in Abwesenheit des Angeklagten erhobenen Augenscheinsbeweises ist nur dann statthaft, wenn die Augenscheinseinnahme in Anwesenheit des Angeklagten und auch im Übrigen fehlerfrei wiederholt wird, sodass der Beweisgegenstand ordnungsgemäß in die Verhandlung eingeführt ist. Der vom anfragenden Senat vorgeschlagene Weg, dem Angeklagten nach Abschluss des Hauptverhandlungsabschnitts, für den er (fehlerfrei) ausgeschlossen wurde, das Augenscheinsobjekt im Rahmen seiner Belehrung über die Vorgänge während seiner Abwesenheit vorzuzeigen, ist keine fehlerfreie Wiederholung der Beweisaufnahme.
4. § 247 StPO schränkt das Recht des Angeklagten ein, an der Hauptverhandlung teilzunehmen und sich gegen den Tatvorwurf zu verteidigen; er ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen.
Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, wonach die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen ein selbständiger Verfahrensabschnitt und - in der Regel - wesentlicher Teil der Hauptverhandlung ist.
Die fortdauernde Abwesenheit des nach § 247 StPO während einer Zeugenvernehmung entfernten Angeklagten bei der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen begründet nicht den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO. Entgegenstehende eigene Rechtsprechung gibt der Senat auf.
1. Erfolgt nach Entfernung des Angeklagten während einer Zeugenvernehmung gemäß § 247 StPO in seiner andauernden Abwesenheit eine förmliche Augenscheinseinnahme, die mit der Vernehmung in engem Sachzusammenhang steht, so ist dem Angeklagten bei seiner Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO das in seiner Abwesenheit in Augenschein genommene Objekt vorzuzeigen; das ist im Zusammenhang mit der Unterrichtung zu protokollieren. Bei einer so gestalteten Unterrichtung ist der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht erfüllt.
2. Die beabsichtigte Entscheidung widerspricht nicht der Rechtsprechung des Senats. Insbesondere hält auch er eine nochmalige förmliche Besichtigung durch sämtliche Prozessbeteiligte für die heilende Annahme eines wiederholten Augenscheins nicht für unerlässlich.
Die Rüge der örtlichen Unzuständigkeit ist nicht bereits dann unzulässig, wenn der Angeklagte im Verlauf der Hauptverhandlung im Hinblick auf eine Verständigung (§ 257c StPO) den Tatvorwurf eingestanden hat. Die Befugnis zur Einlegung eines Rechtsmittels und zur Erhebung von Verfahrensrügen bleibt dem Angeklagten uneingeschränkt erhalten, auch wenn dem Urteil eine Verständigung vorausgegangen ist.
1. Es widerstreitet der Struktur des Strafverfahrens grundlegend, wenn das Gericht während laufender Hauptverhandlung wesentliche, ihrer Natur nach nicht geheimhaltungsbedürftige, ergänzende polizeiliche Ermittlungen, etwa die Durchführung einer Wahlgegenüberstellung, deren Ergebnis dann in der Hauptverhandlung möglicherweise maßgeblich verwertet werden soll, in Auftrag gibt, ohne die Verteidigung hierüber zuvor ausreichend zu informieren und ohne den Versuch zu unternehmen, eine effektive Teilhabe der Verteidigung an den vorgesehenen Ermittlungen zu gewährleisten (nicht tragend).
2. Der Beweiswert des Wiedererkennens des Angeklagten durch einen Zeugen wird reduziert, falls ein zweiter, intellektuell gleich begabter Zeuge aus ähnlicher Wahrnehmungssituation eine andere Person als Tatverdächtigen wiedererkannt hat.
Bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Gebot aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ist nicht maßgeblich, ob die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von einer Justizbehörde zu verantworten ist, sondern ob sie in den Verantwortungsbereich irgendeiner staatlichen Stelle, etwa auch einer Meldebehörde, fällt. Denn die vertragliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland aus der EMRK richtet sich an alle Träger hoheitlicher Gewalt. Dementsprechend spricht auch der EGMR von den „nationalen Behörden“, denen die Wahrung des Konventionsgebots der besonderen Zügigkeit obliegt und die im Falle ihrer Verletzung hierfür Wiedergutmachung leisten müssen.
1. Auch wenn zunächst keine Tatprovokation seitens einer staatlichen Vertrauensperson vorliegt, tritt eine Zäsur ein, wenn der Angeklagte erklärt, die Tat nicht mehr fortsetzen zu wollen. Wurden der Angeklagte sodann von einer dem Staat zurechenbaren Vertrauensperson unter zumindest konkludenter Drohung mit Gefahr für Leib und Leben dazu genötigt, eine Tat fortzusetzen, liegt ein mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht vereinbares Vorgehen vor.
2. Eine solche Tatfortsetzungsprovokation ist nach Maßgabe der Grundsätze der Entscheidungen BGHSt 45, 321; 47, 44 zu behandeln.
Bei einer auf Indizien gestützten Verurteilung kann ein Erörterungsmangel gegeben sein, sofern für eine teilweise Einstellung des Verfahrens (§ 154 Abs. 2 StPO) nicht ausschließlich prozessökonomische Erwägungen ausschlaggebend waren und eine etwaige Beweisbedeutung des ausgeschiedenen Prozessstoffs nicht wenigstens angesprochen wird.
1. Die Vorschrift des § 26a StPO gestattet nur ausnahmsweise, dass ein abgelehnter Richter selbst über einen gegen ihn gestellten Befangenheitsantrag entscheidet. Voraussetzung für diese Ausnahme von dem in § 27 StPO erfassten Regelfall der Entscheidung ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters ist, dass keine Entscheidung in der Sache getroffen wird, vielmehr die Beteiligung des abgelehnten Richters auf eine echte Formalentscheidung oder die Verhinderung des Missbrauchs des Ablehnungsrechts beschränkt bleibt (BVerfG NJW 2005, 3410). Die Anwendung des § 26a StPO darf nicht dazu führen, dass der ablehnende Richter sein eigenes Verhalten beurteilt und damit „Richter in eigener Sache“ wird.
2. Dies gilt auch für die Anwendung des § 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO (vgl. BGH wistra 2008, 267; NStZ 2008, 523, 524). Allerdings ist es zum Beleg der Prozessverschleppungsabsicht regelmäßig erforderlich, dass die Richter das eigene Verhalten im Rahmen des Prozessgeschehens schildern. Allein hierdurch werden sie indes nicht zu Richtern in eigener Sache (BGH NStZ 2008, 473).
3. Unterlaufen dem Tatgericht Fehler bei der Anwendung des § 26a StPO, begründet dies nicht ohne weiteres den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 3 StPO. Ein Verstoß gegen die Zuständigkeitsregelungen der §§ 26a, 27 StPO führt vielmehr nur dann zu einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn diese Vorschriften willkürlich angewendet werden oder die richterliche Entscheidung die Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie verkennt (BVerfG NJW 2005, 3410, 3411; BVerfG, Beschl. vom 20. März 2007 - 2 BvR 1730/06; BGHSt 50, 216, 219; BGH NStZ 2007, 161). In Fällen, in denen sich die Verwerfung als nicht offensichtlich unhaltbar erweist und es sich mithin um einen „einfachen Rechtsverstoß“ und nicht um einen Verfassungsverstoß handelt, ist dem Revisionsgericht die Überprüfung nach Beschwerdegrundsätzen (BGH wistra 2005, 464) und sogar der mögliche Austausch des Verwerfungsgrundes erlaubt (BGH wistra 2008, 267).
1. Eine nachträgliche Bestellung eines Verteidigers ist nicht möglich. Die Beiordnung erfolgt im Strafprozess nicht im Kosteninteresse des Angeklagten, sondern dient allein dem Zweck, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten.
2. Die für das Verfahren erster Instanz erfolgte Beiordnung erstreckt sich nicht auf die Mitwirkung in der Revisionshauptverhandlung. Vielmehr ist im Revisionsverfahren aufgrund des jeweiligen Verfahrensstandes neu zu prüfen, ob bei Berücksichtigung der Besonderheiten dieses Rechtsmittels auch in der Revisionshauptverhandlung noch ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt.
3. Wird einer Verteidigerin eine Terminsnachricht zugestellt und tritt sie in der Revisionshauptverhandlung auf, kann darin eine stillschweigende Bestellung liegen, wenn die Mitwirkung eines Verteidigers in der Revisionshauptverhandlung rechtlich geboten erscheint (vgl. zu alledem näher BGH NStZ 1997, 299 f. m.w.N.).
Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen ist Aufgabe des Tatgerichts. Es ist regelmäßig davon auszugehen, dass Berufsrichter über diejenige Sachkunde bei der Anwendung aussagepsychologischer Glaubwürdigkeitskriterien verfügen, die für die Beurteilung von Aussagen auch bei schwieriger Beweislage erforderlich ist, und dass sie diese Sachkunde den beteiligten Laienrichtern vermitteln können. Dies gilt bei jugendlichen Zeugen erst recht, wenn die Berufsrichter zugleich Mitglieder der Jugendschutzkammer sind und über spezielle Sachkunde in der Bewertung der Glaubwürdigkeit von jugendlichen Zeugen verfügen.