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HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 886

Bearbeiter: Ulf Buermeyer

Zitiervorschlag: BGH, 3 ARs 7/09, Beschluss v. 07.07.2009, HRRS 2009 Nr. 886


BGH 3 ARs 7/09 - Beschluss vom 7. Juli 2009

Anfrageverfahren; Anwesenheit des Angeklagten bei Augenscheinseinnahme; Begriff der Vernehmung; entgegenstehende Rechtsprechung; grundsätzliche Bedeutung der Sache.

§ 247 StPO; § 171a GVG; § 132 GVG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Rechtsprechung des 3. Strafsenats steht der vom 5. Strafsenat erstrebten Rechtsprechung nicht entgegen, wonach dem Begriff der Vernehmung in § 247 StPO derselbe Gehalt zukomme, den er nach §§ 171a ff GVG hat.

2. Der Senat regt an, die Frage wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache nach § 132 Abs. 4 GVG dem Großen Senat für Strafsachen vorzulegen.

3. Die Verwertung eines - rechtsfehlerhaft - in Abwesenheit des Angeklagten erhobenen Augenscheinsbeweises ist nur dann statthaft, wenn die Augenscheinseinnahme in Anwesenheit des Angeklagten und auch im Übrigen fehlerfrei wiederholt wird, sodass der Beweisgegenstand ordnungsgemäß in die Verhandlung eingeführt ist. Der vom anfragenden Senat vorgeschlagene Weg, dem Angeklagten nach Abschluss des Hauptverhandlungsabschnitts, für den er (fehlerfrei) ausgeschlossen wurde, das Augenscheinsobjekt im Rahmen seiner Belehrung über die Vorgänge während seiner Abwesenheit vorzuzeigen, ist keine fehlerfreie Wiederholung der Beweisaufnahme.

4. § 247 StPO schränkt das Recht des Angeklagten ein, an der Hauptverhandlung teilzunehmen und sich gegen den Tatvorwurf zu verteidigen; er ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen.

Entscheidungstenor

Der beabsichtigten Entscheidung des 5. Strafsenats steht Rechtsprechung des 3. Strafsenats nicht entgegen.

Gründe

1. Der 5. Strafsenat beabsichtigt zu entscheiden:

"Erfolgt nach Entfernung des Angeklagten während einer Zeugenvernehmung gemäß § 247 StPO in seiner andauernden Abwesenheit eine förmliche Augenscheinseinnahme, die mit der Vernehmung in engem Sachzusammenhang steht, so ist dem Angeklagten bei seiner Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO das in seiner Abwesenheit in Augenschein genommene Objekt vorzuzeigen; das ist im Zusammenhang mit der Unterrichtung zu protokollieren. Bei einer so gestalteten Unterrichtung ist der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht erfüllt."

Er hat deshalb bei den übrigen Strafsenaten angefragt, ob an entgegenstehender Rechtsprechung festgehalten wird.

2. Rechtsprechung des 3. Strafsenats steht der beabsichtigten Entscheidung nicht entgegen. Soweit der Senat in der Vergangenheit Urteile aufgrund von Verfahrensrügen aufgehoben hat, mit denen beanstandet worden war, dass in Abwesenheit des nach § 247 Satz 1 oder 2 StPO ausgeschlossenen Angeklagten neben der Zeugenvernehmung auch ein Augenschein vorgenommen wurde, war das Augenscheinsobjekt dem Angeklagten jeweils nachträglich nicht vorgezeigt worden (vgl. Senat StV 1984, 102; 2002, 8; BGHR StPO § 338 Beruhen 2; Beschl. vom 20. Februar 2002 - 3 StR 345/01).

3. Der Senat regt aber an, die Frage dem Großen Senat für Strafsachen wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache nach § 132 Abs. 4 GVG vorzulegen.

In der Sache tritt der Senat der beabsichtigten Entscheidung entgegen. Er ist der Auffassung, dass die Verwertung des in Abwesenheit des Angeklagten erhobenen Augenscheinsbeweises nur dann statthaft ist, wenn die Augenscheinseinnahme in Anwesenheit des Angeklagten und auch im Übrigen fehlerfrei wiederholt wird, der Beweisgegenstand als solcher damit ordnungsgemäß in die Verhandlung eingeführt wird (vgl. BGH StV 2002, 8). Der vom anfragenden Senat vorgeschlagene Weg ist keine fehlerfreie Wiederholung der Beweisaufnahme.

a) Der 5. Strafsenat will, wie auch aus der Zusammenschau mit der am selben Tag in der Sache 5 StR 460/08 erfolgten Anfrage deutlich wird, im Ergebnis erreichen, dass der Begriff der Vernehmung in § 247 StPO denselben Bedeutungsgehalt erhält, den die Rechtsprechung der Vernehmung beigegeben hat, für deren Dauer nach §§ 171a ff. GVG die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausgeschlossen wird. Dem vermag der Senat nicht zuzustimmen.

Eine Auslegung des Begriffs der Vernehmung in § 247 StPO dahingehend, dass die mit ihr in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Sachbeweiserhebungen vom Ausschluss umfasst sind, ist nicht möglich. Die Vernehmung eines Zeugen und die Erhebung von Sachbeweisen sind voneinander getrennte Verfahrensvorgänge. Die Erhebung von Sachbeweisen in Abwesenheit des nach § 247 StPO ausgeschlossenen Angeklagten ist nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes nicht zulässig. Insoweit ist die Rechtslage anders als bei den Vorschriften zum Ausschluss der Öffentlichkeit. Die §§ 171 a ff. GVG erlauben den Ausschluss entweder "für die Verhandlung" oder "für einen Teil da von". Eine ausdrückliche gesetzliche Beschränkung auf die "Vernehmung" besteht im Gegensatz zu § 247 StPO nicht. Neben dem Wortlaut spricht auch die Systematik gegen eine ausdehnende Auslegung. § 247 StPO schränkt das Recht des Angeklagten ein, an der Hauptverhandlung teilzunehmen und sich gegen den Tatvorwurf zu verteidigen. Die Vorschrift ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Zur Sicherung der Verfahrensposition des Angeklagten besteht die Pflicht des Vorsitzenden zur Unterrichtung über den wesentlichen Inhalt der Zeugenaussage. Demgegenüber ist der Vorsitzende nicht verpflichtet, die Öffentlichkeit nach deren Wiederzulassung über das während des Ausschlusses Geschehene zu unterrichten, da dies dem Regelungszweck der §§ 171a ff. GVG widerstreiten würde.

Im Übrigen lässt sich aus der unterschiedlichen Grenzziehung im Anwendungsbereich des § 247 StPO einerseits und in denjenigen der §§ 171a ff. GVG andererseits sowie den hierdurch gegebenenfalls begründeten Schwierigkeiten in der Rechtsanwendung für sich gesehen kein durchschlagendes Argument für eine Änderung gerade der Rechtsprechung zu § 247 StPO gewinnen; denn eine einheitliche Handhabung ließe sich in gleicher Weise dadurch herstellen, dass die Rechtsprechung zu §§ 171a ff. GVG an diejenige zu § 247 StPO angepasst wird.

b) Bei der vom anfragenden Senat als ausreichend angesehenen Verfahrensweise, dem Vorzeigen des Augenscheinsobjekts, handelt es sich der Sache nach um einen Versuch der Heilung des zuvor geschehenen Verfahrensverstoßes. Hierzu ist nach Auffassung des 3. Strafsenats indes die vollständige Wiederholung des Augenscheins notwendig. Dies entspricht bisheriger Rechtsprechung (BGH StV 1984, 102; 2002, 8). Eine andere, dahinter zurückbleibende Form der Heilung zuzulassen (oder auch nur für diesen Fall den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO zu verneinen), würde die bereits jetzt nur schwer übersehbare Rechtsprechung lediglich weiter komplizieren. Zudem wäre auch nur beim Augenschein eine solche Form der Heilung möglich. Die fehlerhaft in Abwesenheit des ausgeschlossenen Angeklagten vorgenommene Urkundenverlesung könnte keinesfalls dadurch ausgeglichen werden, dass der Angeklagte sich die Urkunde selbst durchlesen kann.

Zu der Heilung in Form der fehlerfreien Wiederholung der Sachbeweisaufnahme wird der Zeuge, der während des in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten Augenscheins anwesend war, nicht mehr benötigt, denn es handelt sich um einen gerichtlichen Augenschein, an dem alle Mitglieder des Gerichts teilnehmen müssen und bei dem den Prozessbeteiligten die Gelegenheit zur Besichtigung gegeben werden muss (Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess S. 239). Der Zeuge gehört deshalb nicht zu den Personen, deren Anwesenheit erforderlich ist.

c) Den berechtigten Belangen des Zeugen- und Opferschutzes wird durch die sorgfältige Beachtung der Verfahrensbestimmungen am besten Rechnung getragen werden (vgl. BGH NStZ 2000, 440, 441). Dazu gehören auch die Vorschriften über die Sitzungsniederschrift (vgl. hierzu nur BGH NStZ 1999, 522; 2002, 384; StV 2004, 306).

HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 886

Bearbeiter: Ulf Buermeyer