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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2009
10. Jahrgang
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Von Rechtsanwalt Dr. Jens Dallmeyer, Lehrbeauftragter a.d. Goethe-Universität Frankfurt am Main
Das BVerfG hat sich lange Zeit aus der Dogmatik der strafprozessualen Beweisverbote herausgehalten. So zog das BVerfG selbst noch im Jahr 2000 das Fazit, dass "es feste verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen von Verfassungs wegen ein Beweisverbot im Strafverfahren in Betracht kommt, in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung noch nicht gibt."[1] Anders betrachtet hat das BVerfG Beweisverbotsprobleme weitgehend der Rechtsprechung der Fachgerichte - also insbesondere des BGH - überlassen. Die Formulierungen "von Verfassungs wegen" und "noch nicht" deuteten allerdings an, dass man die Entwicklung einer genuin verfassungsrechtlichen Perspektive für die Zukunft in Betracht ziehen müsse.
In letzter Zeit finden sich in verfassungsgerichtlichen Judikaten im Gegensatz dazu zunehmend Formulierungen, die man so verstehen muss, dass das BVerfG der Rechtsprechung der Fachgerichte "seinen Segen" gibt.[2] Das bedeutet in der Konsequenz zugleich einen Abschied von der Möglichkeit der Entwicklung einer spezifisch verfassungsrechtlichen Lösung. Die wesentlichen Merkmale der vom BVerfG in der hier zu besprechenden Entscheidung erneut und vertieft praktizierten "Einsegnung" der Rechtsprechung der Fachgerichte werden im Folgenden systematisch nachvollzogen und kritisch gewürdigt.
Relevanz besitzt die Wende in der Rechtsprechung des BVerfG allein für die im Zentrum der Beweisverbotsdogmatik stehenden so genannten unselbständigen Beweisverwertungsverbote. Das sind Verbote, die die Verwertung eines Ermittlungsergebnisses hindern und die man unselbständig nennt, weil sie die Folge der Verletzung eines Beweiserhebungsverbotes sind.[3] Nicht betroffen sind die eher seltenen so genannten selbständigen Beweisverwertungsverbote, deren Behandlung - auch durch die Fachgerichte - seit jeher einer verfassungsrechtlichen Perspektive folgt.[4]
Dass in dem der vorliegenden Entscheidung zugrunde liegenden Strafverfahren gegen beweisrechtliche Vorschriften verstoßen - also ein Beweiserhebungsverbot verletzt - wurde, konnte das BVerfG ohne weiteres annehmen, da es selbst in einer früheren Entscheidung die entsprechende Feststellung getroffen hat[5]: Vor etwa sechs Jahren hatten die Ermittlungsbehörden von Umständen erfahren, die vage darauf hindeuteten, dass der Beschuldigte in betrügerische Ebay-Geschäfte verwickelt gewesen sein könnte. Die Ermittlungsbehörden hatten daraufhin eine Wohnungsdurchsuchung angeordnet und durchgeführt, bei der zwar nicht die erhofften Beweise, aber rund 463g Haschisch mit einem Wirkstoffgehalt von rund 39g THC sowie zwei Feinwaagen gefunden wurden. Auf die Verfassungsbeschwerde des Beschuldigten hin judizierte das BVerfG vor knapp vier Jahren, dass die Schwere des mit der Durchsuchung verbundenen Grund-
rechtseingriffs außer Verhältnis zur Stärke des Tatverdachts gestanden habe. Angesichts dessen, dass auf eine Täterschaft des Wohnungsinhabers allenfalls Umstände von geringem Gewicht hindeuteten, hätten die Ermittlungsbehörden zunächst grundrechtsschonendere Ermittlungsschritte vornehmen müssen, um den allenfalls geringen Tatverdacht zu überprüfen. Das BVerfG sah hierin eine Verletzung des Art. 13 Abs. 1 GG.
In den Worten des einfachen Rechts ausgedrückt: Die Beweiserhebung durfte nicht gem. § 102 StPO als Wohnungsdurchsuchung durchgeführt werden, weil kein hinreichend starker Anfangsverdacht vorlag.
Auf die Frage nach den Folgen der Gesetzesverletzung hatten die Strafverfolgungsbehörden keine Antwort, die den Beschuldigten befriedigt hätte: Das Amtsgericht hatte ihn zwar freigesprochen und für die bei ihm gefundenen Gegenstände ein Beweisverwertungsverbot angenommen. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft wurde er jedoch verurteilt, wobei das Landgericht - wie auch das die Revision verwerfende Oberlandesgericht - die Annahme eines Beweisverwertungsverbots ablehnte. In seiner auf die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde ergangenen Entscheidung macht sich das BVerfG nun im Wesentlichen Grundsätze zu eigen, die der Bundesgerichtshof in den letzten Jahrzehnten kanonisiert hat.[6] Zwar heißt es zunächst, dass "die Beurteilung der Frage, welche Folgen ein möglicher Verstoß gegen strafprozessuale Verfahrensvorschriften hat und ob hierzu insbesondere ein Beweisverwertungsverbot zählt", in erster Linie den Fachgerichten obliege.
Sodann zitiert das BVerfG jedoch die fachgerichtliche Rechtsprechung, wenn es fortfährt:
"Dabei gehen die Strafgerichte in gefestigter, willkürfreier Rechtsprechung davon aus, dass dem Strafverfahrensrecht ein allgemein geltender Grundsatz, dass jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht, fremd ist, und dass die Frage jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden ist."
Dieser Satz gibt nicht nur zutreffend wieder, von welchem rhetorischen Ausgangspunkt aus die Strafgerichte heute argumentieren, sondern man darf die positive Kennzeichnung dieses Ausgangspunktes als "gefestigt" und "willkürfrei" als Billigung der Vorgehensweise der Strafgerichte verstehen. In Einklang steht dies mit dem Meinungsbild des letzten Deutschen Juristentages, auf dem eine deutliche Mehrheit der Abstimmenden dafür votierte, dass es "bei Verstößen gegen Vorschriften des einfachen Rechts, die der Gewährleistung der Grundsätze des fairen Verfahrens dienen, ... zusätzlich einer Abwägung aller wesentlichen Umstände des Einzelfalls" bedarf, um ein Beweisverwertungsverbot annehmen zu können.[7]
Die Überantwortung dieser Frage in die Abwägung sieht sich freilich seit langem heftiger Kritik ausgesetzt, die hier nicht im Einzelnen wiederholt werden soll.[8] Vor allem anderen übersieht der Abwägungsgrundsatz, dass auch die Verwertung der Ermittlungsergebnisse in Grundrechte eingreift und daher - wegen des Vorbehalts des Gesetzes - einer gesetzlichen Befugnisnorm bedarf.[9] So liegt laut BVerfG in der hier gegebenen Sachverhaltskonstellation ein Eingriff in Art. 13 GG auch in der Verwertung der bei der Durchsuchung gefundenen Beweise: "Die Gewährleistung des Art. 13 Abs. 1 GG ... erstreckt sich auch auf den Gebrauch, der von den durch das Eindringen in die Wohnung erlangten Kenntnissen gemacht wird."[10] An der Richtigkeit dieser Ausdehnung des Schutzes des Art. 13 Abs. 1 GG auf die Verwertungsphase kann man zwar zweifeln; in jedem Fall greift die Verwertung aber in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein.[11] Damit bedarf neben der Beweiserhebung auch die Beweisverwertung einer gesetzlichen Grundlage, die jedoch - wie man bereits der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ermittlungsmaßnahme entnehmen kann - fehlt.
Wer diese grundsätzliche Kritik nicht teilt, sondern unbefangen dem Abwägungsgrundsatz folgt, wird vielleicht annehmen, dass die Abwägung a priori ergebnisoffen sein müsse. Dem ist nach der Rechtsprechung der Strafgerichte jedoch nicht so. Bereits 1998 judizierte der 3. Strafsenat des BGH, ein Beweisverwertungsverbot bedeute "eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist".[12] Dem folgt
nun das BVerfG, indem es diese Formulierung wortgleich übernimmt.
Nicht entnehmen kann man der vorliegenden Entscheidung des BVerfG hingegen den Umstand, dass sich auch der Ausnahme-Topos seit langem heftiger Kritik ausgesetzt sieht. Diese Kritik betrifft schon die Entstehung des Ausnahme-Topos. Der 3. Senat hat sich hierfür einerseits auf eine eigene jüngere Entscheidung, andererseits auf ältere Rechtsprechung des BGH berufen. In der eigenen jüngeren Entscheidung hatte sich der 3. Senat auf eine Veröffentlichung eines BGH-Richters bezogen.[13] Dieser hatte - wiederum unter Bezug auf ältere BGH-Rechtsprechung - in der Tat formuliert, "dass im Hinblick auf das in der Verfassung niedergelegte Gebot einer effektiven Strafrechtspflege Verwertungsverbote - die stets einen Eingriff in die richterliche Wahrheitsfindung darstellen - auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben müssen." Soweit sich der 3. Senat und jener BGH-Richter auf ältere BGH-Rechtsprechung berufen, wurde dort allerdings der Ausdruck "Ausnahme" im Hinblick auf das Verwertungsverbot allein in einem deskriptiven Sinne verwendet, insofern als jedes Verwertungsverbot naturgemäß eine Ausnahme von einer als umfassend verstandenen Ermittlungspflicht darstellt.[14] Die Entwicklung des für die Dogmatik der unselbständigen Beweisverwertungsverbote so wichtigen Begriffs "Ausnahme" von einem deskriptiven zu einem normativen Begriff beruht also auf einem Missverständnis älterer BGH-Rechtsprechung. Dies ist auch unabhängig von der berechtigten inhaltlichen Kritik am Ausnahme-Topos[15] jedenfalls als problematischer Umgang mit den Quellen der betreffenden Rechtsfindung anzusehen, zumal die Rechtsprechung bis heute keine überzeugende Begründung für den Ausnahme-Topos vorgelegt hat.
Passend dazu ist auch die vorliegende Entscheidung des BVerfG in ihrer Übernahme des Ausnahme-Topos nicht frei von solchen Quellen-Problemen. Beim BVerfG heißt es nämlich weiter: "Insbesondere die willkürliche Annahme von Gefahr im Verzug oder das Vorliegen eines besonders schwer wiegenden Fehlers können - müssen indes nicht in jedem Fall - danach ein Verwertungsverbot nach sich ziehen." Bemerkenswert ist an dieser Passage der eingeschobene Nebensatz, der die Annahme von Beweisverwertungsverboten bei willkürlicher Annahme von Gefahr im Verzug und anderen besonders schwer wiegenden Fehlern relativiert. Mit dieser Relativierung folgt das BVerfG der Abwägungslogik, bei der man sich naturgemäß nie sicher sein kann, ob im Einzelfall ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen ist. Das BVerfG zitiert hierfür zwei BGH-Entscheidungen, so dass der Eindruck entsteht, auch insoweit übernehme es lediglich eine vorgefundene - gefestigte und willkürfreie - Rechtsprechung der Strafgerichte.
In den beiden zitierten BGH-Entscheidungen ist jedoch nicht davon die Rede, dass auch bei willkürlicher Annahme von Gefahr im Verzug oder anderen besonders schwer wiegenden Fehlern die Abwägung zugunsten der Verwertung ausgehen könne.[16] Vielmehr liest es sich dort so, als ob bei derart schwerwiegenden Fehlern die Annahme eines Beweisverwertungsverbots vorgezeichnet sei. Damit befinden sich die beiden BGH-Entscheidungen in Einklang mit weiterer aktueller strafgerichtlicher Rechtsprechung, die infolge jener bekannten Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2001 ergangen ist, in der es die strengere Beachtung des Richtervorbehalts bei Durchsuchungsanordnungen eingefordert hatte.[17] Nach dieser Entscheidung war lange unklar, welche Konsequenzen zukünftig ein Verstoß gegen den Richtervorbehalt haben solle.[18] Erst in letzter Zeit schien sich gleichsam die Tendenz zu einem Minimalkonsens dahingehend herauszubilden, dass zumindest bei willkürlicher Annahme von Gefahr in Verzug oder anderen besonders schwer wiegenden Verstößen regelmäßig ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen sei.[19] Das ist nun Rechtsgeschichte. Die Praxis wird an dem daraus folgenden Verlust von Vorhersehbarkeit nicht leicht tragen, wie auch die Diskussionen und Abstimmungen auf dem letzten Deutschen Juristentag zeigen. So forderte eine deutliche Mehrheit der Abstimmenden eine verlässlichere Vorhersehbarkeit der Anerkennung und der Reichweite von Beweisverboten.[20] Und im Tagungsbericht der "Juristenzeitung" heißt es, dass sich alle Diskussionsteilnehmer ersichtlich darin einig waren, dass nur dann etwas gewonnen wäre, wenn sich Leitlinien herausarbeiten ließen, die dem Rechtsanwender eine verlässliche Beurteilung ermöglichen, was noch im Rahmen des Statthaften liegt und was nicht mehr.[21] Freilich befinden sich die Anhänger der herkömmlichen Beweisverbotsdogmatik hier in einem unauflösbaren Selbstwiderspruch: Abwägung und Vorhersehbarkeit zugleich sind nicht zu haben.
Wie hoch das BVerfG die Latte mit dem Ausnahme-Topos hängt, wird schon an der vorliegenden Entscheidung deutlich. Ein Beweisverwertungsverbot nimmt das BVerfG nicht an, obwohl es selbst festgestellt hatte, dass die inkriminierte Ermittlungsmaßnahme nicht nur einfaches Recht, sondern sogar das Grundrecht des Art. 13 Abs. 1 GG verletzt hatte. Berücksichtigt man, dass das BVerfG "normale" Subsumtionsvorgänge des einfachen Rechts nicht nachprüft, sondern nur Auslegungsfehler feststellt, "die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbe-
sondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind"[22], so fragt man sich, um wieviel schwerer ein Verfassungsverstoß noch sein muss, um die hoch angelegte Latte des BVerfG reißen zu können.
Zur Begründung des Ausnahme-Topos finden sich im vorliegenden Beschluss des BVerfG drei Sätze:
"Auch wenn die Strafprozessordnung nicht auf Wahrheitserforschung "um jeden Preis" gerichtet ist, schränkt die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts ein, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Das Rechtsstaatsprinzip gestattet und verlangt die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann ... Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden."
Die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" ist bekanntlich eine alte Argumentationsfigur und für viele liberal-rechtsstaatlich denkende Juristen ein "rotes Tuch". Im Zusammenhang mit unselbständigen Beweisverwertungsverboten hat das BVerfG den Topos - soweit ersichtlich - bislang noch nicht verwendet.[23] Überhaupt war die Formulierung in den letzten Jahrzehnten in Entscheidungen des BVerfG nicht mehr anzutreffen. Vielleicht hat dabei der Umstand eine Rolle gespielt, dass es ähnliche, aber weniger pathetische Formulierungen gibt, etwa die vom "im Rechtsstaat wichtigen Allgemeininteresse an der Aufklärung und gerechten Ahndung schwerwiegender Taten".[24] Ein weiterer Grund mag die heftige Kritik gewesen sein, die an dem Topos von den soeben genannten Juristen geübt wurde.[25] Diese Kritik weist vor allem hin auf die Funktion dieses Topos, die Strafverfolgungsinteressen sprachlich zu überhöhen, um ihnen in der Abwägung mit den Belangen der Beschuldigten a priori ein größeres Gewicht beizumessen.[26] Warum aber taucht die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" jetzt wieder auf, unschön und unnötig wie sie ist?
Um dies zu verstehen, muss man zurückgehen in das Frühjahr 2008, als im 2. Senat des BVerfG ein Wechsel in der Zuständigkeit für das Strafrecht eintrat. An die Stelle des ausgewiesenen "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" - Kritikers Winfried Hassemer [27] trat nun Herbert Landau, der sich pünktlich zum Amtsantritt als Befürworter der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" offenbart hatte.[28] Schon in den ersten Sätzen seines einschlägigen Aufsatzes wendet sich Landau ausdrücklich gegen Hassemer und teilt mit, dass der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" zur "Wiedergeburt" verholfen werden sollte. Dieses Projekt hat Landau zwischenzeitlich offenbar selbst in Angriff genommen, wie einige neue Entscheidungen des 2. Senats zeigen, die bislang keine wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, in denen aber die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" bemüht wird.[29]
Zur Begründung der Notwendigkeit der argumentativen Verwendung der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" greift Landau weit aus in die Strafphilosophie: Zu verorten sei die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" im Endziel der Strafrechtspflege in jeder staatlichen Ordnung.[30] Die Strafrechtspflege habe Teil an der Notwendigkeit, im Sinne eines umfassenden inneren Rechtsfriedens soziale Kontrolle durch staatliche Organe auszuüben.[31] Letztlich gehe es darum, dass jeder Staat das sozialethische Minimum sichern müsse und dies unter den obwaltenden Umständen nur durch das Strafrecht geschehen könne.[32] Die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege sei deshalb nicht nur Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips, sondern unabdingbare Voraussetzung für die Existenz und den Bestand des demokratischen Rechtsstaats selbst.[33] Das System sei gefährdet, wenn Straftatopfer und weitergreifend die Rechtsgemeinschaft als solche in ihren Erwartungen auf Schutz des sozialen Nahraums und die Funktionalität der formellen Sozialkontrolle enttäuscht werden; gerade beim Opfer stelle sich der Befriedungseffekt des Strafrechts nur dann ein, wenn für ihn erfahrbar werde, dass sich das Recht letztlich durchsetze.[34]
Speziell für Beweisverwertungsverbote macht Landau geltend, dass sie angesichts dessen einer besonderen Legitimation bedürften.[35] Damit schließt sich der Kreis:
Die im Ausnahme-Topos enthaltene Vorstellung, dass nicht die Verwertung eines rechtswidrig gewonnenen Beweises, sondern seine Nichtverwertung einer besonderen Legitimation bedürfe, wird gegründet auf die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege", die - wiedergeboren - die Funktion erfüllt, die sie auch schon in ihrem früheren Leben hatte, nämlich die Belange der Beschuldigten gegenüber den Belangen der Strafjustiz in die zweite Reihe zu verweisen.
Man sieht schnell, dass die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" nicht eigentlich wiedergeboren wurde, ist die Vorstellung von der Wiedergeburt doch typischerweise verbunden mit der Vorstellung einer neuen Gestalt - wovon bei der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" des Jahres 2009 keine Rede sein kann. Vielmehr erinnert die heutige "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" an eine Untote, die am verdienten Ableben gehindert wurde. Die zu ihrer Begründung verwendeten Argumentationsfiguren sind - wie die Formel von der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" selbst - "globale Großformeln"[36], die zu einer sachgerechten Konkretisierung des Inhalts der berechtigten Belange der Strafjustiz nicht beitragen können, sondern allein dazu dienen, eine ungleiche Abwägungslage zugunsten der Strafverfolgungsbelange herzustellen. Die gegen die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" seit jeher vorgetragene Kritik wird damit durch ihre aktuelle Verwendung eindrucksvoll bestätigt.
Dass man die Totenruhe der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" besser nicht gestört hätte, wird auch deutlich, wenn man versucht, die Bedeutung zu ergründen, die die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" in der Strafsache haben könnte, die der vorliegenden Entscheidung des BVerfG zugrunde liegt. Es ist nicht ansatzweise erkennbar, was die zitierten Großformeln über den streitgegenständlichen Vorwurf des Haschisch-Besitzes aussagen könnten. Bei welchen Opfern hier ein Befriedungseffekt eintreten soll und kann, ist völlig unklar. Im Übrigen entlarvt der Bezug der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" auf "jede" staatliche Ordnung gerade für den gegebenen Haschisch-Besitz deren Inhaltsleere. So kann man heute ohne weiteres staatliche Ordnungen finden, in denen ein solcher Besitz straflos ist, wie auch staatliche Ordnungen, die die Todesstrafe verhängen würden. Die Bedeutung der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" reduziert sich so gesehen letztlich darauf, dass alles, was die Bestrafung von Straftaten durch Strafjustizsysteme jenseits der gegebenen Regeln des Systems beeinträchtigt, von Übel ist, weil die Strafjustizsysteme nun einmal etabliert wurden, um Straftaten gemäß den Regeln des Systems zu bestrafen.
Dabei wird freilich übersehen, dass bei der Frage nach den Folgen der Verletzung eines Beweiserhebungsverbots die Regeln des Strafjustizsystems gerade nicht eingehalten wurden. Verwendet man die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" in diesem Kontext - und das ist in der vorliegenden Entscheidung des BVerfG erstmals der Fall - streitet die "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" für ein Funktionieren des Strafjustizsystems, das keine schützenden Formen zu beachten hat, auch nicht die gegebenen gesetzlichen Regeln. Damit aber wird die an Gesetzlichkeit gebundene Rechtsstaatlichkeit des deutschen Strafverfahrensrechts in ihrem Kern angegriffen.
[1] BVerfG NStZ 2000, 489, 490; vgl. auch Dallmeyer, Beweisführung im Strengbeweisverfahren, 2. Aufl. (2008), S. 44 ff., 110 f.; Jahn, in: Verhandlungen des 67. Deutschen Juristentages (2008), Gutachten C, C 48 (jeweils m.w.N.).
[2] So zutreffend Tausch NJW-Spezial 2009, 552, 553.
[3] Dallmeyer , in: Heghmanns/Scheffler (Hg.), Handbuch zum Strafverfahren, 2008, Kap. II, Rn. 387.
[4] Dazu Dallmeyer, Handbuch (Fn. 3), Kap. II, Rn. 402.
[5] Vgl. BVerfG NStZ-RR 2006, 110 (auch zum - hier stark vereinfacht wiedergegebenen - Sachverhalt).
[6] Zu dieser Kanonisierung s. bereits Dallmeyer, Beweisführung (Fn. 1), S. 156 f. und 163 f.
[7] Verhandlungen des 67. Deutschen Juristentages (2008), Beschlüsse, S. 11, Frage II.5.b. (Abstimmungsverhältnis 54:16:6).
[8] Überblick bei Dallmeyer, Beweisführung (Fn. 1), S. 155 ff. (zur "Abwägungslehre") und S. 110 ff. (zu Abwägungen praeter legem). S. zur Kritik an der "Abwägungslehre" auch Jahn, Gutachten (Fn. 1), C 45 ff. + 58 ff.; Strate HRRS 2008, 76 ff.; Amelung, in: FS Bemmann (1997), S. 521 ff.; Fezer, Grundfragen der Beweisverwertungsverbote (1995), S. 30 ff.; Müssig GA 1999, 119, 39 ff.
[9] Zur daraus folgenden strengen Beweisbefugnislehre s. Dallmeyer, Beweisführung (Fn. 1), insb. S. 32 ff.; Jahn/Dallmeyer NStZ 2005, 297 ff. S. auch Jahn, Gutachten (Fn. 1), C 66 ff., wonach grundsätzlich § 244 Abs. 2 StPO für die Verwertung der - auch rechtswidrig gewonnenen - Beweise ausreichen soll. Dies ist abzulehnen (s. wiederum Dallmeyer, Beweisführung, Fn. 1, S. 97 f.).
[10] So schon BVerfGE 109, 279, 325 f. = NJW 2004, 999, 1005 = HRRS 2004 Nr. 170 ("großer Lauschangriff").
[11] Zu den Zweifeln s. Dallmeyer, Beweisführung (Fn. 1), S. 50 und zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung S. 48 ff.
[12] BGHSt 44, 243, 249; vor kurzem bestätigt in BGHSt 51, 285, 290.
[13] BGHSt 42, 372, 377; Jähnke, in: Böttcher (Hg.), Odersky-FS (1996), S. 429.
[14] Vgl. Fezer JZ 1999, 527, der die Genese des Ausnahme-Topos aufdeckt. S. auch Dallmeyer, Beweisführung (Fn. 1), S. 111, 113, 163 ff.
[15] S. dazu Fezer JZ 1999, 528; Rogall in: Ebert u.a. (Hg.), Hanack-FS (1999), S. 301 ("...hier wird ein Grundsatz unterstellt, der erst noch zu beweisen wäre."); Asbrock StV 1999, 189 ("Hier zeigt sich, wohin die Abwägungslehre des BGH führen kann. Sie läßt sich im Einzelfall zur Heilung jedweden Verfahrensfehlers einsetzen."); Wolter in: BGH-FG (2000), Bd. 4, S. 989 ("Hier werden Verhältnismäßigkeitsprinzip, Abwägungstheorie und Gesetzesvorbehalt in ein und derselben Entscheidung verabschiedet.").
[16] Vgl. BGHSt 51, 285, 292; BGH NStZ 2004, 449, 450.
[17] BVerfGE 103, 142 = NJW 2001, 1121.
[18] Dazu Brüning HRRS 2007, 250, 251 f.; Jahn/Dallmeyer NStZ 2005, 297, 304 m.w.N.
[19] Davon legt insbesondere die vom BVerfG ungenau zitierte Entscheidung BGHSt 51, 285 Zeugnis ab. Zustimmend Roxin NStZ 2007, 616; Brüning HRRS 2007, 250; Mosbacher NJW 2007, 3686.
[20] Beschlüsse (Fn. 7), S. 11, Frage I.2.c. (Abstimmungsverhältnis 64:4:8).
[21] Vgl. T.Günther JZ 2009, 783.
[22] Sog. Heck'sche Formel seit BVerfGE 18, 85, 93 = NJW 1964, 1715, 1716; s. dazu Wieland, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, 2. Aufl. (2008), Art. 93, Rn. 34.
[23] Dallmeyer , Beweisführung (Fn. 1), S. 110 f.
[24] So der BGH in der den normativen Ausnahme-Topos begründenden Entscheidung (St 44, 243, 250).
[25] S. nur Hassemer StV 1982, 275 ff.; Limbach, in: Strafverteidigervereinigungen (Hg.), 20. Strafverteidigertag (1996), S. 35 ff.; Niemöller/Schuppert AöR (107) 1982, 387, 394 ff.; Jahn, Konfliktverteidigung und Inquisitionsmaxime (1998), S. 189 ff.; Dallmeyer, Beweisführung (Fn. 1), S. 110 ff.
[26] Hassemer StV 1982, 275, 277 ff.; Limbach, a.a.O. (Fn. 25), S. 35, 37 ff.; Niemöller/Schuppert AöR (107) 1982, 387, 398 ff.; Jahn, Konfliktverteidigung (Fn. 25), S. 197; Dallmeyer, Beweisführung (Fn. 1), S. 112 ff.
[27] S. wiederum Hassemer StV 1982, 275 ff.
[28] S. Landau NStZ 2007, 121 ff.
[29] BVerfG NJW 2009, 1469, 1474 (zur Beachtlichkeit nachträglicher Protokollberichtigung); 1734, 1735 (zur nachträglichen Änderung der Geschäftsverteilung); BeckRS 2009, 33023 (zum Beschleunigungsgrundsatz).
[30] NStZ 2007, 121, 124.
[31] NStZ 2007, 121, 125.
[32] NStZ 2007, 121, 126.
[33] NStZ 2007, 121, 127.
[34] NStZ 2007, 121, 129.
[35] NStZ 2007, 121, 129.
[36] S. dazu kritisch Jahn, Konfliktverteidigung (Fn. 25), S. 192 ff.