HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 295
Bearbeiter: Stephan Schlegel
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 728/08, Beschluss v. 18.09.2008, HRRS 2009 Nr. 295
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Köln vom 6. März 2008 - 2 Ws 96/08 - und 14. März 2008 - 2 Ws 96/08 - und der Beschluss des Landgerichts Aachen vom 6. Dezember 2007 - 33 StVK 693/07 K - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Aachen zurückverwiesen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung der Aussetzung einer Sicherungsverwahrung zur Bewährung gemäß § 67d Abs. 2 StGB.
Der Beschwerdeführer ist seit dem 9. Dezember 1998 in Haft, an die sich seit dem 8. Dezember 2005 die Sicherungsverwahrung anschloss. Er ist vielfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Unter anderem wurde er 1978 verwarnt, weil er sich mit zwei elf und 13 Jahre alten Jungen Pornohefte angeschaut und diese am Geschlechtsteil angefasst hatte. 1993/94 befand er sich in einem den sexuellen Missbrauch von Kindern betreffenden Strafverfahren fünf Monate in Untersuchungshaft. Das Verfahren wurde schließlich nach § 153 StPO eingestellt. 1994 wurde er wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen in 13 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt, die er vollständig verbüßte. Das Landgericht Wuppertal verurteilte ihn am 19. November 1999 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und ordnete die Sicherungsverwahrung an. Es stützte sich dabei auf ein Gutachten eines Facharztes für Psychiatrie vom 22. September 1999.
Mit Beschluss vom 9. Juli 2003 lehnte das Landgericht Aachen die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe und des Vollzugs der Sicherungsverwahrung ab. Ein Gutachten wurde zuvor nicht eingeholt. Am 2. August 2005 ordnete es den Vollzug der Sicherungsverwahrung an, der seit dem 8. Dezember 2005 erfolgt. Auch im Vorfeld dieser Entscheidung wurde kein Gutachten eingeholt.
Mit Beschluss vom 6. Dezember 2007 lehnte das Landgericht Aachen die Aussetzung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung ab. Zur Begründung führte es aus: Es sei gegenwärtig nicht zu erwarten, dass der Beschwerdeführer außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. Auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnisse zur gebotenen Bewertung der Persönlichkeit des Beschwerdeführers, seines Vorlebens, der Tatumstände, des Gewichts der bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgüter, des Vollzugsverhaltens, der Lebensverhältnisse und der sonstigen prognostisch relevanten Gesichtspunkte sei weiterhin zu besorgen, dass er im Falle seiner Entlassung zum gegenwärtigen Zeitpunkt erneut einschlägige Straftaten von erheblichem Gewicht begehen werde. Dies ergebe sich insbesondere aus den Schilderungen des Leiters der Justizvollzugsanstalt, der zuständigen Sozialarbeiterin, der Anstaltspsychologin und den Äußerungen des Beschwerdeführers im Anhörungstermin. Ein Prognosegutachten wurde nicht eingeholt.
Das Oberlandesgericht Köln verwarf die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde mit Beschluss vom 6. März 2008 als unbegründet. Zur Begründung führte es aus: Eine Beschwerdebegründung sei nicht eingegangen. Die Gefährlichkeitsprognose des Landgerichts Wuppertal im Urteil vom 19. November 1999 habe weiter Gültigkeit. Der Beschwerdeführer habe seine Probleme nicht aufgearbeitet und lehne dies nach wie vor ab. Im Anhörungstermin vor dem Landgericht Aachen habe er erklärt, er sehe keine Veranlassung, mit den Anstaltspsychologen zu sprechen. In welchen Vorstellungen der Beschwerdeführer im Hinblick auf den sexuellen Umgang mit Kindern verfangen sei, offenbare sich in erschreckender Weise in seinen dem Landgericht Aachen in den Jahren 2003 und 2005 überreichten Schreiben, in denen er seine Beziehung zu einem damals neunjährigen Mädchen noch einmal durchlebt habe und sich dabei nicht als Täter, sondern als denjenigen dargestellt habe, der Kindern ihre sexuellen Wünsche erfülle und sie dabei vor sexuellem Missbrauch durch andere schütze. An dieser Einstellung habe sich während der Strafhaft und der bisherigen Sicherungsverwahrung nichts geändert. Aus den Berichten des Leiters der Justizvollzugsanstalt ergebe sich durchweg, dass der Beschwerdeführer die Straftatbestände weiterhin verharmlose und sein Verhalten zu legalisieren versuche. In seiner Stellungnahme vom 4. September 2007 habe der Leiter der Justizvollzugsanstalt erklärt, der Beschwerdeführer scheine von der Haft und Sicherungsverwahrung nicht sonderlich beeindruckt und bewerte seine Delinquenz als gesellschaftliches Problem. Er sei immer noch sicher, dass seine Straftaten es nicht rechtfertigen würden, ihn dafür zu bestrafen. Es sei nicht erkennbar, dass er sich mit seinen Straftaten auseinandergesetzt habe. Im Hinblick auf das hohe Schutzgut der ungestörten sexuellen Entwicklung von Kindern könne daher eine Entlassung aus der Sicherungsverwahrung, die erst seit zweieinhalb Jahren vollstreckt werde, nicht verantwortet werden.
Nach Erlass dieses Beschlusses wurde die bereits zuvor abgegebene Beschwerdebegründung den erkennenden Richtern des Oberlandesgerichts Köln vorgelegt. Der Beschwerdeführer rügte darin im Wesentlichen, dass die Ausführungen im Beschluss des Landgerichts Aachen vom 6. Dezember 2007 mit dem Inhalt des Sitzungsprotokolls über den Anhörungstermin vom 6. Dezember 2007 nicht in Einklang zu bringen seien und seinem im Anhörungstermin gestellten Antrag auf Einholung eines externen Sachverständigengutachtens nicht entsprochen worden sei. Das letzte Gutachten datiere vom 22. September 1999. Er sei zu einer Therapie mit einem externen Therapeuten bereit.
Das Oberlandesgericht Köln erklärte mit Beschluss vom 14. März 2008, es sehe auch in Anbetracht der Beschwerdebegründung keine Veranlassung zu einer Abänderung seiner Entscheidung vom 6. März 2008. Rechtliches Gehör sei in ausreichendem Maße gewährt worden. In der Sache ergäben sich aus der Beschwerdebegründung keine neuen Gesichtspunkte. Insbesondere ändere die angebliche Bereitschaft, sich von einem externen Therapeuten behandeln zu lassen, nichts an der Gefährlichkeitsprognose.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Es stelle sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 463 Abs. 3 in Verbindung mit § 454 Abs. 2 StPO. Diese Vorschriften seien jedenfalls dahingehend auszulegen, dass im Rahmen einer Überprüfung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung grundsätzlich ein Gutachten über die weitere Gefährlichkeit des Sicherungsverwahrten einzuholen sei und nicht nur dann, wenn die zuständige Strafvollstreckungskammer eine vorzeitige Entlassung erwäge. Die angegriffenen Entscheidungen übersähen, dass zwischen dem letzten Gutachten vom 22. September 1999 und dem Anhörungstermin am 6. Dezember 2007 über acht Jahre vergangen seien. Es dürfe kaum angenommen werden, dass in dieser Zeit bei ihm keine Veränderung eingetreten sei.
Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hatte Gelegenheit zur Äußerung; es hat keine Stellungnahme abgegeben.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Zu dieser Entscheidung ist sie berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).
1. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG.
Strafvollstreckungsgerichte sind von Verfassungs wegen verpflichtet, bei der Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung einen gerechten und vertretbaren Ausgleich bezogen auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen Rechtsgutverletzungen zu finden. Je länger die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs. Dabei ist das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen nicht nur materiell, sondern auch auf der Ebene des Verfahrensrechts abzusichern (vgl. BVerfGE 109, 133 <159>). Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG ergeben sich Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung. Denn es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 70, 297 <308>). Dabei muss nicht bei jeder Überprüfung der Unterbringung von Verfassungs wegen ein Sachverständigengutachten eingeholt werden. Soweit keine zwingenden gesetzlichen Vorschriften bestehen, hängt es von dem sich nach den Umständen des einzelnen Falles bestimmenden pflichtgemäßen Ermessen des Richters ab, in welcher Weise er die Aussetzungsreife prüft (vgl. BVerfGE 70, 297 <309 f.>). In der Regel besteht jedoch die Pflicht, einen erfahrenen Sachverständigen zuzuziehen, wenn es um eine Prognoseentscheidung geht, bei der geistige und seelische Anomalien in Frage stehen (vgl. BVerfGE 70, 297 <309>). Der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen muss der Richter durch eine sorgfältige Auswahl des Gutachters entgegenwirken. So wird es von Zeit zu Zeit geraten sein, einen anstaltsfremden Sachverständigen mit der Begutachtung zu beauftragen, um auszuschließen, dass anstaltsinterne Belange oder die Beziehung zwischen Therapeuten und Untergebrachtem das Gutachten beeinflussen (vgl. BVerfGE 70, 297 <310 f.>; 109, 133 <164>).
Diesen Maßstäben halten die angegriffenen Beschlüsse nicht stand. Um der verfassungsrechtlich gebotenen bestmöglichen Sachaufklärung nachzukommen, hätte zur Vorbereitung der Entscheidung über die Aussetzung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung ein neues Prognosegutachten eingeholt werden müssen. Der Beschwerdeführer ist bereits seit dem 9. Dezember 1998 in Haft, an die sich unmittelbar die Sicherungsverwahrung anschloss. Das letzte und zugleich einzige in den beigezogenen Akten befindliche psychiatrische Gutachten datiert vom 22. September 1999, lag also im Zeitpunkt der Fortdauerentscheidung bereits mehr als acht Jahre zurück. Angesichts dieser erheblichen Zeitspanne und den beim Beschwerdeführer bestehenden Anomalien war trotz der erst zweieinhalb Jahre andauernden Sicherungsverwahrung vor einer Entscheidung über die Aussetzung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zur Bewährung von Verfassungs wegen ein Gutachten einzuholen. Zur Vorbereitung der neuen Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung wird es sich empfehlen, weder einen behandelnden Arzt noch einen vom Beschwerdeführer konkret abgelehnten Gutachter als Sachverständigen zu beauftragen.
2. Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG, die Entscheidung über die Auslagenerstattung auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 295
Bearbeiter: Stephan Schlegel