HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2008
9. Jahrgang
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Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht - Allgemeiner Teil


Entscheidung

530. BGH 4 StR 136/08 - Beschluss vom 22. April 2008 (LG Magdeburg)

Ausschluss des Ausschlusses einer Aufhebung der Steuerungsfähigkeit bei der Tat (krankhafter psychiatrischer Zustand; Schizophrenie); rechtfehlerhafte Verneinung der Anordnung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

§ 21 StGB; § 63 StGB

Der Schluss auf eine bei der Tatbegehung noch erhaltene Steuerungsfähigkeit lässt sich nicht ohne Weiteres daraus herleiten, dass eine Angeklagte in allen anderen Fällen ihre zerstörerischen Ideen (hier: gehörte Stimmen, die zu Taten Anlass geben) beherrscht habe. Dies gilt besonders, wenn es bereits an einer nachvollziehbaren Darlegung der äußeren und inneren Umstände jener „anderen Fälle“ fehlt. Zudem könnte gerade der Umstand, dass sich die Angeklagte in anderen vergleichbaren Situationen zu beherrschen vermochte, dafür sprechen, dass sie bei den hier abgeurteilten Taten ihren „Stimmen“ gerade nicht widerstehen konnte. Über diese Frage ist nach dem Zweifelsgrundsatz zu entscheiden.

II. Materielles Strafrecht – Besonderer Teil


Entscheidung

534. BGH 4 StR 634/07 - Beschluss vom 17. April 2008 (LG Stralsund)

In der Regel keine Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs beim Abschneiden von Haaren („Dreadlockfall“).

§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB

Ein Gegenstand ist nur dann ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB, wenn er nach seiner objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung im Einzelfall geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen zuzufügen (st. Rspr., vgl. nur BGH NStZ 2007, 95 m.w.N.). Wird ein Messer oder eine Schwere zum Haarabschneiden benutzt, liegt darin in der Regel keine Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs.


Entscheidung

531. BGH 4 StR 148/08 - Beschluss vom 29. April 2008 (LG Bochum)

Begünstigung (Erfassung nur unmittelbarer Vorteile aus der Tat; Zurverfügungstellung eines E-Bay-

Accounts; Subsidiaritätsklausel); Hehlerei; Diebstahl; Bestimmung der Konkurrenzen beim Gehilfen nach dessen Handlungen.

§ 257 StGB; § 259 StGB; § 242 StGB; § 27 StGB; § 52 StGB

1. Die Begünstigung ist nach ständiger Rechtsprechung nur strafbar, soweit dem Vortäter dadurch die unmittelbaren Vorteile der Tat gesichert werden sollen, die er zur Zeit der Begünstigungshandlung noch innehaben muss (BGHSt 24, 166 f; 36, 277, 281; BGH NStZ 1987, 22). Um „die“ Vorteile der Tat handelt es sich nicht mehr, wenn dem Vortäter sich erst aus der Verwertung der Tatvorteile ergebende wirtschaftliche Werte zugewendet oder gesichert werden sollen (BGH NStZ aaO). Danach ist der Erlös aus einem Verkauf des Erlangten kein unmittelbarer Vorteil mehr, der Gegenstand der Begünstigung im Sinne des § 257 Abs. 1 StGB sein kann.

2. Eine taugliche Begünstigungshandlung im Sinne des § 257 Abs. 1 StGB kann aber darin zu sehen sein, dass der Angeklagte dem Vortäter seinen e-bay account zur Verfügung stellte und ihm dadurch bei dem Verkauf der entwendeten Gegenstände Hilfe leistet. Voraussetzung wäre indes, dass der Angeklagte dabei zumindest auch in der Absicht gehandelt hätte, dem Vortäter vor der Wiederentziehung der entwendeten Gegenstände zu bewahren (BGHSt 2, 362, 364).


Entscheidung

552. BGH 5 StR 92/08 – Beschluss vom 6. Mai 2008 (LG Braunschweig)

Heimtückemord nach vorherigem Angriff auf das Opfer (Arglosigkeit und Wehrlosigkeit bei mehraktigen Tatgeschehen; fortwirkender Entzug von Verteidigungsmöglichkeiten); besondere Schwere der Schuld (Wertungsfehler hinsichtlich des Nachtatverhaltens).

§ 211 StGB; § 57a StGB

Zwar steht es der Annahme von Arglosigkeit in der Regel entgegen, wenn sich das Opfer zum Zeitpunkt der Tathandlung im Zustand der Bewusstlosigkeit befindet (BGHSt 23, 119, 120; BGH StV 2000, 309 m.w.N.). Dies gilt aber dann nicht, wenn der Angeklagte die Bewusstlosigkeit durch einen von Tötungsvorsatz getragenen – sogar todestauglichen – Schuss bereits unter Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers selbst herbeigeführt hat. Bei dieser Sachlage stellt die unmittelbare Herbeiführung des Todes durch eine weitere Tötungshandlung im Zustand der Bewusstlosigkeit des Opfers immer noch ein Ausnutzen der vom Täter zuvor hervorgerufenen und noch fortwirkenden Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers dar. Eine Aufspaltung des vom einheitlichen Tötungsvorsatz getragenen Geschehens in einen versuchten Heimtückemord in Tateinheit mit Totschlag wegen Wegfalls des Mordmerkmals während der weiteren Tatausführung kommt nicht in Frage.


Entscheidung

564. BGH 5 StR 163/08 – Beschluss vom 6. Mai 2008 (LG Hamburg)

Minder schwerer Fall des Totschlags (seelische Kränkungen: vermeintlicher Betrug; Beleidigungen; Handeln ohne eigene Schuld: Eskalation durch den Angeklagten; Doppelverwertungsverbot).

§ 212 StGB; § 213 StGB; § 46 Abs. 3 StGB

Auch eine Kränkung des Angeklagten wegen wiederholter Nichterfüllung einer berechtigten Forderung kann in ihrem Zusammentreffen mit gegen den Angeklagten gerichteten Beleidigungen den Tatbestand des § 213 StGB erfüllen (vgl. BGHR StGB § 213 Alt. 1 Misshandlung 3 und 4). Dies gilt aber dann nicht, wenn der Angeklagte die Eskalation der körperlichen Auseinandersetzung selbst hervorruft und damit nicht „ohne eigene Schuld“ im Sinne des § 213 StGB handelt.


Entscheidung

535. BGH 4 StR 639/07 – Urteil vom 15. April 2008 (LG Saarbrücken)

Gefährdung des Straßenverkehrs (absolute und relative Fahruntüchtigkeit: Bedeutung von Fahrfehlern; Überholen an Fußgängerüberwegen); Tötungsvorsatz (Totschlag; Hemmschwelle).

§ 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b, Nr. 2 Buchst. c StGB; § 212 StGB; § 15 StGB

1. Relative Fahruntüchtigkeit (genauer: Fahrunsicherheit), setzt voraus, dass die Gesamtleistungsfähigkeit des Fahrzeugführers infolge geistiger und/oder körperlicher Mängel soweit herabgesetzt ist, dass er nicht mehr fähig ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, auch bei Eintritt schwieriger Verkehrslagen, sicher zu steuern (BGHSt 13, 83, 90; 44, 219, 221). Es ist nicht unbedingt erforderlich, dass sich die körperlichen bzw. geistigen Mängel in Fahrfehlern ausgewirkt haben. Vielmehr können unter Umständen zum Nachweis der Fahrunsicherheit auch sonstige Auffälligkeiten im Verhalten des Fahrzeugführers genügen, sofern sie konkrete Hinweise auf eine schwerwiegende Beeinträchtigung seiner psychophysischen Leistungsfähigkeit, insbesondere seiner Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit geben (vgl. BGHSt 31, 42, 44 f.; 44, 221 f.).

2. Da sich die „absolute“ von der „relativen“ Fahruntüchtigkeit allein in ihrem Nachweis unterscheidet (BGHSt 31, 42, 44), erscheint bereits fraglich, ob außerhalb des Bereichs der unwiderlegbaren Vermutung der Fahruntüchtigkeit auf Grund eines Blutalkoholgrenzwerts der Begriff der „absoluten“ Fahruntüchtigkeit überhaupt Verwendung finden kann.

3. Die Tatbestandsalternative der Nr. 2 Buchst. c) des § 315 c Abs. 1 StGB erfasst ein Falschfahren nur an Fußgängerüberwegen im Sinne des § 26 StVO. Der Senat hätte indes Bedenken, die Vorschrift des § 315 c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c) StGB von vornherein dann nicht eingreifen zu lassen, wenn der „Fußgängerüberweg“ zusätzlich durch eine in Betrieb befindliche Lichtzeichenanlage gesichert ist.


Entscheidung

527. BGH 4 StR 89/08 - Beschluss vom 3. April 2008 (LG Saarbrücken)

Konkurrenzen zwischen einfacher Körperverletzung und besonders schwerer Vergewaltigung; Erörterungsmangel zu einer kompensationspflichtigen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung.

§ 223 StGB; § 177 Abs. 4 Nr. 2 a StGB; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

Die einfache Körperverletzung nach § 223 StGB tritt auf

der Konkurrenzebene hinter § 177 Abs. 4 Nr. 2 a StGB zurück (vgl. BGH StraFo 2004, 396).


Entscheidung

574. BGH 5 StR 589/07 – Beschluss vom 16. April 2008 (LG Frankfurt)

Schwerer sexueller Missbrauch eines Kindes (bedingter Vorsatz hinsichtlich des Alters des Opfers); sexueller Missbrauch einer Jugendlichen.

§ 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F.; § 15 StGB; § 182 Abs. 1 Nr. 1 StGB

Für das Merkmal „Zwangslage“ im Sinne des § 182 Abs. 1 Nr. 1 1. Alt. StGB ist eine ernste persönliche oder wirtschaftliche Bedrängnis des Opfers kennzeichnend. Sie setzt Umstände von Gewicht voraus, denen die spezifische Gefahr anhaftet, sexuellen Übergriffen gegenüber einem Jugendlichen in einer Weise Vorschub zu leisten, dass sich der Jugendliche ihnen gegenüber nicht ohne weiteres entziehen kann (BGHSt 42, 399). Es müssen also gravierende, das Maß des für Personen im Alter und in der Situation des Jugendlichen Üblichen deutlich übersteigende Umstände vorliegen, die geeignet sind, die Entscheidungsmöglichkeiten des Jugendlichen gerade über sein sexuelles Verhalten einzuschränken.