Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2008
9. Jahrgang
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Wer vor zwanzig Jahren eine Revisionsbegründung verfasste, durfte sich gelegentlich darüber ärgern, dass in Beschlussverwerfungsanträgen des Generalbundesanwalts Entscheidungen des Bundesgerichtshofs mit Datum und Aktenzeichen zitiert wurden, die nirgendwo zu finden waren. Zwar war der Zugang zu ihnen nicht versperrt. Man konnte sie in Ablichtung beim Bundesgerichtshof anfordern. Bevor sie dem revisionsführenden Anwalt zur Verfügung standen, war die Zweiwochenfrist zur Erwiderung jedoch häufig schon abgelaufen.
Die selektive Veröffentlichungspraxis - wobei die Selektion kein System hatte - war aber noch das geringste Ärgernis. Diejenigen Entscheidungen, die publiziert wurden, erschienen mit mehrwöchiger Verzögerung in Entscheidungssammlungen und Zeitschriften, die für angehende und frisch praktizierende Juristen nur schwer erschwinglich waren.
Die Idee - beflügelt durch das Internet und Vorbilder in den USA - war einfach: Es sollte möglich sein, alle Entscheidungen unseres höchsten Gerichts vollständig für jedermann und kostenlos zugänglich zu machen - anders gesagt: den informativen Zugang zur Rechtsprechung zu "demokratisieren".
Die Umsetzung dieser Idee wurde am Abend des 10.6.1998 nach einem Vortrag, den ich auf Einladung des Fachschaftsrats Jura an der Leipziger Universität gehalten hatte, beschlossene Sache. Ein kleiner Zirkel von Studenten, Karsten Gaede, Rocco Beck und Stephan Schlegel hielten das Projekt für machbar. Einige Monate später kam dann noch Ulf Buermeyer hinzu. Nach mehreren Monaten der Planung konnten wir im April 1999 auf "Sendung" gehen und im Januar 2000 erschien das erste Heft - damals noch unter dem Titel "HRR-Strafrecht".
Inzwischen sind - mit dieser Ausgabe - hundert Hefte der HRRS erschienen. Aus den Studenten sind Wissenschaftler, Rechtsanwälte und Richter geworden. Sie haben es verstanden, HRRS nicht nur zu einem unentbehrlichen Nachschlagewerk für die höchstrichterliche Recht-
sprechung zu machen (mit ca. 150.000 Zugriffen in jedem Monat), sondern der Zeitschrift durch die Veröffentlichung hochqualifizierter Beiträge ein völlig eigenständiges Profil in der fachlichen Debatte zwischen Wissenschaft, Rechtsprechung und Praxis zu verschaffen.
Der Herausgeber und die Leser entbieten der Redaktion einen herzlichen Glückwunsch!
Gerhard Strate
1. Wollen die Ermittlungsbehörden gegen einen bereits konkret Tatverdächtigen mit einem fingierten Angebot zur Begehung einer Straftat vorgehen, um ihn zu überführen, dürfen sie eine nicht tatverdächtige Person nicht als Mittelsmann einbeziehen, welche die Tat ohne die Aktion der Ermittlungsbehörden nicht begangen hätte.
2. Die Verwertung eines Beweismittels, das durch eine rechtswidrige Tatprovokation erlangt worden ist, ist in einem fairen Strafverfahren auszuschließen. Auch die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege kann ihre Verwertung in einem fairen Strafverfahren nicht rechtfertigen.
3. Eine mit Art. 6 EMRK unvereinbare Tatprovokation kann schon dann angenommen werden, wenn das Einschreiten der Beamten möglicherweise die Straftat provoziert hat und nichts dafür spricht, dass sie ohne deren Einwirkung begangen worden wäre.
4. Das Recht auf ein faires Verfahren gilt für alle Arten von Straftaten einschließlich Straftaten, die der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind. Das Recht auf ein faires Strafverfahren darf auch bei diesen Taten nicht der Zweckmäßigkeit geopfert werden.
1. Grundrechte dürfen nur durch Gesetz oder aufgrund Gesetzes und nur unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden. Dies gilt allgemein und daher auch für Gefangene (vgl. BVerfGE 33, 1, 11; 116, 69, 80) und im Maßregelvollzug Untergebrachte. Soweit eine sachgerechte Behandlung im Maßregelvollzug die Einräumung therapeutischer Beurteilungsspielräume erfordert, berührt dies nicht die grundsätzliche verfassungsrechtliche Notwendigkeit einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage für Grundrechtsbeschränkungen im Maßregelvollzug.
2. Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage betrifft auch Beschränkungen des Rechts, mit Personen außerhalb der Anstalt zu verkehren (vgl. BVerfGE 89, 315, 322). Beschränkungen der Besuchskontakte im Freiheitsentzug greifen in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein; geht es um den Besuchskontakt zu Familienangehörigen, so ist das insoweit speziellere Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG berührt (vgl. BVerfGE 89, 315, 322, 323).
3. Auch im Maßregelvollzug bleibt die Erhaltung des Kontakts zu den Familienangehörigen ein bei Vollzugsentscheidungen zu berücksichtigender, grundrechtlich geschützter Belang. Einschränkungen des Besuchsrechts unterliegen demgemäß einer Verhältnismäßigkeitskontrolle, die der Bedeutung sozialer Kontakte und insbesondere der Pflege von Familienbeziehungen für den Untergebrachten Rechnung tragen muss.
4. Dem Maßregelvollzugsgesetz NRW, insbesondere dessen § 9 Abs. 2 MRVG NRW, ist keine ausdrückliche Ermächtigung zu entnehmen, aufgrund der die Klinik berechtigt wäre, routinemäßig Besuchskontakte von therapeutischen Erstgesprächen mit den Besuchern abhängig zu machen.
5. Eingriffsermächtigungen für Vollzugsbehörden, die ohne weitere Spezifizierung auf Erfordernisse der Sicherheit und Ordnung abstellen, sind in der Regel gerade zum Schutz der Grundrechte der Betroffenen dahingehend auszulegen, dass zu ihrer Anwendung konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Anstaltssicherheit oder -ordnung bereits vorliegen müssen.
6. Die in § 116 Abs. 1 StVollzG normierten besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen sind im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsgemäß.
1. Aus der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG folgt nicht, dass bei jeder Überprüfung der Unterbringung ein Sachverständigengutachten eingeholt werden muss. Soweit keine zwingenden gesetzlichen Vorschriften bestehen, hängt es von dem sich nach den Umständen des einzelnen Falles bestimmenden pflichtgemäßen Ermessen des Richters ab, in welcher Weise er die Aussetzungsreife prüft (vgl. BVerfGE 70, 297, 309 f.). In der Regel besteht jedoch die Pflicht, einen erfahrenen Sachverständigen zuzuziehen, wenn es um eine Prognoseentscheidung geht, bei der geistige und seelische Anomalien in Frage stehen (vgl. BVerfGE 70, 297, 309); dies gilt insbesondere dort, wo die Gefährlichkeit eines in einem psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten zu beurteilen ist.
2. Der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen muss der Richter durch eine sorgfältige Auswahl des Gutachters entgegenwirken. So wird es von Zeit zu Zeit geraten sein, einen anstaltsfremden Sachverständigen mit der Begutachtung zu beauftragen, um auszuschließen, dass anstaltsinterne Belange oder die Beziehung zwischen Therapeuten und Untergebrachtem das Gutachten beeinflussen (vgl. BVerfGE 70, 297, 310 f.; 109, 133, 164).
3. Zwar hat der Untergebrachte keinen Anspruch auf eine Untersuchung durch einen von ihm vorgeschlagenen Sachverständigen. Die Strafvollstreckungsgerichte sind daher grundsätzlich nicht verpflichtet, einen neuen Sachverständigen einzusetzen, solange kein berechtigter Grund für eine Ablehnung des gerichtlich bestellten Sachverständigen im Sinne von § 74 StPO besteht. Ein solcher Anspruch kann im Einzelfall aber dann bestehen, wenn beim Untergebrachten die – möglicherweise krankhaft – verfestigte Vorstellung besteht, er werde von den durch das Gericht vorgeschlagenen Sachverständigen und den behandelnden Klinikärzten nicht unvoreingenommen beurteilt und eine ausreichende Beurteilungsgrundlage für die gerichtliche Entscheidung auch nicht auf anderen Wege, z.B. bei der Durchführung von Entlassungslockerungen, erlangt werden kann.
1. Die herausgehobene Bedeutung der Berufsausübung eines Rechtsanwalts für die Rechtspflege und für die Wahrung der Rechte seiner Mandanten gebietet die besonders sorgfältige Beachtung der Eingriffsvoraussetzungen für eine Durchsuchung und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, auch wenn die Beschlagnahme und die auf sie gerichtete Durchsuchung bei einem als Strafverteidiger tätigen Rechtsanwalt durch § 97 StPO nicht generell ausgeschlossen ist, wenn dieser selbst Beschuldigter in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren ist.
2. Es bedarf einer besonders sorgfältigen Prüfung und Begründung, wenn mittels einer Durchsuchung beim beschuldigten Rechtsanwalt auch Zugriff auf Verteidigerakten genommen werden soll, die sonst den Ermittlungsbehörden auf Grund des Beschlagnahmeprivilegs des § 97 Abs. 1 in Verbindung mit § 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO entzogen sind.
3. Dass der Ermittlungsrichter die Eingriffsvoraussetzungen selbständig und eigenverantwortlich geprüft hat, muss in dem Beschluss zum Ausdruck kommen. Hierzu gehört auch eine Darstellung der Abwägung der berührten Grundrechte mit der Schwere des Tatvorwurfs.
4. Ein Verstoß gegen die von Verfassungs wegen gebotenen Prüfungsanforderungen bei Durchsuchungen liegt vor, wenn sich sachlich zureichende plausible Gründe für eine Durchsuchung nicht mehr finden lassen.
5. An einem plausiblen Grund für eine Durchsuchung fehlt es, wenn die im Rahmen der Durchsuchung aufzufindenden Gegenstände zur Beweisführung nicht erforderlich sind oder nicht ersichtlich ist, dass beweisgeeignete Gegenstände im Durchsuchungsobjekt überhaupt aufgefunden werden können.
1. Entscheidungen über die Anrechnung erlittener Untersuchungshaft oder anderer Freiheitsentziehungen betreffen den Umfang der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe
und berühren damit grundsätzlich die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit der Person. Dieses Freiheitsrecht beeinflusst als objektive, für alle Bereiche des Rechts geltende Wertentscheidung auch die Auslegung und Anwendung des § 51 Abs. 1 StGB. Deshalb genügt ein sich lediglich auf den Wortlaut der Vorschrift berufendes, formales Verständnis des § 51 Abs. 1 StGB der Bedeutung und Tragweite des Freiheitsrechts nicht.
2. Verfassungsrechtlich geboten ist eine Anrechnung verfahrensfremder Haft immer dann, wenn zwischen der die Untersuchungs- oder Auslieferungshaft auslösenden Tat und der Tat, die der Verurteilung zugrunde liegt, ein funktionaler Zusammenhang besteht oder zwischen ihnen ein irgendwie gearteter sachlicher Bezug bestanden hat. Ferner ist über den eigentlichen Anwendungsbereich des § 51 Abs. 1 StGB hinaus verfahrensfremde Untersuchungshaft jedenfalls dann auf eine Freiheitsstrafe anzurechnen, wenn zumindest eine potentielle Gesamtstrafenfähigkeit der Strafe, auf die die Untersuchungshaft angerechnet werden soll, besteht.
3. Der bloße Umstand, dass eine ausländische (Militär-)Strafe wegen des damit verbundenen Eingriffs in deren Vollstreckbarkeit nicht gesamtstrafenfähig ist, begründete keine verfassungsrechtliche Verpflichtung zu einer entsprechenden Anwendung des § 51 Abs. 1 StGB.
4. Es entspricht der Struktur des Strafverfahrens, dass bei einem Zusammentreffen einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit weiteren Freiheitsstrafen, die aufgrund prozessualer Zufälligkeiten nicht nach § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB gesamtstrafenfähig sind, die darin liegende Härte erforderlichenfalls bei der Strafzumessung wegen der neuen Tat zu berücksichtigen ist (hier: Absehen von der Feststellung besonderer Schwere der Schuld).
1. Der gerichtliche Durchsuchungsbeschluss dient auch dazu, die Durchführung der Eingriffsmaßnahme messbar und kontrollierbar zu gestalten (vgl. BVerfGE 20, 162, 224; 103, 142, 151). Dazu muss der Beschluss insbesondere den Tatvorwurf so beschreiben, dass der äußere Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen die Zwangsmaßnahme durchzuführen ist. Dies erfordert auch tatsächliche Angaben zur Umschreibung der konkret vorgeworfenen Taten, wie auch Angaben zum Tatzeitraum.
2. Soll wegen einer Ordnungswidrigkeit durchsucht werden, die angesichts eines niedrigen Ordnungsgeldes (hier: 10.000 €) vom Gesetzgeber als minderes Unrecht eingestuft wurde, so sind die Anforderungen an die Stärke des Tatverdachts unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit erhöht. Von der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit hat sich der Richter ebenfalls aufgrund eigenverantwortlicher Prüfung der Ermittlungen zu überzeugen.
3. Ein Durchsuchungsbeschluss ist nicht bereits deswegen zu beanstanden, wenn anstelle einer Qualifikation (hier: § 1 Abs. 1 Nr. 3 SchwarzArbG a.F.) der Grundtatbestand (hier: § 117 Abs. 1 Nr. 1 HwO) einer Vorschrift zum Anlass für eine Durchsuchungsanordnung gemacht wird, sofern der Grundtatbestand als solcher erfüllt ist. Anders liegt es jedoch dann, wenn in der Verhältnismäßigkeitsprüfung wesentlich auf Elemente des nicht herangezogenen Qualifikationstatbestandes abgestellt wird (hier: „in erheblichem Umfang“), es dafür aber keine ausreichende Tatsachengrundlage gibt.
4. Die bloße Vermittlung eines Auftrags an andere Handwerker und die Weiterreichung der Kosten an den Kunden erfüllen nicht die Voraussetzungen des selbständigen Betriebs eines Handwerks im Sinne des § 1 HwO und sind nicht eintragungspflichtig.
1. Umfangreiche Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchungsmaßnahme sind zwar weder im Durchsuchungsbeschluss noch in der Beschwerdeentscheidung grundsätzlich und stets von Verfassungs wegen geboten. Erforderlich ist aber, dass erkennbar ist, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Berücksichtigung der Schwere des Tatverdachtes stattgefunden hat. Daran fehlt es, wenn im Qualifikationsverhältnis stehende Normen unterschiedlicher Schwere (hier: § 117 Abs. 1 Nr. 1 HwO einerseits, § 1 Abs. 1 Nr. 3 SchwarzArbG a.F. andererseits) zugleich oder alternativ benannt werden.
2. Zur Begründung des Tatverdachts bei § 1 Abs. 1 Nr. 3 SchwarzArbG a.F. gehört die Darlegung der Ausführung von Dienst- oder Werkleistungen in erheblichem Umfang. Um diesen Anfangsverdacht verfassungsgemäß begründen zu können, ist erforderlich, dass Feststellungen getroffen werden, die nach einfachem Recht die Anwendung des Qualifikationstatbestands nachvollziehbar machen.
3. Die einmalige Ausführung von handwerklichen Leistungen vermag einen hinreichenden Anfangsverdacht für die Ausübung von Dienst- oder Werkleistungen „in erheblichem Umfang“ im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 3 SchwarzArbG a.F. nicht zu begründen.
1. Ein Durchsuchungsbeschluss, der nicht erkennen lässt, welcher konkrete Tatvorwurf gemacht wird, der keine bestimmte Tathandlung benennt, weder den Tatzeitraum umschreibt (hier allein: „Verstoß gegen die Handwerksordnung, das Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und der Gewerbeordnung“), noch die aufzufindenden Beweismittel ausreichend konkret bezeichnet, genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen Durchsuchungsbeschluss.
2. Umfangreiche Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchungsmaßnahme sind weder im Durchsuchungsbeschluss noch in der Beschwerdeentscheidung grundsätzlich und stets von Verfassungs wegen geboten. Identifizieren aber die beteiligten Gerichte nicht die für den Tatverdacht einschlägige Norm, ist davon auszugehen, dass eine differenzierte Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Schwere der Tat nicht stattgefunden hat.