HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Juni 2008
9. Jahrgang
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Prozessdokumentation

EGMR Nr. 15100/06 (1. Kammer) - Urteil vom 21. Februar 2008 (Pyrgiotakis v. Griechenland)

Recht auf ein faires Strafverfahren (unzulässige Tatprovokation; mittelbare Tatprovokation; agent provocateur; V-Mann; V-Leute; Einsatz Verdeckter Ermittler; Gesamtrecht und Gesamtbetrachtung; Beweisrecht); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 EMRK; § 110a StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Wollen die Ermittlungsbehörden gegen einen bereits konkret Tatverdächtigen mit einem fingierten Angebot zur Begehung einer Straftat vorgehen, um ihn zu überführen, dürfen sie eine nicht tatverdächtige Person nicht als Mittelsmann einbeziehen, welche die Tat ohne die Aktion der Ermittlungsbehörden nicht begangen hätte.

2. Die Verwertung eines Beweismittels, das durch eine rechtswidrige Tatprovokation erlangt worden ist, ist in einem fairen Strafverfahren auszuschließen. Auch die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege kann ihre Verwertung in einem fairen Strafverfahren nicht rechtfertigen.

3. Eine mit Art. 6 EMRK unvereinbare Tatprovokation kann schon dann angenommen werden, wenn das Einschreiten der Beamten möglicherweise die Straftat provoziert hat und nichts dafür spricht, dass sie ohne deren Einwirkung begangen worden wäre.

4. Das Recht auf ein faires Verfahren gilt für alle Arten von Straftaten einschließlich Straftaten, die der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind. Das Recht auf ein faires Strafverfahren darf auch bei diesen Taten nicht der Zweckmäßigkeit geopfert werden.

SACHVERHALT

"5. Der Beschwerdeführer ist 1947 geboren. Er ist gegenwärtig in der psychiatrischen Klinik des Gefängnisses von Korydallos (Piräus) inhaftiert.

A Das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer

6. Am 6. Juni 2003 verurteilte das Geschworenengericht von Chania den Beschwerdeführer wegen seiner Verwicklung in einen Drogenschmuggel zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren und eine Geldstrafe von 15.000 Euro. Ihm war insbesondere vorgeworfen worden, als Vermittler zwischen einem Polizeibeamten, der als Ankäufer auftrat, und einem Schmuggler, P., tätig geworden zu sein, der ebenfalls vor dem Gericht angeklagt war. Das Gericht stellte den Sachverhalt fest und stützte sich dabei vor allem auf die Zeugenaussagen der Polizeibeamten, die an der Maßnahme teilgenommen hatten, darunter auch des Beamten, der als vorgeblicher Käufer aufgetreten war. Dieser erklärte unter anderem, dass die Polizei Wind davon bekommen habe, dass P. als Drogenschmuggler tätig war, und dass er sich ihm - dem P. - gegenüber als angeblicher Käufer vorgestellt hatte. Er habe den Beschwerdeführer zuvor nicht gekannt und habe vor der Operation auch nichts von ihm gehört.

7. Nach den Feststellungen des Gerichts wies der Beschwerdeführer den genannten Polizeibeamten telefonisch an, auf ihn an einem bestimmten Ort zu warten; dort angekommen fand der Beamte den Beschwerdeführer und den P. an Bord eines Fahrzeugs. Er folgte ihnen bis zum Ort der Abwicklung des Geschäfts. Dort wechselte der Beschwerdeführer einige Worte mit P. und verschwand (Entscheidung 243/2003). Der Beschwerdeführer, der während der gesamten Dauer des Prozesses darauf beharrte, dass er die Art des Geschäfts nicht gekannt und lediglich der T. einen Gefallen habe tun wollen, einer Bekannten, die ihn gebeten habe, den angeblichen Käufer und den P. bekannt zu machen, was von T. vor dem Gericht bestätigt wurde, legte Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ein.

8. Am 24. März 2005 bestätigte das Appellationsgericht von Kreta aus denselben Gründen den Schuldspruch sowie die Freiheitsstrafe, die in der ersten Instanz gegen den Beschwerdeführer verhängt worden waren, reduzierte aber die Geldstrafe auf 7000 Euro (Entscheidung Nr. 64/2005).

9. Am 3. Juni 2005 legte der Beschwerdeführer hiergegen Rechtsmittel ein. Unter Berufung auf Art. 6 Abs. 1 der EMRK rügte er unter anderem eine Verletzung des Prinzips des fairen Verfahrens. Seiner Ansicht nach beruhte seine Verurteilung alleine auf dem Verhalten eines der an der Sache beteiligten Polizeibeamten, der als "agent provocateur" gehandelt habe. Wenn der Beamte nicht darum gebeten hätte, mit P. in Kontakt gebracht zu werden, wäre die ihm - dem Beschwerdeführer - vorgeworfene Straftat niemals begangen worden.

10. Am 21. Dezember 2005 wies das Kassationsgericht das Rechtsmittel zurück. Es vertrat die Ansicht, dass die angegriffene Entscheidung vollständig begründet sei und dass das Argument, wonach ein Polizeibeamter als "agent provocateur" aufgetreten sei, sich von dem vom Appellationsgericht festgestellten Sachverhalt entferne. Das Obergericht fügte hinzu, selbst wenn der Beamte als "agent provocateur" gehandelt habe, so habe sein Verhalten jedoch nicht die Grenzen der Tätigkeit eines V-Manns überschritten (Entscheidung 2496/2005).

B. Der auf die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Aufschiebung seiner Strafe gerichtete Antrag des Beschwerdeführers

11. Am 2. Juni 2006 verlangte der Beschwerdeführer die Wiederaufnahme seines Strafverfahrens, ein außerordentlicher Rechtsbehelf, der ausschließlich in den Ausnahmefällen offen steht, die in Art. 525 der Strafprozessordnung aufgezählt sind. Er vertrat die Auffassung, dass nach Rechtskraft seiner Verurteilung neue Tatsachen bekannt geworden seien, die seine Unschuld bewiesen. Insoweit verwies er darauf, dass er gegen die Polizeibeamten und andere Personen, die in seinen Fall verwickelt seien, Klage erhoben sowie den Gerichtshof mit der vorliegenden Beschwerde angerufen habe. Über dieses außerordentliche Rechtsmittel ist noch nicht entschieden.

12. Außerdem muss die mit einem solchen Antrag befasste Justizbehörde gemäß Art. 529 desselben Gesetzes eine Entscheidung darüber treffen, ob es tunlich erscheint, die Vollstreckung der gegen den Antragsteller ausgesprochenen Strafe auszusetzen. Am 13. September 2006 lehnte es die beratende Kammer des Kassationshofs jedoch ab, die Vollstreckung der gegen den Beschwerdeführer verhängten Strafe auszusetzen, da sein Rechtsmittel haltlos sei und die aufgeführten Tatsachen keine Umstände darstellten, die geeignet seien, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu rechtfertigen (Entscheidung 1684/06)."

[...]

Rechtliche Würdigung

I. Zur geltend gemachten Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK

"13. Der Beschwerdeführer macht geltend, dass sein Strafprozess nicht fair gewesen sei, insbesondere im Hinblick darauf, dass seine Verurteilung ihren einzigen Grund in dem Verhalten eines Polizeibeamten in dem Verfahren finde, der als "agent provocateur" gehandelt habe. Er beruft sich insoweit auf Art. 6 Abs. 1 der Konvention, der wie folgt lautet:

Jede Person hat ein Recht darauf, dass über [...] eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem [...] Gericht in einem fairen Verfahren [...] verhandelt wird.

A Zur Zulässigkeit

14. Der Gerichtshof stellt fest, dass dieser Klagegrund nicht im Sinne des Art. 35 Abs. 1 der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Der Gerichtshof erkennt im Übrigen keinen anderen Unzulässigkeitsgrund. Es ist daher angemessen, ihn für zulässig zu erklären.

B Zur Begründetheit

15. Die Regierung erinnert daran, dass die Erhebung der Beweise in erster Linie eine Frage des innerstaatlichen Rechts ist und dass grundsätzlich den nationalen Gerichten die Aufgabe zukommt, diejenigen Beweise zu würdigen, die sie erhoben haben, und die Bedeutung derjeni-

gen Beweise einzuschätzen, deren Erhebung der Beschuldigte verlangt. Im vorliegenden Fall sind alle Beweismittel in einer öffentlichen Hauptverhandlung vor dem Beschwerdeführer erhoben und einer Diskussion unterzogen worden, und der Beschwerdeführer hat angemessene und genügende Gelegenheit erhalten, sie in Zweifel zu ziehen.

16. Weiter ist die Regierung der Auffassung, dass die in die Ermittlungen eingebundenen Polizeibeamten nicht als "provocateurs" qualifiziert werden können. Unter Berufung auf verschiedene Aktenbestandteile vertritt sie die Auffassung, dass der Beschwerdeführer nicht gewusst habe, dass er es mit Polizeibeamten zu tun hatte und dass er vor dem Tag, an dem die Straftat begangen wurde, keinen Kontakt mit ihnen aufgenommen hatte; daher sei es nicht möglich, dass das Verhalten der Beamten die kriminelle Aktivität des Beschwerdeführers verursacht habe. Aus einer Gesamtbetrachtung des Verfahrens schließt die Regierung, dass dem Beschwerdeführer ein fairer Prozess gemacht worden sei.

17. Der Beschwerdeführer stützt sich auf andere Aktenbestandteile, um deutlich zu machen, dass er von Anfang an keinen Zweifel gehabt habe, dass er es mit Polizeibeamten zu tun hatte, und dass er akzeptiert habe, ihnen zu helfen, ohne weitere Informationen zu verlangen. Er unterstreicht, dass seine einzige Verwicklung in die Angelegenheit darin bestehe, die Polizei zu P. zu führen, und empört sich darüber, dass er sich gegenwärtig aus diesem Grunde in Haft befindet.

18. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er gemäß Art. 19 der Konvention die Aufgabe hat, die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, die sich aus der Konvention für die Vertragsstaaten ergeben. Ihm kommt insbesondere nicht die Aufgabe zu, über tatsächliche oder rechtliche Fehler zu entscheiden, die der Justiz eines Mitgliedstaates angeblich unterlaufen sind, es sei denn, dass und soweit diese Fehler Verletzungen der Rechte und Freiheiten darstellen könnten, welche durch die Konvention geschützt werden. Wenn Art. 6 auch ein faires Verfahren garantiert, so regelt er gleichwohl nicht die Zulässigkeit bestimmter Beweismittel als solche, eine Frage, die sich infolgedessen in erster Linie nach innerstaatlichem Recht richtet. Es ist grundsätzlich nicht Sache des Gerichtshofs über die Zulässigkeit bestimmter Arten von Beweismitteln zu urteilen, etwa illegal erlangte Beweise, oder auch über die Schuld des Beschwerdeführers. Stattdessen findet eine Prüfung daraufhin statt, ob das Verfahren einschließlich der Art und Weise, auf welche die Beweismittel erlangt wurden, in seiner Gesamtheit fair war, was die Untersuchung der betreffenden "Illegalität" beinhaltet, sowie, falls die Verletzung eines anderen von der Konvention geschützten Rechts in Rede steht, der Art dieser Verletzung (Khan ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 35394/97, § 34, ECHR 2000-V).

19. Außerdem hatte der Gerichtshof bereits mehrfach über die Mitwirkung von V-Leuten und "agents provocateurs" im Strafverfahren zu entscheiden. Die folgenden Grundsätze ergeben sich aus seiner Rechtsprechung zu dieser Frage.

20. Die Konvention verbietet es - im Stadium des Ermittlungsverfahrens und wenn die Art der Straftat dies rechtfertigen kann - nicht, sich auf Quellen wie verdeckte Hinweisgeber zu stützen, aber ihre spätere Verwendung durch den Tatrichter, um eine Verurteilung zu stützen, wirft ein anderes Problem auf. Die Mitwirkung von V-Leuten muss geregelt und von Garantien begrenzt sein, auch wenn es um die Verfolgung des Drogenhandels geht. Selbst wenn die Ausweitung der organisierten Kriminalität nach angemessenen Maßnahmen verlangt, darf das Recht auf eine rechtsstaatliche Justiz dennoch nicht der Zweckdienlichkeit geopfert werden. Die allgemeinen Anforderungen an die Fairness des Verfahrens, wie sie in Art. 6 verankert sind, gelten für Strafverfahren wegen aller Arten von Straftaten, von der einfachsten bis zur kompliziertesten. Das Interesse der Allgemeinheit kann es nicht rechtfertigen, Beweismittel zu verwenden, die infolge einer polizeilichen Tatprovokation erlangt wurden.

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass dann, wenn das Einschreiten der betreffenden Beamten als derjenige Faktor gelten kann, der die Straftat provoziert hat, und nichts dafür spricht, dass sie ohne deren Einschreiten begangen worden wäre, das fragliche Handeln dasjenige eines V-Manns überschreitet und als Tatprovokation qualifiziert werden kann. Eine solche Einwirkung und ihre Verwendung im Strafprozess können in nicht wiedergutzumachender Weise den fairen Charakter des Verfahrens in Frage stellen (vgl. insbesondere Teixeira de Castro / Portugal, Urteil vom 9. Juni 1998, Slg. 1998-IV, S. 1462-1464, §§ 35-36 und 38-39).

21. Im vorliegenden Fall begann die Polizei einen Einsatz, um den kriminellen Handlungen des P. ein Ende zu bereiten, indem sie einen fiktiven Drogenschmuggel inszenierte. Der Beschwerdeführer sah sich in der Folge mit dem Vorwurf konfrontiert, die Rolle eines Mittelsmanns übernommen zu haben, weil er die Polizei auf Verlangen einer Bekannten zu P. geführt hatte. Es ist daher angemessen zu ermitteln, ob ersterer die ihm vorgeworfene Straftat auch ohne die Einwirkung der Polizei begangen hätte. Unabhängig von der Frage, ob der Beschwerdeführer die Identität des Polizeibeamten kannte, der sich als Käufer vorgestellt hatte - was zwischen den Parteien streitig ist -, ergibt sich eindeutig aus den Akten, dass der Beschwerdeführer in der Angelegenheit allein an dem schicksalhaften Tag auftaucht und dass seine Rolle sich darauf beschränkt, die Polizei zu dem Ort zu führen, an dem sich der P. aufhielt. Es ist nicht ermittelt worden, dass der Beschwerdeführer Vorstrafen gehabt hätte oder dass die Behörden hinreichenden Grund zu der Annahme gehabt hätten, dass er ebenfalls in den Drogenschmuggel verwickelt sei. Die Entscheidungen der nationalen Gerichte stellen ebenfalls kein Verhalten des Beschwerdeführers vor seiner Verhaftung fest, das zu dem Schluss führen könnte, dass er auch ohne Einwirkung von Polizeibeamten bereit war, die fragliche Straftat zu begehen. Demzufolge ließe sich auch nicht vertreten, die Beamten hätten sich darauf beschränkt, einen bereits feststehenden - wenn auch noch latenten - kriminellen Entschluss ans Licht zu bringen, indem sie dem Beschwerdeführer Gelegenheit gaben, diesen ins Werk zu setzen (ebenda).

22. Diese Umstände genügen dem Gerichtshof für den Schluss, dass die Handlungen der in die Sache verwickelten Polizeibeamten die zentrale, wenn nicht ausschließliche Ursache der vorgeworfenen Straftat und der Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer schweren Strafe waren. Damit haben sie eine Straftat provoziert, die sonst nicht begangen worden wäre. Nach Ansicht des Gerichtshofs hat dies in nicht wiedergutzumachender Weise den fairen Charakter des Verfahrens beeinträchtigt.

Daher liegt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 der Konvention vor."

[...]

"Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:

1. Die Beschwerde wird hinsichtlich des einen Beschwerdegrunds des fairen Verfahrens für zulässig und im Übrigen für unzulässig erklärt.

2. Es wird festgestellt, dass eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 der Konvention vorliegt.

3. Es wird festgestellt, dass die Feststellung einer Verletzung als solche zum Ausgleich des immateriellen Schadens genügt.

4. Der weitergehende Antrag auf Entschädigung wird zurückgewiesen."

Redaktioneller Hinweis: Die Entscheidung wurde übersetzt von Ulf Buermeyer, im Übrigen bearbeitet von Dr. Karsten Gaede. Vgl. zu dieser Entscheidung und zum Urteil der Großen Kammer in der Sache Ramanauskas v. Litauen den Beitrag von Gaede/Buermeyer HRRS 2008, 279 ff.