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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1249

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 152/23, Urteil v. 20.09.2023, HRRS 2023 Nr. 1249


BGH 1 StR 152/23 - Urteil vom 20. September 2023 (LG Augsburg)

Tatrichterliche Beweiswürdigung (erforderliche Überzeugungsbildung bei in Serie begangenen sexuellen Missbrauchstaten zulasten von Kindern und Jugendlichen; Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen bei lügendem Belastungszeugen); Begriff der prozessualen Tat (Bestimmung der Grenzen der angeklagten Tat bei gleichförmigen Serientaten).

§ 261 StPO; § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 264 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Aburteilung in Serie begangener sexueller Missbrauchstaten dürfen zur Vermeidung unvertretbarer Strafbarkeitslücken und angesichts der besonderen Beweisschwierigkeiten - regelmäßig steht als Beweismittel nur ein Kind oder eine Jugendliche zur Verfügung - keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden; denn eine Konkretisierung der jeweiligen Straftaten nach genauer Tatzeit und exaktem Geschehensablauf ist oft nicht möglich. Das Tatgericht muss sich aber in objektiv nachvollziehbarer Weise zumindest die Überzeugung verschaffen, dass der Angeklagte in einem gewissen Zeitraum eine bestimmte Mindestzahl von Missbrauchstaten begangen hat. Entscheidend ist dabei nicht, dass eine - möglicherweise auf nicht völlig sicherer Grundlage hochgerechnete - Gesamtzahl festgestellt wird, sondern dass das Gericht von jeder einzelnen individuellen Straftat, die es aburteilt, überzeugt ist. Ist eine Individualisierung einzelner Taten mangels Besonderheiten im Tatbild oder der Tatumstände nicht möglich, sind zumindest die Anknüpfungspunkte zu bezeichnen, anhand derer das Tatgericht den Tatzeitraum eingrenzt und auf die sich seine Überzeugung von der Mindestzahl und der Begehungsweise der Missbrauchstaten des Angeklagten in diesem Zeitraum gründet.

2. Dabei sind grundsätzlich bei Verurteilungen, die den sexuellen Missbrauch von Geschädigten über 14 Jahren betreffen, an die Konkretisierung einzelner Handlungsabläufe größere Anforderungen zu stellen als bei Tatserien zu Lasten von Kindern (st. Rspr.).

3. Die in einer „Aussage gegen Aussage“ oder „Schweigen gegen Aussage“-Konstellation ohnehin erhöhten Anforderungen an die Beweiswürdigung und deren Darstellung im Urteil sind u.a. zusätzlich dann gesteigert, wenn nach Auffassung des Tatgerichts der einzige Belastungszeuge gelogen hat. Dann muss es - jedenfalls regelmäßig - gewichtige Gründe außerhalb der Zeugenaussage nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben (st. Rspr.). Derartige „Außenkriterien“ sind für eine tragfähige Beweiswürdigung erforderlich, weil die Glaubhaftigkeit der Angaben des Zeugen in einem solchen Fall insgesamt erschüttert ist.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 19. Dezember 2022 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist, auf die Revision der Staatsanwaltschaft zudem, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 127 Fällen, davon in 74 Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern und in zwei Fällen mit sexuellem Missbrauch von Kindern, unter Einbeziehung der für eine Vergewaltigung derselben Geschädigten verhängten Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts A. vom 30. August 2018 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt; im Übrigen hatte es ihn - als (vermeintlich notwendige) Folge einer irrtümlich sich auf einen kürzeren Tatzeitraum beziehenden Verfahrensteileinstellung - freigesprochen. Diese Verurteilung hatte der Senat auf die Revision des Angeklagten mit den Feststellungen aufgehoben und an das Landgericht zurückverwiesen, weil dieses einen gravierenden Widerspruch in den Angaben der Nebenklägerin zum Zeitpunkt des ersten Beischlafs (im Ermittlungsverfahren, das der rechtskräftigen Strafe aus dem Urteil vom 30. August 2018 zugrunde liegt: mit 14/15 Jahren; erste Hauptverhandlung: mit zwölf Jahren) nicht aufgelöst bzw. sich mit der insoweit fehlenden Aussagekonstanz nicht auseinandergesetzt hatte (Beschluss vom 8. März 2022 - 1 StR 454/21).

Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten im zweiten Rechtsgang wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 16 Fällen, davon in acht Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern und in zwei weiteren Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt; von den weiteren vormals ausgeurteilten Tatvorwürfen hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat aufgrund zweier nicht ausschließbarer Verfahrenshindernisse sowie mit der Sachrüge Erfolg. Die Revision der Staatsanwaltschaft führt ebenfalls mit der Sachrüge zur Aufhebung des Urteils.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts missbrauchte der - zu den Tatvorwürfen schweigende - Angeklagte die am 1. August 2001 geborene Nebenklägerin, die er zusammen mit deren Mutter, seiner Ehefrau, im gemeinsamen Haushalt erzog, in folgenden Fällen:

a) Kurze Zeit nach dem Einzug der Nebenklägerin in die Mietwohnung in A. führte der Angeklagte zwischen dem 2. August 2013 und Ende Oktober 2013 seine Hand unter den Slip der neben ihm liegenden Stieftochter, obwohl seine Ehefrau und deren weitere Tochter ebenfalls dort schliefen. Der Angeklagte streichelte die Scheide der Nebenklägerin, die weitere Übergriffe unterband, indem sie sich neben die Mutter legte (C. I. der Urteilsgründe).

b) In demselben Zeitraum betrat der Angeklagte die Küche, ließ das Badehandtuch fallen, zeigte der Nebenklägerin seine Genitalien, forderte sie auf hinzusehen und fragte sie: „Gefällt dir, was du siehst?", um sich sexuell zu erregen (C. II. der Urteilsgründe).

c) Nach diesen beiden Taten ertappte der Angeklagte die Nebenklägerin im Schlafzimmer der Eheleute dabei, wie sie trotz Verbots auf einem Tablet im Internet „surfte“. Der Angeklagte drohte der Nebenklägerin, er werde dies der Mutter erzählen, wenn sie nicht tue, was er wolle. Derart eingeschüchtert legte sich die Nebenklägerin rücklings auf das Bett; erstmals drang der Angeklagte mit seinem erigierten Penis vaginal in sie ein und übte für ca. fünf bis zehn Minuten den ungeschützten Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss aus (C. III. der Urteilsgründe).

d) In ähnlicher Weise vollzog der Angeklagte mindestens viermal im Zeitraum zwischen dem 1. März 2014 und dem 30. April 2014 den ungeschützten vaginalen Geschlechtsverkehr mit der Nebenklägerin. Hierzu wartete er, bis die Mutter und die Schwester der Nebenklägerin die Wohnung zum Einkaufen verließen. So lockte er die Nebenklägerin einmal unter dem Vorwand, ihr etwas auf dem Mobiltelefon zu zeigen, in das elterliche Schlafzimmer. Ein anderes Mal forderte der Angeklagte die Nebenklägerin auf, sich zu ihm in das Bett zu legen. Ein drittes Mal schickte der Angeklagte die Nebenklägerin mit der Anweisung vor, wenn er komme, solle sie ihre Hose bereits ausgezogen haben. Beim vierten Fall drang der Angeklagte auf dem Sofa im Wohnzimmer vaginal in die Nebenklägerin ein (Fälle unter C. IV. der Urteilsgründe).

e) Die Tatserie setzte der Angeklagte zwischen dem 1. Mai 2014 und dem 31. Juli 2015 nach dem gemeinsamen Umzug in ein Reihenhaus in mindestens drei Fällen fort, und zwar zweimal im Eheschlafzimmer sowie einmal im Kinderzimmer (Fälle unter C. V. 1. der Urteilsgründe).

f) Auch die sechs weiteren Fälle des ungeschützten Vaginalverkehrs unter C. V. 2. a) bis e) der Urteilsgründe, dreimal gekennzeichnet durch das Kinderzimmer als Tatort, davon einmal zusätzlich durch ein erst kurz zuvor beendetes Telefonat mit der Mutter, ein anderes Mal durch die zunächst abgeschlossene Kinderzimmertür, zweimal durch das Elternschlafzimmer und einmal durch das Sofa nach dem Spielen auf einer Playstation, konnte das Landgericht nicht auf einen bestimmten Tag datieren; es legte den Tatzeitraum insoweit auf den 1. August 2015 bis zum 31. Juli 2017 fest.

2. Die letzte Tat, rechtskräftig geahndet durch die frühere Verurteilung vom 30. August 2018, beging der - insoweit geständige - Angeklagte in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 2017, indem er die Tür zum Badezimmer, in welches die Nebenklägerin geflüchtet war, mit einem Küchenmesser aufsperrte und gegen ihren Willen von hinten im Stehen den vaginalen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss vollzog; dabei hielt er ihr kräftig den Mund zu, um sie am Schreien zu hindern.

3. Nach der irrtümlich gefassten Verfahrensteileinstellung (§ 154 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 1 StPO) am 18. Juni 2021 in der ersten Hauptverhandlung, wonach dem Wortlaut des Einstellungsbeschlusses zufolge 60 Fälle im Zeitraum vom 1. August 2015 bis zum 31. Juli 2016 anhängig geblieben waren, sind die Missbrauchstaten aus dem August und September 2016 nicht mehr verfahrensgegenständlich. Soweit das Landgericht den Angeklagten vom Vorwurf von neun weiteren Missbrauchsfällen aus dem Zeitraum vom 1. August 2015 bis zum 31. Juli 2016 als Folge der missglückten Fassung seines Einstellungsbeschlusses freisprechen zu müssen gemeint hatte, um zu 51 Verurteilungsfällen bei einer Frequenz von einem Beischlaf pro Woche zu gelangen, ist dies tatsächlich entweder gegenstandslos oder eine Teileinstellung nach § 206a Abs. 1 StPO. Denn für den Zeitraum vom 1. August 2015 bis 31. Juli 2016 sind von vornherein nur 51 Fälle angeklagt.

4. In den weiteren vorgeworfenen und im ersten Rechtsgang ausgeurteilten 66 Fällen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen bzw. in den weiteren 45 Fällen des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen hat das Landgericht die Taten anders als in den Verurteilungsfällen nicht durch Besonderheiten zu individualisieren vermocht. Insoweit hat es den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, obwohl es sich - u.a. mithilfe eines Sachverständigengutachtens einer Fachärztin für Kinderund Jugendpsychiatrie zur Aussagetüchtigkeit - von der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin sowie von einer Frequenz von mindestens einem Geschlechtsverkehr pro Woche überzeugt hatte. Nach Auffassung des Landgerichts standen indes der Annahme einer höheren Anzahl von Missbrauchstaten Urlaube, Aufenthalte des Angeklagten in Rumänien, Übernachtungsbesuche Dritter, Monatsblutungen der Nebenklägerin und eine mehrwöchige Unterbrechung der Tatserie nach dem Umzug entgegen.

II.

1. Das Urteil birgt Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten.

a) Der Senat kann auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen nicht beurteilen, ob einer Verurteilung wegen der im letzten Tatzeitraum ab 1. August 2015 nach Vollendung des 14. Lebensjahres der Nebenklägerin begangenen Missbrauchstaten das Verfahrenshindernis einer Teileinstellung (§ 154 StPO) oder einer fehlenden Anklage entgegensteht (§ 206a Abs. 1 StPO).

aa) Die Missbrauchstaten aus August und September 2016 sind im ersten Rechtsgang von der Strafverfolgung ausgenommen worden; das Landgericht hat das Verfahren insoweit nicht nach § 154 Abs. 5 StPO wiederaufgenommen. Der Zeitraum ab 1. Oktober 2016 ist nicht angeklagt. Der Generalbundesanwalt hat zur fehlenden Anklage und zur rechtsfehlerhaften Erweiterung des Tatzeitraums im zweiten Urteil überzeugend ausgeführt:

„Nach den getroffenen Feststellungen besteht die Möglichkeit, dass die notwendige Identität zwischen dem von der Anklageschrift umfassten Sachverhalt und den ausgeurteilten Taten nicht gewahrt ist.

Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (st. Rspr.; vgl. etwa Beschluss vom 9. November 2022 - 2 StR 368/21 -, Rn. 9). Sind Gegenstand der zugelassenen Anklage eine Vielzahl überwiegend gleichförmig verlaufender sexueller Übergriffe gegenüber Kindern, deren Tatzeit häufig nicht exakt bestimmt werden kann, erlangt neben dem Tatort und der ungefähren Tatzeit insbesondere die Art und Weise der Tatbestandsverwirklichung maßgebliche Bedeutung für die Individualisierung der zum Gegenstand der Anklage und später des Eröffnungsbeschlusses gewordenen Taten (BGH, Beschluss vom 14. Januar 2021 - 4 StR 418/20 -, Rn. 12 m. w. N.). […] Bei den insgesamt sechs Fällen unter C V 2 a bis e, zu denen es an im Einzelnen nicht bekannten Zeitpunkten im Zeitraum vom 1. August 2015 bis zum 31. Juli 2017 gekommen sein soll, ist […] fast die Hälfte des Zeitraums, nämlich ab dem 1. Oktober 2016, nicht von der Anklage umfasst. Bei gleichartigen, nicht durch individuelle Tatmerkmale unterscheidbaren Serientaten heben Veränderungen und Erweiterungen des Tatzeitraums die Identität zwischen angeklagten und abgeurteilten Taten auf (vgl. BGH, Urteil vom 20. November 2014 - 4 StR 153/14 -, Rn. 5 [zuletzt BGH, Beschluss vom 4. März 2021 - 2 StR 423/20 Rn. 5, 7]).“

bb) Die Angabe „31.07.2017“ (UA S. 13) kann nicht als offensichtliches Schreibversehen gewertet werden. Weder in den Feststellungen noch im Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe wird der Tatzeitraum für die Vielzahl der Fälle weiter eingegrenzt.

cc) Die sogenannten doppelrelevanten Tatsachen, die sowohl über den Schuldspruch als auch die beiden Verfahrenshindernisse entscheiden, kann der Senat nicht im Freibeweisverfahren aufklären; es bedarf hierzu eines erneuten tatgerichtlichen Strengbeweisverfahrens (zum Strafklageverbrauch vgl. BGH, Urteile vom 26. August 2020 - 6 StR 115/20 Rn. 8; vom 23. Mai 2019 - 4 StR 601/18 Rn. 9 und vom 1. August 2018 - 3 StR 651/17 Rn. 16 f.; je mwN). Da das Landgericht die Verurteilung auf individualisierte Fälle beschränkt und diese daher gerade nicht zeitlich genauer eingeordnet hat, ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte alle sechs Taten nach dem 31. Juli 2016 beging.

b) Zudem hält die den 16 Verurteilungsfällen zugrunde liegende Beweiswürdigung sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

aa) Die in einer „Aussage gegen Aussage“- oder wie hier „Schweigen gegen Aussage“-Konstellation ohnehin erhöhten Anforderungen an die Beweiswürdigung und deren Darstellung im Urteil (zuletzt BGH, Beschlüsse vom 25. April 2023 - 4 StR 400/22 Rn. 7 und 4 StR 462/22 Rn. 8; Urteil vom 20. Juli 2023 - 4 StR 32/23 Rn. 27; je mwN) sind u.a. zusätzlich dann gesteigert, wenn nach Auffassung des Tatgerichts der einzige Belastungszeuge gelogen hat. Dann muss es - jedenfalls regelmäßig - gewichtige Gründe außerhalb der Zeugenaussage nennen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 12. Oktober 2022 - 4 StR 169/22 Rn. 6; vom 25. Juli 2019 - 1 StR 270/19 Rn. 8; vom 8. März 2016 - 3 StR 18/16 Rn. 4 und vom 19. November 2014 - 4 StR 427/14 Rn. 7; Urteile vom 19. April 2007 - 4 StR 23/07 Rn. 11 und vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 159). Derartige „Außenkriterien“ sind für eine tragfähige Beweiswürdigung erforderlich, weil die Glaubhaftigkeit der Angaben des Zeugen in einem solchen Fall insgesamt erschüttert ist (BGH, Beschluss vom 12. August 2021 - 1 StR 162/21 Rn. 7).

bb) Das Landgericht hat diesen Beweiswürdigungsgrundsatz nicht erkennbar bedacht.

(a) Die Nebenklägerin hatte im vorangegangenen, zur Verurteilung am 30. August 2018 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und mit Körperverletzung führenden Strafverfahren sowohl in der polizeilichen als auch in der ermittlungsrichterlichen Vernehmung in einem zentralen Punkt gelogen: Tatsächlich hatte sie, nachdem sie ihren Alkoholrausch ausgeschlafen hatte und wieder bei Bewusstsein war, weder an der Bettdecke noch auf der Matratze oder an sich Blutflecken gesehen; sie hatte sich dieses Detail ausgedacht, um ihre „Entjungferung“ durch den Angeklagten plausibler erscheinen zu lassen. Es sollte damit feststehen, dass der Angeklagte derjenige war, der das erste Mal mit ihr den Beischlaf vollzogen hatte.

(b) Diese Lüge hat das Landgericht allein mit der Aussageentstehung und der Persönlichkeit der Nebenklägerin zu erklären versucht (UA S. 32-34). Angesichts des Gewichts der Falschaussage, die eine markante Einzelheit zum Beginn des regelmäßigen Beischlafs betrifft, hätte das Landgericht indes Umstände außerhalb der Aussage der Nebenklägerin heranziehen müssen, um dem vorgenannten Beweisgrundsatz Rechnung zu tragen. Diese Lücke ist nicht mit dem Gesamtzusammenhang, namentlich der abschließenden Gesamtwürdigung (UA S. 55 f.), zu schließen. Denn das Landgericht hätte abwägen müssen, ob etwa die vom Angeklagten - auf den Nachweis seines Spermas im Scheidenbereich der Nebenklägerin mittels einer DNA-Analyse hin - gestandene Vergewaltigung ein solcher Umstand von ausreichendem Gewicht hätte sein können. In gleicher Weise bleibt offen, ob die - eher als vage und missverständlich erscheinende - Aussage des Angeklagten gegenüber dem Kriminalbeamten K. vom 8. November 2018 (UA S. 15, 56) geeignet wäre, der Nebenklägerin trotz der Lüge glauben zu können.

2. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat ebenfalls Erfolg.

a) Eine Beschränkung auf den Teilfreispruch ist der Revisionsbegründung mit dem Generalbundesanwalt nicht mit der gebotenen Deutlichkeit zu entnehmen (vgl. BGH, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 StR 43/20 Rn. 15 mwN; Nr. 156 Abs. 2 RiStBV). Dies gilt insbesondere deswegen, weil, wie dargelegt (II. 1. b) (aa)), es hier in der besonders gelagerten Beweiskonstellation maßgeblich auf die Glaubhaftigkeit der einzigen Belastungszeugin ankommt. Zwar betrifft der Freispruch andere als die ausgeurteilten Taten (vgl. § 53 Abs. 1 StGB). Der Trennbarkeit des Freispruchs- vom Verurteilungsteil könnte aber entgegenstehen, dass die beanstandete, durch eine Gesamtschau geprägte Beweiswürdigung beiden gleichermaßen zugrunde liegen könnte (vgl. zum Teilfreispruch bei einer Serienstraftat der Umsatzsteuerverkürzung: BGH, Urteil vom 27. April 2010 - 1 StR 454/09 Rn. 13 f.). Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin kann gegebenenfalls nicht von der Frage der Anzahl der geschilderten Missbrauchstaten getrennt beurteilt werden; die Häufigkeit wird indes freilich auch maßgeblich davon bestimmt, in wie vielen Wochen der Angeklagte und die Nebenklägerin tatsächlich zusammen in der Wohnung bzw. im Reihenhaus waren.

b) Die dermaßen umfassende Revision hat Erfolg. Das Landgericht hat seiner Beweiswürdigung einen rechtsfehlerhaften Maßstab zugrunde gelegt.

aa) Bei der Aburteilung in Serie begangener sexueller Missbrauchstaten dürfen zur Vermeidung unvertretbarer Strafbarkeitslücken und angesichts der besonderen Beweisschwierigkeiten - regelmäßig steht als Beweismittel nur ein Kind oder eine Jugendliche zur Verfügung - keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden; denn eine Konkretisierung der jeweiligen Straftaten nach genauer Tatzeit und exaktem Geschehensablauf ist oft nicht möglich. Das Tatgericht muss sich aber in objektiv nachvollziehbarer Weise zumindest die Überzeugung verschaffen, dass der Angeklagte in einem gewissen Zeitraum eine bestimmte Mindestzahl von Missbrauchstaten begangen hat. Entscheidend ist dabei nicht, dass eine - möglicherweise auf nicht völlig sicherer Grundlage hochgerechnete - Gesamtzahl festgestellt wird, sondern dass das Gericht von jeder einzelnen individuellen Straftat, die es aburteilt, überzeugt ist. Ist eine Individualisierung einzelner Taten mangels Besonderheiten im Tatbild oder der Tatumstände nicht möglich, sind zumindest die Anknüpfungspunkte zu bezeichnen, anhand derer das Tatgericht den Tatzeitraum eingrenzt und auf die sich seine Überzeugung von der Mindestzahl und der Begehungsweise der Missbrauchstaten des Angeklagten in diesem Zeitraum gründet. Dabei sind grundsätzlich bei Verurteilungen, die den sexuellen Missbrauch von Geschädigten über 14 Jahren betreffen, an die Konkretisierung einzelner Handlungsabläufe größere Anforderungen zu stellen als bei Tatserien zu Lasten von Kindern (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 27. März 1996 - 3 StR 518/95, BGHSt 42, 107, 109 f.; Urteile vom 27. Januar 2022 - 3 StR 74/21 Rn. 13 und vom 21. Februar 2018 - 2 StR 431/17 Rn. 34; je mwN).

bb) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Eine weitergehende Individualisierung war nicht zwingend für eine nachvollziehbare Überzeugungsbildung erforderlich; dies gilt insbesondere für den Freispruch in den Fällen aus dem Zeitraum vom 2. August 2013 bis zum 1. August 2015, als die Nebenklägerin noch ein Kind war. Die vom Landgericht genannten Gründe, die einen Missbrauch in der von der Nebenklägerin geschilderten Art und Weise im häuslichen Bereich entgegenstehen, lassen sich bei der gebotenen umfassenden Aufklärung (§ 244 Abs. 2 StPO) weiter eingrenzen. Dies gilt auch für die weiteren Tatvorwürfe aus dem Zeitraum vom 2. August 2015 bis 31. Juli 2016.

cc) Im Übrigen leidet die Verurteilung unter den bei der Revision des Angeklagten aufgezeigten Mängeln (§ 301 StPO).

III.

Für den dritten Rechtsgang weist der Senat vorsorglich daraufhin, dass es für die Einbeziehung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts vom 30. August 2018 entscheidend ist, dass dieses zum Zeitpunkt des ersten Urteils am 22. Juni 2021 nicht erledigt war.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1249

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede