HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 807
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 400/22, Beschluss v. 25.04.2023, HRRS 2023 Nr. 807
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Detmold vom 2. Juni 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch Widerstandsunfähiger in drei Fällen sowie wegen schweren sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger in drei Fällen und wegen Vergewaltigung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO), so dass es einer Erörterung der erhobenen Verfahrensbeanstandung nicht bedarf.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts sind der Angeklagte und der Nebenkläger - der 2001 als Mädchen geboren wurde, sich als Junge fühlt und nach den gegenständlichen Taten eine Geschlechtsangleichung vornehmen ließ - Halbgeschwister.
Zwischen dem 27. April 2014 und dem 8. August 2015 kam es an sechs jeweils nicht näher feststellbaren Tagen zu sexuellen Handlungen des Angeklagten zum Nachteil des Nebenklägers, nachdem dieser jeweils im Bett des Angeklagten eingeschlafen war. An zwei Tagen streichelte der Angeklagte die unbedeckte Scheide des Nebenklägers und rieb bzw. manipulierte an dessen Klitoris. In einem weiteren Fall führte er dessen Hand an seinem nackten Penis auf und ab. An einem weiteren Tag öffnete der Angeklagte den Mund des Nebenklägers, fixierte dessen Kopf und führte seinen Penis ein. Schließlich drang der Angeklagte in zwei weiteren Fällen mit dem Penis zumindest in den Scheidenvorhof des Nebenklägers ein. Zwischen dem Sommer 2017 und dem Frühjahr 2018 fasste er zudem an die nackte Scheide des schlafenden Nebenklägers, rieb die Klitoris und drang wiederum mit dem Penis jedenfalls in den Scheidenvorhof ein. In allen Fällen erwachte der Nebenkläger während der Taten, stellte sich aber aus Überforderung, Angst und Scham schlafend.
2. Der Angeklagte hat die Taten bestritten und angegeben, der Nebenkläger habe ausdrücklich gewünscht, im Bett des Angeklagten zu schlafen. Zu sexuellen Handlungen sei es nicht gekommen. Die Anschuldigungen könne er sich nur mit Rache erklären, weil er Geldwünsche des Nebenklägers nicht erfüllt habe.
3. Soweit dem Angeklagten darüber hinaus in der Anklageschrift 29 weitere gleichartige Taten zum Nachteil des Nebenklägers in der Zeit vom 27. April 2014 bis zum Sommer 2017 vorgeworfen wurden, hat das Landgericht das Verfahren nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.
Die den Feststellungen zugrundeliegende Beweiswürdigung der Strafkammer hält auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 - 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20 f.; Beschluss vom 18. März 2021 - 4 StR 480/20 Rn. 2 f. mwN) der Nachprüfung nicht stand.
1. In Fällen, in denen - wie hier - „Aussage gegen Aussage“ steht, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, in seine Überlegungen einbezogen hat. Um dem Revisionsgericht die sachlich-rechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung zu ermöglichen, sind daher regelmäßig auch die entscheidenden Angaben des einzigen Belastungszeugen in Form einer geschlossenen Darstellung in den Urteilsgründen wiederzugeben. Dabei sind auch vorangegangene Aussagen des Zeugen wieder zu geben, denn anderenfalls kann das Revisionsgericht nicht überprüfen, ob das Tatgericht eine fachgerechte Konstanzanalyse vorgenommen und Abweichungen zutreffend gewichtet hat (vgl. BGH, Beschluss vom 28. April 2022 - 4 StR 299/21 Rn. 8; Beschluss vom 16. März 2022 - 4 StR 30/22 Rn. 6; Beschluss vom 20. Dezember 2017 - 1 StR 408/17 Rn. 11; Urteil vom 22. Oktober 2014 - 2 StR 92/14 Rn. 10).
2. Danach ist die Beweiswürdigung des Landgerichts rechtsfehlerhaft. Dem Urteil ist eine in sich geschlossene Darstellung der Aussage des Zeugen in der Hauptverhandlung nicht zu entnehmen. Die Wiedergabe von einzelnen Angaben des Zeugen im Rahmen der Glaubhaftigkeitsprüfung vermag dieses Defizit nicht auszugleichen. Denn diese ist bereits mit wertenden Elementen verknüpft, so dass es dem Revisionsgericht nicht möglich ist, die von der Strafkammer vorgenommenen Bewertungen anhand des Inhalts der Aussage zu überprüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 16. März 2022 - 4 StR 30/22 Rn. 7). Zudem fehlt es an der Mitteilung, welche Angaben der Nebenkläger zuvor bei der Polizei im Ermittlungsverfahren und gegenüber der Sachverständigen getätigt hat. Soweit die Strafkammer hierzu lediglich mitteilt, der Nebenkläger habe bei der polizeilichen Vernehmung erstmals einen weiteren Übergriff - nämlich den Manualverkehr - offenbaren und sich bei der Sachverständigen weiter öffnen und den Oralverkehr angeben können, fehlt es mangels Darstellung der zuvor gemachten Angaben des Nebenklägers gegenüber seiner Mutter an einem Bezug.
Aufgrund dessen ist dem Senat auch die Überprüfung der Folgerung des Landgerichts verwehrt, der Nebenkläger habe „seine bisherigen Angaben auch vor Gericht konstant zu wiederholen und auf Nachfrage auch zum Teil zu konkretisieren“ vermocht (vgl. BGH, Beschluss vom 28. April 2022 - 4 StR 299/21).
3. Das Urteil beruht auf dem aufgezeigten Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
1. Es ist rechtlich bedenklich, die Angaben des Nebenklägers zu wahrgenommenen taktilen Unterschieden zwischen dem Eindringen des Angeklagten mit dem Penis einerseits und mit dessen Fingern andererseits als gewichtigen Glaubhaftigkeitsgesichtspunkt zu bewerten. Denn es wurden keine Feststellungen zu einem Eindringen mit Fingern getroffen. Gleiches gilt für die Erwägung, wonach der Glaubhaftigkeit nicht entgegenstehe, dass der Nebenkläger wegen seiner geschlechtlichen Identität nicht beschreiben könne, mit wie vielen Fingern und wie tief der Angeklagte damit in seine Vagina eingedrungen sei.
2. Die Subsumtion zu Fall 4 der Urteilsgründe („Einführen von Fingern in die Scheide“) und zu Fall 5 der Urteilsgründe („vollzogener Oralverkehr“) korrespondiert nicht mit den Feststellungen zu diesen Fällen, wenngleich die rechtliche Würdigung aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts im Ergebnis von den Feststellungen getragen wird.
3. Die bisherigen Feststellungen zu sechs Taten innerhalb eines Zeitraums von etwas mehr als 15 Monaten in den Jahren 2014 und 2015 und einer weiteren Tat zwischen Sommer 2017 und Frühjahr 2018 belegen die strafschärfende Erwägung einer „dichten Tatfolge“ nicht ohne Weiteres (vgl. BGH, Beschluss vom 20. August 2014 - 3 StR 315/14 Rn. 2).
4. Stellt das Tatgericht das Verfahren wegen eines Teils der anklagegegenständlichen Vorwürfe nach § 154 Abs. 2 StPO ein, kann den Gründen für die Teileinstellung Bedeutung für die Beweiswürdigung zu den verbleibenden Vorwürfen insbesondere mit Blick auf die Frage der Glaubhaftigkeit der Bekundungen des Belastungszeugen zukommen. Ist dies nach der konkret gegebenen Beweissituation der Fall, ist der Tatrichter aus Gründen sachlichen Rechts gehalten, die Gründe für die Teileinstellung im Urteil mitzuteilen (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Februar 2018 - 4 StR 346/17 mwN; Beschluss vom 24. Januar 2018 - 5 StR 457/17 Rn. 4; Beschluss vom 21. Oktober 1997 - 1 StR 538/97 Rn. 11).
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 807
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede