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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 146

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 169/22, Beschluss v. 12.10.2022, HRRS 2023 Nr. 146


BGH 4 StR 169/22 - Beschluss vom 12. Oktober 2022 (LG Frankenthal)

Beweiswürdigung (Aussage gegen Aussage: Urteilsgründe, Einbeziehung aller Umstände, weitere Darlegungsanforderungen bei nur teilweiser Überzeugung, außerhalb der Aussage liegende gewichtige Gründe, körpernahes Geschehen, konstante Schilderung, objektive Spurenlage; schwerer sexueller Missbrauch eines Kindes).

§ 261 StPO; § 176c StGB

Leitsatz des Bearbeiters

In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, muss aus den Urteilsgründen hervorgehen, dass das Tatgericht alle Umstände erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat, die die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten beeinflussen können. Vermag sich der Tatrichter von der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Zeugen nur teilweise zu überzeugen, können sich daraus weitere Darlegungsanforderungen ergeben. Zwar existiert kein Rechts- oder Erfahrungssatz des Inhalts, dass einem Zeugen nur entweder insgesamt geglaubt oder insgesamt nicht geglaubt werden darf. In einem solchen Fall ist es aber regelmäßig erforderlich, dass auch außerhalb der Aussage liegende gewichtige Gründe benannt werden können, die es dem Tatrichter ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankenthal vom 25. Januar 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete und mit der Sachrüge geführte Revision des Angeklagten hat Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen vollzog der Angeklagte in der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember 2020 an dem damals zehnjährigen Nebenkläger den Analverkehr. Infolge der Penetration verspürte der Nebenkläger heftige Schmerzen, schrie laut auf und lief zur Toilette. Auf dem Weg dorthin erklärte der Nebenkläger seiner Mutter, die den Schrei ihres Sohnes gehört hatte, dass der Angeklagte mit seinem Fuß gegen seinen Anus gestoßen sei.

II.

Die Verurteilung des Angeklagten hat keinen Bestand, weil die Feststellungen auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. Juni 1979 - 4 StR 441/78, BGHSt 29, 18, 20 f. mwN; Franke in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 337 Rn. 117 ff. mwN) nicht auf einer tragfähigen Beweiswürdigung beruhen.

1. Das Landgericht hat den nunmehr elf Jahre alten Nebenkläger in der Hauptverhandlung nicht vernommen. Die Verurteilung des die Tat bestreitenden Angeklagten hat es allein auf die Angaben des Nebenklägers gegenüber einem Polizeibeamten und einem untersuchenden Arzt in der Kinderklinik am 16. Dezember 2020 gestützt, die es als erlebnisbasiert angesehen hat. Audiovisuell aufgezeichneten und in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen Angaben des Nebenklägers bei einer polizeilichen Vernehmung am 17. Dezember 2020 sowie einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung am 12. März 2021 ist die Strafkammer überwiegend nicht gefolgt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die Schilderungen des Nebenklägers zu den vom Angeklagten begangenen sexuellen Übergriffen sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht deutliche Unterschiede aufwiesen. Auch habe der Nebenkläger seine den Angeklagten belastenden Angaben nach seiner ersten polizeilichen Vernehmung am 16. Dezember 2020 massiv ausgeweitet. Vor dem Hintergrund dieser Auffälligkeiten in der Aussageentwicklung und unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Persönlichkeit des Nebenklägers, der sexualisierte Verhaltensweisen und „allgemeine Verhaltensauffälligkeiten“ zeige, könne in Übereinstimmung mit der aussagepsychologischen Sachverständigen eine „Überformung der Erinnerung des Geschädigten“ durch Einwirkung Dritter nach dem 16. Dezember 2020 nicht mehr sicher ausgeschlossen werden.

2. Die Begründung, mit der die Strafkammer die polizeiliche Erstaussage des Nebenklägers und seine Angaben gegenüber einem Arzt für glaubhaft erachtet hat, halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

a) In einem Fall, in dem - wie hier - Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, muss aus den Urteilsgründen hervorgehen, dass das Tatgericht alle Umstände erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat, die die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten beeinflussen können (BGH, Beschluss vom 23. August 2012 - 4 StR 305/12, NStZ-RR 2012, 383, 384). Vermag sich der Tatrichter von der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Zeugen nur teilweise zu überzeugen, können sich daraus weitere Darlegungsanforderungen ergeben. Zwar existiert kein Rechts- oder Erfahrungssatz des Inhalts, dass einem Zeugen nur entweder insgesamt geglaubt oder insgesamt nicht geglaubt werden darf (vgl. BGH, Urteil vom 25. August 2022 ? 3 StR 359/21, juris Rn. 27; Beschluss vom 27. November 2017 - 5 StR 520/17, juris Rn. 6; Urteil vom 5. November 2015 ? 4 StR 183/15, NStZ-RR 2016, 54, 55; MüKo-StPO/Miebach, 1. Aufl., § 261 Rn. 225 mwN). In einem solchen Fall ist es aber regelmäßig erforderlich, dass auch außerhalb der Aussage liegende gewichtige Gründe benannt werden können, die es dem Tatrichter ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben (BGH, Beschluss vom 25. Juli 2019 - 1 StR 270/19, juris Rn. 8; Beschluss vom 24. Februar 2021 - 1 StR 489/20, juris Rn. 13).

b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht.

aa) Es fehlt bereits an einer unter den hier gegebenen Umständen unerlässlichen Analyse des Inhalts der als maßgeblich erachteten Erstangaben des Nebenklägers. Der in den Urteilsgründen enthaltene Hinweis, dass das zur Verfügung stehende Aussagematerial „quantitativ recht gering“ sei, macht eine solche Inhaltsanalyse nicht entbehrlich. Darüber hinaus hätte sich das Tatgericht zu einer besonders sorgfältigen Prüfung dieser Einlassung veranlasst sehen müssen, weil es sich insoweit einen Eindruck allein durch die Angaben des Vernehmungsbeamten als einem Zeugen vom Hörensagen bilden konnte.

bb) Auch legt die Strafkammer nicht rechtsfehlerfrei dar, warum sie davon ausgeht, dass die für maßgeblich erachtete Erstaussage des Nebenklägers gegenüber einem Polizeibeamten und seine Angaben gegenüber einem Arzt - anders als seine Einlassung bei den Folgevernehmungen - nicht durch suggestive Einflüsse Dritter „überformt“ worden sind.

Zwar hat sich das Landgericht mit der Entstehungsgeschichte dieser Erstangaben des Nebenklägers auseinandergesetzt. Die Erwägungen, mit denen es „eine entsprechende suggestive Beeinflussung und Überformung“ ausgeschlossen hat, sind aber schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil die Ausführungen der Sachverständigen, denen das Landgericht insoweit ersichtlich gefolgt ist, nicht wiedergegeben werden. Der Hinweis auf die zur Verfügung stehende knappe „Zeitspanne“ sowie der Umstand, dass es sich bei dem Tatgeschehen um einen im sozialen Milieu des Nebenklägers erheblich schambehafteten Vorgang handelt, reichen dafür als Begründung nicht aus. Denn der Nebenkläger hat bereits am Folgetag seine den Angeklagten belastenden Angaben erheblich ausgeweitet und weitere sexuelle Übergriffe geschildert.

Auch werden naheliegende andere Deutungsmöglichkeiten für die gravierenden Abweichungen in den zeitlich nachfolgenden Angaben des Geschädigten, die in seiner auffälligen, möglicherweise zum Fabulieren neigenden Persönlichkeit wurzeln könnten, nicht in den Blick genommen. Zu einer sorgfältigen Prüfung hätte insbesondere deshalb Anlass bestanden, weil die in den Urteilsgründen mitgeteilten Angaben des Nebenklägers, der zeitweise auch sexuelle Übergriffe auf seine Brüder behauptete, nahezu beliebig wirken und durch die Hypothese einer Überformung der Erinnerung infolge suggestiver Einflüsse Dritter ohne nähere Erläuterung nicht ohne Weiteres plausibel zu erklären sind.

Auch hat das Landgericht nicht in den Blick genommen, dass der Nebenkläger in seiner Erstaussage erklärt hat, er „wisse, dass J. gestern etwas Schlimmes mit ihm gemacht habe; seine Mutter habe das nicht gut gefunden und wolle, dass er darüber mit der Polizei spreche“. Diese Äußerungen des Kindes hätten in diesem Zusammenhang ausdrücklich erörtert werden müssen. Darüber hinaus lassen sich die Erwägungen, mit denen die Strafkammer eine Beeinflussung des Kindes durch seine Mutter für ausgeschlossen erachtete, weil sie als Empfängerin der Erstaussage „ohne Vorverdacht“ gewesen sei, nicht ohne Weiteres mit der an anderer Stelle erfolgten Feststellung vereinbaren, die Zeugin M. habe den Angeklagten und ihren Sohn in einer „überaus verdächtig anmutenden Situation betroffen“, „ausreichend Gelegenheit besessen […], Verdacht zu schöpfen“, und ihren Sohn deshalb befragt.

cc) Soweit die Strafkammer darauf abgehoben hat, dass der Nebenkläger jedenfalls das festgestellte Tatgeschehen im Rahmen der verschiedenen Vernehmungen konstant geschildert habe, ist auch dies nicht nachvollziehbar begründet.

(1) So weisen die Schilderungen des Nebenklägers zu dem verfahrensgegenständlichen Analverkehr, der als körpernahes Geschehen wenig vergessensanfällig ist (vgl. BGH, Beschluss vom 23. August 2012 - 4 StR 305/12, NStZ-RR 2012, 383, 384), in den unterschiedlichen Vernehmungen erhebliche Abweichungen auf. Bei der ersten Befragung durch die Polizei am 16. Dezember 2020 schilderte der Nebenkläger ein unvermitteltes, einmaliges Eindringen, ein Festhalten „vorne“, aber keine weitere Gewaltanwendung. Bei der polizeilichen Vernehmung am 17. Dezember 2020 erklärte der Nebenkläger hingegen, nach Herunterziehen der Hose habe ihm der Angeklagte zunächst „irgendwas“ in seinen Po „reingetan“ und danach seinen Penis. Er habe ihm schon früher einmal gesagt, dass er das nicht wolle, aber der Angeklagte habe ihm „immer gedroht“. Im Rahmen der Vernehmung durch den Ermittlungsrichter am 12. März 2021 hat der Nebenkläger den Analverkehr dahingehend beschrieben, dass der Angeklagte ihm nach Herunterziehen der Hose den Penis „in die Beine gesteckt“ und „so hin und vor hin und vor“ gemacht habe. Der Nebenkläger habe ihm gesagt, dass er dies tun dürfe, aber „oben nicht“. Der Angeklagte habe es jedoch „trotzdem oben“ gemacht, er habe irgendwann Spucke aus seinem Mund genommen und sie an seinen Po gemacht. Dann sei der Angeklagte mit ganz schnellen Bewegungen in seinen Po „reingegangen“, habe ihn festgehalten mit den Füßen („so eingeklemmt“) und „oben“ festgehalten und ganz schnelle Bewegungen hin und her gemacht, was sehr wehgetan habe. Bei der Exploration durch die Sachverständige am 16. April 2021 schilderte der Nebenkläger, der Angeklagte habe ihm langsam die Hose heruntergezogen und Spucke zwischen die Beine gemacht, woraufhin er ihm gesagt habe, „nicht jetzt, ich schlafe, hör auf damit“. Nachdem ihm der Angeklagte wieder einmal mit dem Messer gedroht habe, habe er zugestimmt, „aber nur zwischen die Beine“, weil das nicht weh tue. Der Angeklagte habe es erst so gemacht, sei dann aber ganz schnell nach oben gekommen und habe „es“ gemacht. Vor dem Hintergrund dieser Angaben erschließt sich nicht, wie das Landgericht zur Annahme einer zumindest partiellen Aussagekonstanz gelangt ist.

(2) Gleiches gilt für die Angaben des Nebenklägers in Bezug auf das unmittelbare Nachtatgeschehen. Bei der ersten Befragung durch die Polizei am 16. Dezember 2020 hat er angegeben, nachdem der Angeklagte ihn losgelassen habe, sei er zur Toilette gelaufen und habe erheblichen Stuhlgang gehabt und geblutet. Er habe sein Gesäß abgewischt und das Papier in einen Mülleimer geworfen. Gegenüber dem ihn noch am selben Tag untersuchenden Arzt hat der Nebenkläger erklärt, er sei zu seiner Mutter gelaufen. Bei der polizeilichen Vernehmung am 17. Dezember 2020 fand ein Stuhlgang keine Erwähnung, vielmehr sprach der Nebenkläger von „ganz viel“ Blut, das er von seinem Po abgewischt habe, wobei er das Papier anschließend weggeworfen habe. Vor dem Ermittlungsrichter hat der Nebenkläger bekundet, auf der Toilette habe er „kacken“ müssen, aber nicht gekonnt, als er seinen Po abgewischt habe, sei „Blut dran“ gewesen, das er „in der Toilette gespült“ habe. Bei der Exploration am 16. April 2021 hat der Nebenkläger erklärt, auf dem Klo habe er nicht gemusst, aber es habe einen „Strahl von Blut“ gegeben.

dd) Soweit das Landgericht schließlich angenommen hat, dass die Angaben des Nebenklägers durch die objektive Spurenlage bestätigt werden, sind die dem zugrunde liegenden Erwägungen lückenhaft und deshalb nicht tragfähig.

(1) Das Landgericht hat insoweit auf die Spurenlage an einem Stück Toilettenpapier abgestellt, an dem in einer rötlichbräunlichen Anhaftung eine ausgewogene Mischspur festgestellt werden konnte, die sowohl auf den Angeklagten, als auch auf den Nebenkläger als Spurenleger hindeutet. Dieses Spurenbild sei allein durch die Schilderung des Tatgeschehens seitens des Nebenklägers erklärlich. Hinweise darauf, dass der Nebenkläger im Tatzeitraum ein Stück Toilettenpapier nach Verwendung durch den Angeklagten erneut benutzt habe oder umgekehrt, hätten sich nicht ergeben. Angesichts des von der Mutter des Nebenklägers gewonnenen Eindrucks sei auch nicht zu erkennen, dass diese die dargestellte Kontamination mit der DNA beider Personen selbst herbeigeführt oder jedenfalls zur Kenntnis genommen und in diesem Wissen das Stück Toilettenpapier der Polizei (als vermeintliches Beweismittel) übergeben habe.

(2) Diese Beweiserwägungen sind lückenhaft. Zwar teilen die Urteilsgründe weiter mit, dass das gesicherte Stück Toilettenpapier von der Zeugin M. „nach entsprechender Befragung ihres Sohnes dahingehend, dass dies das von ihm in der Tatnacht benutzte Stück Toilettenpapier sei“, ausgesondert und auf einem Regal im Wohnzimmer für die Polizei beiseitegelegt“ worden ist. Sie ergeben aber auch, dass sich das Stück Toilettenpapier zuvor in einem Mülleimer befand, in dem die zum Haushalt der Familie gehörenden Personen, zu denen neben dem Nebenkläger auch der Angeklagte zählte, benutztes Toilettenpapier zu entsorgen pflegten. Bei dieser Sachlage hätte sich das Tatgericht umfassend mit den Möglichkeiten einer Sekundärantragung der DNA des Angeklagten an dem Spurenträger auseinander setzen und dies in den Urteilsgründen in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise darlegen müssen. Dabei hätte auch Anlass zur näheren Erörterung der Frage bestanden, wann der Nebenkläger gemeinsam mit seiner Mutter den zu einem unbekannten Zeitpunkt von der Polizei asservierten Spurenträger aus dem Mülleimer entnommen hat.

3. Der Senat vermag ein Beruhen des Urteils auf diesen Darlegungs- und Erörterungsmängeln nicht auszuschließen. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird sich eingehender als bisher geschehen mit der Entstehungsgeschichte der Erstangaben des Kindes auseinander zu setzen haben. Dabei wird auch genauer als bisher geschehen in den Blick zu nehmen sein, ob auch die Erstangaben des Kindes auf eine ? bewusste oder unbewusste ? suggestive Beeinflussung des Kindes durch die Mutter oder eine sonstige nahe Bezugsperson zurückzuführen sein könnten.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 146

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede