HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 480
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 454/21, Beschluss v. 08.03.2022, HRRS 2022 Nr. 480
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 22. Juni 2021, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist, mit den Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 127 Fällen, davon in 74 Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern und in zwei Fällen mit sexuellem Missbrauch von Kindern, unter Einbeziehung der für eine Vergewaltigung derselben Geschädigten verhängten Strafe aus einer anderweitigen Entscheidung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt; von weiteren Tatvorwürfen hat es den Angeklagten freigesprochen. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung materiellen und formellen Rechts beanstandet, hat mit der Sachrüge Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts führte der - zu den Tatvorwürfen schweigende - Angeklagte, der zudem zwei (nicht qualifizierte) Missbrauchstaten zu Lasten der Nebenklägerin, seiner Stieftochter, beging, mit ihr in neun Fällen in der Familienwohnung den ungeschützten Vaginalverkehr bis zum Samenerguss aus, als diese zwölf Jahre alt war (Fälle unter B) 3. und 4. der Urteilsgründe; Zeitraum zwischen dem 1. August 2013 bis zum 30. April 2014). Nach Umzug in ein Reihenhaus setzte der Angeklagte diese Tatserie in 65 Fällen zu Lasten der Nebenklägerin auch dann fort, als diese 13 Jahre alt geworden war, und in 51 Fällen nach Vollendung des 14. Lebensjahres (Fälle unter B) 5. der Urteilsgründe; Zeitraum zwischen dem 1. Mai 2014 bis 31. Juli 2016).
2. Das Urteil mitsamt den Feststellungen hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Die Beweiswürdigung erweist sich wegen mangelnder Erläuterung fehlender Aussagekonstanz bezüglich einer zwar nicht angeklagten, gleichwohl markanten Missbrauchstat bzw. eines unaufgeklärt gebliebenen Widerspruchs als durchgreifend rechtsfehlerhaft (zum Prüfungsmaßstab zuletzt BGH, Urteil vom 14. Dezember 2021 - 1 StR 234/21 Rn. 8 mwN). In der hier gegebenen Fallkonstellation, in der das Tatgericht seine Feststellungen zum Tatgeschehen nahezu allein auf die Angaben der Geschädigten gestützt hat, wiegen diese Mängel besonders schwer:
aa) Die Nebenklägerin hatte in dem vorangegangenen Strafverfahren, das zu der im verfahrensgegenständlichen Urteil einbezogenen Freiheitsstrafe wegen der vom Angeklagten in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 2017 begangenen Vergewaltigung geführt hatte, in der damaligen ermittlungsrichterlichen Vernehmung ausgesagt, der Angeklagte habe sie zu einem anderen Zeitpunkt von einer Feier abgeholt und danach „entjungfert“; dazu hatte sie mehrere Einzelheiten beschrieben (insbesondere: eigener volltrunkener Zustand nach der Party, nackt aufgewacht, Blut an der Bettwäsche, Spott des Angeklagten, er habe alles mit ihr machen können, anschließendes Streitgespräch mit der Mutter und dem Angeklagten; UA S. 20, 35). Einen solchen „Filmriss“ infolge erheblichen Alkoholkonsums hat die Nebenklägerin auch im hiesigen Verfahren gegenüber der Sachverständigen geschildert und ihr Alter dabei mit 14 oder 15 Jahren angegeben (UA S. 30).
bb) Das Landgericht hat sowohl erkannt, dass die Nebenklägerin einen derartigen schweren Missbrauch unter solchen die Tat prägenden Umständen nach der ersten ermittlungsrichterlichen Vernehmung nicht mehr geschildert hat, als auch, dass sich eine solche „Entjungferung“ im Alter von 14 oder 15 Jahren nicht mit dem - festgestellten - erstmaligen Vaginalverkehr im Alter von zwölf Jahren vereinbaren lässt (UA S. 35); gleichwohl hat sich die Kammer weder mit der insoweit fehlenden Aussagekonstanz auseinandergesetzt noch den Widerspruch aufgeklärt (UA S. 35 f.). Es bleibt bereits offen, ob das Landgericht davon ausgegangen ist, die Nebenklägerin habe insoweit bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung im früheren Verfahren gelogen, um ihre Belastung zur sicheren Bestrafung des Angeklagten als detailreicher, authentischer und damit glaubhafter erscheinen zu lassen. Auch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe, insbesondere der abschließenden Bewertung der Aussage der Nebenklägerin (UA S. 42 f.) und der Gesamtwürdigung (UA S. 43 f.) ist keine Erklärung zu entnehmen, warum sich die Kammer trotz der insoweit fehlenden Aussagekonstanz bzw. des Widerspruchs von der Glaubhaftigkeit der Aussage und der Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin überzeugt hat (§ 261 StPO). Das Landgericht erläutert nur - für sich genommen rechtsfehlerfrei, warum die Nebenklägerin nicht bereits im ersten Strafverfahren alle Missbrauchstaten offenbart hatte (insbesondere: Scham, Unverständnis der Mutter und der Schwester, die ihr während des früheren Ermittlungsverfahrens erst nach einer DANN-Analyse geglaubt hatten, mit welcher die DNA des Angeklagten u.a. im Genitalbereich der Nebenklägerin nachgewiesen worden war; UA S. 21 f.; 35 f.).
b) Der aufgezeigte Beweiswürdigungsfehler erfasst sämtliche Fälle. Der Angeklagte hatte zwar gegenüber dem ihn vernehmenden Kriminalbeamten im ersten Ermittlungsverfahren weitere schwere Missbrauchstaten dem Grunde nach eingeräumt (UA S. 27, 43); dies war indes so rudimentär, dass die verfahrensgegenständlichen 125 Taten mit Vaginalverkehr nicht vom Geständnis gedeckt sind. Insgesamt bedarf die Sache mit Blick auf die Anzahl der schweren sexuellen Missbrauchstaten durch Ausübung des Geschlechtsverkehrs der neuen Verhandlung, auch einschließlich der beiden Missbrauchstaten ohne Eindringen in den Körper der Nebenklägerin. Denn dem nunmehr zur Entscheidung berufenen Tatgericht ist eine insgesamt neue, in sich stimmige Beweiswürdigung zu ermöglichen. Raum
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 480
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede