HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 378
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 74/21, Urteil v. 27.01.2022, HRRS 2022 Nr. 378
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 1. September 2020 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen (sexuellen) Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 145 Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Vergewaltigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Hiergegen wendet er sich mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Sein Rechtsmittel erweist sich als unbegründet.
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte wollte die am 2. Dezember 1999 in Bosnien geborene Nebenklägerin, eine Nichte seiner damaligen Ehefrau, im Alter von fünf Jahren als eigenes Kind annehmen und zusammen mit seiner Gattin in Deutschland großziehen. Zu diesem Zweck erklärten er und die leibliche Mutter der Nebenklägerin gegenüber den bosnischen und deutschen Behörden, insbesondere der deutschen Botschaft, wahrheitswidrig, der Angeklagte sei der leibliche Vater der Geschädigten. Der Angeklagte wurde daraufhin im Jahr 2006 als solcher eingetragen und nahm die Nebenklägerin mit nach Deutschland, wo sie im Folgenden bei ihm und ihrer Tante lebte. Nach der Trennung der Eheleute am 1. Dezember 2013 blieb die Geschädigte beim Angeklagten, der wegen seiner Vaterschaftsanerkennung als sorgeberechtigt galt und fortan allein für ihre Erziehung und Aufsicht verantwortlich war.
Als die Nebenklägerin 13 Jahre alt war, begann sich der Angeklagte in sexueller Weise an ihr zu interessieren. Nach anfänglichen vereinzelten intimen Berührungen kam es ab Dezember 2013 zu folgenden Vorfällen:
Am 9. oder 10. Dezember 2013 zog der unbekleidet auf seinem Bett liegende Angeklagte die Geschädigte entgegen deren Willen ins Bett, entkleidete sie - mit Ausnahme der Socken - vollständig, legte sich auf das auf dem Rücken liegende Mädchen und drang mit seinem Penis in die Vagina ein. Die Nebenklägerin sagte dem Angeklagten von Anbeginn mehrmals, er solle aufhören, und setzte sich gegen seine - für sie sehr schmerzhaften - Handlungen auch körperlich zur Wehr, indem sie versuchte sich wegzudrehen und, nachdem der Angeklagte begonnen hatte, den Geschlechtsverkehr zu vollziehen, ihre Oberschenkel zusammendrückte. Hiervon unbeeindruckt spreizte der Angeklagte zur Überwindung des Widerstands der Geschädigten mit seinem Körpergewicht deren Beine weiter auf und führte den Vaginalverkehr bis zum Samenerguss durch.
Bis zum Auszug der Nebenklägerin aus der Wohnung des Angeklagten am 9. Dezember 2016 „kam“ es nachfolgend, mit Ausnahme eines Zeitraums von drei Monaten im Sommer 2014, „immer wieder mindestens einmal pro Woche“ zum vaginalen Geschlechtsverkehr, den der Angeklagte jeweils bis zum Samenerguss vollzog. Während die Geschädigte bei zwei der Vorfälle noch vergeblich versuchte, sich gegen den ihr körperlich überlegenen Angeklagten zur Wehr zu setzen, ließ sie in der Zeit vom 29. Dezember 2013 bis zum 9. Dezember 2016 (142 Fälle) dessen sexuelle Handlungen widerstandslos zu.
In einem weiteren - zeitlich nicht näher eingrenzbaren - Fall im vorgenannten Tatzeitraum zog der Angeklagte im Wohnzimmer seiner Wohnung der Geschädigten zunächst ihre Hose herunter, spreizte ihre Beine, leckte vor ihr kniend mit seiner Zunge an ihrer Vagina und drang sodann mit zwei Fingern in dieselbe ein.
2. Die Strafkammer hat den Sachverhalt rechtlich als Missbrauch von Schutzbefohlenen in 145 Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Vergewaltigung (§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Fassung vom 27. Dezember 2003, § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB in der Fassung vom 21. Januar 2015, § 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1, Abs. 6 Nr. 1, §§ 52, 53 StGB), gewürdigt. Hinsichtlich weiterer 144 angeklagter Fälle des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen und des Geschehens im Wohnzimmer hat das Landgericht das Verfahren mit Beschluss vom 1. September 2020 gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.
Die Revision des Angeklagten ist unbegründet.
Die Verfahrensrügen dringen aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen nicht durch.
Die auf die Sachrüge gebotene umfassende materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt, insbesondere tragen - entgegen der Ansicht des Revisionsführers und des Generalbundesanwalts - die Feststellungen auch den Schuldspruch über 142 Fälle des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in der Zeit vom 29. Dezember 2013 bis zum 9. Dezember 2016 (§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Fassung vom 27. Dezember 2003, § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB in der Fassung vom 21. Januar 2015, § 53 StGB). Revisionsrechtlich relevante Fehler in der Beweiswürdigung liegen insoweit wie auch im Übrigen nicht vor. Im Einzelnen:
1. Die Taten sind hinreichend individualisiert und durch eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung unterlegt.
a) Bei der Aburteilung in Serie begangener sexueller Missbrauchshandlungen dürfen zur Vermeidung unvertretbarer Strafbarkeitslücken an die Individualisierung der einzelnen Taten im Urteil keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden, da eine Konkretisierung der jeweiligen Straftaten nach genauer Tatzeit und exaktem Geschehensablauf oft nicht möglich ist. Das Tatgericht muss sich aber in objektiv nachvollziehbarer Weise zumindest die Überzeugung verschaffen, dass es in einem gewissen Zeitraum zu einer bestimmten Mindestzahl von Straftaten gekommen ist. Entscheidend dabei ist nicht, dass eine - möglicherweise auf nicht völlig sicherer Grundlage hochgerechnete - Gesamtzahl festgestellt wird, sondern dass das Gericht von jeder einzelnen individuellen Straftat, die es aburteilt, überzeugt ist (BGH, Beschluss vom 27. März 1996 - 3 StR 518/95, BGHSt 42, 107, 109 f.). Ist eine Individualisierung einzelner Taten mangels Besonderheiten im Tatbild oder der Tatumstände nicht möglich, sind zumindest die Anknüpfungspunkte zu bezeichnen, anhand derer das Tatgericht den Tatzeitraum eingrenzt und auf die sich seine Überzeugung von der Mindestzahl und der Begehungsweise der Missbrauchstaten des Angeklagten in diesem Zeitraum gründet (BGH, Beschluss vom 20. Juni 2001 - 3 StR 166/01, StV 2002, 523 mwN). Dabei sind grundsätzlich bei Verurteilungen, die den sexuellen Missbrauch von Geschädigten über 14 Jahren betreffen, an die Konkretisierung einzelner Handlungsabläufe größere Anforderungen zu stellen als bei Tatserien zu Lasten von Kindern (BGH, Beschluss vom 27. März 1996 - 3 StR 518/95, BGHSt 42, 107, 110).
Die entsprechende Überzeugungsbildung ist eine Frage der Beweiswürdigung. Diese obliegt dem Tatgericht. Es hat sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu bilden. Das Revisionsgericht ist demgegenüber auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatgerichts mit Rechtsfehlern behaftet ist, etwa, weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist oder mit den Denkgesetzen oder gesichertem Erfahrungswissen nicht in Einklang steht. Sind derartige Rechtsfehler nicht feststellbar, hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Überzeugungsbildung auch dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise möglich gewesen wäre (BGH, Beschluss vom 30. Oktober 2008 - 3 StR 375/08, juris Rn. 13 mwN).
b) Nach diesen Grundsätzen zeigt die Revision keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf.
aa) Aus den Urteilsgründen ergibt sich eine noch hinreichende Konkretisierung der Tatfrequenz der Missbrauchsfälle, die auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung beruht. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte nach dem ersten Übergriff auf die Nebenklägerin am 9. oder 10. Dezember 2013 mit Ausnahme von drei Monaten im Sommer 2014 mindestens einmal in der Woche sexuelle Handlungen an ihr vornahm, gegen die sie sich in den ersten zwei Fällen noch wehrte, die im Übrigen jedoch stets in gleicher Art und Weise (Vollzug des vaginalen Geschlechtsverkehrs bis zum Samenerguss) abliefen. Den jedenfalls wöchentlichen Rhythmus hat es dabei nachvollziehbar auf die Aussage der Geschädigten gestützt, der Angeklagte habe „immer, wenn er zu Hause gewesen sei, mit ihr geschlafen“. Die Feststellung des Landgerichts, der Angeklagte habe sich regelmäßig auf Montage auf unterschiedlichen Baustellen in Deutschland befunden, hat dabei insoweit Berücksichtigung gefunden, als sich das Landgericht von wöchentlichen, nicht täglichen Übergriffen überzeugt hat. Anhaltspunkte dafür, dass die Montagetätigkeit mit längeren Abwesenheitszeiten einherging, sind den Urteilsgründen nicht zu entnehmen und haben nach den Umständen keiner weiteren Darlegung bedurft. Die Strafkammer hat sich zudem mit den Gründen auseinandergesetzt, die der wöchentlichen Durchführung des Geschlechtsverkehrs hätten entgegenstehen können, und aus dem Tatgeschehen einen Zeitraum von drei Monaten im Sommer 2014 ausgenommen, in dem die Nebenklägerin bei ihrer Tante wohnte. Dass es weitere derartige Anlässe gab, geht aus den Urteilsgründen nicht hervor. Eine insoweit mangelhafte Sachaufklärung hätte der Revision nur mit der vorliegend nicht erhobenen Aufklärungsrüge zum Erfolg verhelfen können.
Auch im Übrigen sind die festgestellten Taten hinreichend individualisiert. Das Landgericht hat seine Überzeugung dabei auf die Aussage der Nebenklägerin gestützt, der Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten sei Alltag gewesen und immer gleich abgelaufen, die Übergriffe hätten immer im Schlafzimmer bei heruntergezogenen Rollläden stattgefunden. Dies entspricht nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die Geschädigte den ersten - vom Angeklagten noch erzwungenen Geschlechtsverkehr - detailliert geschildert hat, noch den Anforderungen an eine zureichende Tatkonkretisierung.
bb) Die Beweiswürdigung des Landgerichts begegnet ebenso wenig rechtlichen Bedenken. Aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen hat die Strafkammer die Angaben der Nebenklägerin rechtsfehlerfrei als glaubhaft beurteilt. Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts hat das Landgericht die Aussage der Geschädigten zu den 142 Fällen des nicht erzwungenen Geschlechtsverkehrs auch in rechtlich nicht zu beanstandender Weise dargestellt. Denn es hat die Bekundungen der Nebenklägerin so (knapp) niedergelegt, wie diese in der Lage war, die Übergriffe zu schildern. Soweit die Strafkammer im Rahmen der Glaubhaftigkeitsanalyse ausgeführt hat, die Nebenklägerin habe einzelne Abläufe näher konkretisieren können, ist damit ersichtlich der erste erzwungene Geschlechtsverkehr und das Geschehen im Wohnzimmer gemeint, nicht jedoch der sich regelmäßig wiederholende, gleichförmige vaginale Geschlechtsverkehr.
2. Die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Fassung vom 27. Dezember 2003 und vom 21. Januar 2015 beziehungsweise des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB in der Fassung vom 21. Januar 2015 sind hinreichend festgestellt. Hinsichtlich der Taten vor dem 16. Geburtstag der Nebenklägerin (2. Dezember 2015) unterfallen die an ihr vorgenommenen sexuellen Handlungen des Angeklagten § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB in der Fassung vom 27. Dezember 2003 und vom 21. Januar 2015. Die in der Zeit vom 2. Dezember 2015 bis zum 9. Dezember 2016 begangenen Taten (53 Fälle) erfüllen den Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB in der Fassung vom 21. Januar 2015. Der Erörterung bedarf lediglich Folgendes:
19 a) Nach § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB in der insoweit unverändert gebliebenen Fassung vom 21. Januar 2015 (BGBl. I S. 10) wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer Person unter 18 Jahren vornimmt oder an sich von einer solchen vornehmen lässt, wenn sie sein leiblicher oder rechtlicher Abkömmling oder der seines Ehegatten, seines Lebenspartners oder einer Person ist, mit der er in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftlicher Gemeinschaft lebt.
Rechtliche Abkömmlinge eines Mannes sind adoptierte Kinder, die nach § 1754 BGB die rechtliche Stellung eines Kindes des Annehmenden erlangen, oder Kinder, die nach § 1592 Nr. 1 bis 3 BGB rechtlich einem Mann zugeordnet werden, ohne von diesem abzustammen (BGH, Beschluss vom 22. Juni 2021 - 2 StR 131/21, NJW 2021, 3798 Rn. 9; vgl. auch BT-Drucks. 18/3202 [neu] S. 26; BeckOKStGB/Ziegler, 51. Ed., § 174 Rn. 10; MüKoStGB/Renzikowski, 4. Aufl., § 174 Rn. 37).
Hieran gemessen ist die Nebenklägerin rechtlicher Abkömmling des Angeklagten, denn er hat deren Vaterschaft anerkannt (§ 1592 Nr. 2 BGB, UA S. 4). Diese Anerkennung war auch wirksam. Insbesondere stand ihr nicht die Vaterschaft eines anderen Mannes entgegen (§ 1594 Abs. 2 BGB). Hierfür ergeben sich aus den Urteilsgründen keine Anhaltspunkte. Weder hat das Landgericht festgestellt, dass die leibliche Mutter der Nebenklägerin verheiratet war (§ 1592 Nr. 1 BGB), noch, dass ein Dritter die Vaterschaft anerkannt hätte (§ 1592 Nr. 2 BGB) oder eine solche gerichtlich festgestellt worden wäre (§ 1592 Nr. 3 BGB). Ob die Anerkennungsund Zustimmungserklärung den Formerfordernissen des § 1597 Abs. 1 BGB entsprachen, kann dahingestellt bleiben. Denn ein Formmangel wäre jedenfalls fünf Jahre nach Eintragung in ein deutsches Personenstandsregister geheilt (§ 1598 Abs. 2 BGB). Eine solche ist der Feststellung, der Angeklagte sei 2006 als leiblicher Vater der Nebenklägerin eingetragen worden, noch hinreichend zu entnehmen.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 378
Bearbeiter: Christian Becker