HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 528
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 23/07, Urteil v. 19.04.2007, HRRS 2007 Nr. 528
1. Die Revision der Nebenklägerin gegen das Urteil des Landgerichts Bochum vom 28. Juni 2006 wird verworfen.
2. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 201 Fällen und des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in einem weiteren Fall aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.
Dem Angeklagten lag zur Last, seit 1991 bis zum 26. Januar 1996 mit seiner am 27. Januar 1982 geborenen Tochter Nadine W., der Nebenklägerin, in mindestens 200 Fällen den Beischlaf vollzogen und in mindestens einem weiteren Fall seinen Finger in die Scheide des Kindes eingeführt zu haben.
Ferner habe er zu einem nicht mehr bestimmbaren Zeitpunkt im Jahre 1991 an der Scheide des Kindes geleckt.
Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe bestritten und angegeben, im Tatzeitraum keine sexuellen Handlungen an seiner Tochter vorgenommen zu haben. Er habe lediglich einmal, allerdings als die Nebenklägerin schon 17 oder 18 Jahre alt gewesen sei, in betrunkenem Zustand mit ihr den Geschlechtsverkehr durchgeführt. Das Landgericht hat diese Einlassung nicht für widerlegbar angesehen. Den Angaben der Nebenklägerin ist es nicht gefolgt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen darauf abgestellt, dass die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung in mehreren Punkten bewusst unwahre Angaben gemacht habe und ihre Aussage überdies in Teilen widersprüchlich und zu den Tatvorwürfen durchweg detailarm gewesen sei. Zudem habe sie bereits im Jahre 2000 ihren Vater des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Ein daraufhin eingeleitetes Ermittlungsverfahren sei jedoch gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden, nachdem die Nebenklägerin von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht habe und über ihre Schwester der Polizei habe mitteilen lassen, sie - die Nebenklägerin - habe gelogen und der sexuelle Missbrauch durch den Angeklagten sei von ihr erfunden gewesen.
Gegen die Freisprechung des Angeklagten wendet sich die Nebenklägerin mit ihrer auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision.
Dem Rechtsmittel bleibt der Erfolg versagt.
1. Die zulässig (vgl. BGHR StPO § 244 Abs. 3 Rügerecht 3) erhobene Verfahrensrüge, die sich gegen die Ablehnung eines Beweisantrags der Staatsanwaltschaft auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens zum Beweis der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin wendet, ist unbegründet.
Die Strafkammer hat den Beweisantrag mit der tragfähigen Begründung, selbst über die erforderliche Sachkunde zur Beurteilung der zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 23 bzw. 24 Jahre alten Zeugin zu verfügen, abgelehnt.
Die Würdigung von Zeugenaussagen und die Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit ist Aufgabe des Gerichts. Es ist regelmäßig davon auszugehen, dass Berufsrichter über diejenige Sachkunde bei der Anwendung aussagepsychologischer Glaubwürdigkeitskriterien verfügen, die für die Beurteilung von Aussagen auch bei schwieriger Beweislage erforderlich ist und dass sie diese Sachkunde den beteiligten Laienrichtern vermitteln können.
Besonderheiten, die hier ausnahmsweise die Hinzuziehung eines Sachverständigen erforderlich gemacht haben könnten (vgl. hierzu BGH NStZ-RR 2006, 241), sind nicht ersichtlich. Solche haben sich insbesondere nicht daraus ergeben, dass Gegenstand der Aussage Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind und die Nebenklägerin zur Zeit der vorgeworfenen Taten zwischen neun und 13 Jahre alt, mithin im kindlichen Alter war. Auch eine - wie hier - nicht als Jugendschutzkammer tätige allgemeine Strafkammer verfügt regelmäßig über die erforderliche Sachkunde zur Beurteilung eines im Zeitpunkt der Hauptverhandlung erwachsenen, zudem, was die Strafkammer rechtsfehlerfrei festgestellt hat, mit zumindest durchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten ausgestatteten Opfers einer Sexualstraftat. Zwar hat sich mit Blick auf die Aussageentstehung und das Aussageverhalten der Nebenklägerin die Beweiswürdigung im vorliegenden Fall als durchaus schwierig erwiesen. Indes gingen die sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Beweiswürdigung noch nicht über das Maß hinaus, das vom Tatrichter regelmäßig verlangt wird.
2. Die Freisprechung des Angeklagten hält auch der sachlich-rechtlichen Nachprüfung stand.
a) Die Aufgabe, sich auf der Grundlage der vorhandenen Beweismittel eine Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen zu verschaffen, obliegt grundsätzlich allein dem Tatrichter. Seine Beweiswürdigung hat das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen. Es ist ihm verwehrt, sie durch eine eigene zu ersetzen oder sie nur deshalb zu beanstanden, weil aus seiner Sicht eine andere Bewertung der Beweise näher gelegen hätte. Kann der Tatrichter vorhandene, wenn auch nur geringe Zweifel nicht überwinden, so kann das Revisionsgericht eine solche Entscheidung nur im Hinblick auf Rechtsfehler überprüfen (st. Rspr.; etwa BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 33).
b) Einen derartigen durchgreifenden Rechtsfehler weist das angefochtene Urteil nicht auf. Das Landgericht hat eine eingehende Prüfung der den Angeklagten belastenden und entlastenden Indizien vorgenommen und diese - entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts - auch in ihrer Gesamtheit gewürdigt (UA 13, 15, 20 und 23). Dass es sich im Ergebnis nicht von der Zuverlässigkeit der belastenden Angaben der Nebenklägerin zu überzeugen und deshalb Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten nicht zu überwinden vermocht hat, ist deshalb aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Das Landgericht hat sich bei der Würdigung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin erkennbar davon leiten lassen, dass diese im Zusammenhang mit den gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfen sowohl in zurückliegender Zeit als auch in der Hauptverhandlung bewusst unwahre Angaben gemacht hat. Sie hat nicht nur ihre Angaben, die zur Einleitung des früheren Ermittlungsverfahrens gegen den Angeklagten im Jahre 2000/2001 führten, wieder zurückgenommen und sich selbst der Lüge bezichtigt, sondern sie hat auch in der Hauptverhandlung wahrheitswidrig behauptet, sich auf Empfehlung ihrer Therapeutin nach ihrem Auszug aus der väterlichen Wohnung nochmals zum Angeklagten ins Bett gelegt zu haben, um "zu testen, ob er immer noch etwas von ihr wolle". Ferner hat sie falsche Angaben zu ihren Kontakten mit der Lebensgefährtin ihres Vaters und zu einem angeblichen sexuellen Übergriff durch einen Bekannten gemacht. Stellt sich jedoch in einem Fall, in welchem - wie hier - Aussage gegen Aussage steht, heraus, dass die Hauptbelastungszeugin bewusst unwahre Angaben gemacht hat, sind strenge Anforderungen an die Beweiswürdigung zu stellen und der Tatrichter muss außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Umstände feststellen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage dennoch zu glauben (BGHSt 44, 153, 159; 44, 256, 257).
Dass der Tatrichter hier solche Umstände nicht in ausreichendem Maße zu erkennen vermocht hat, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat vielmehr zu Recht auf die Detailarmut der Schilderungen der Nebenklägerin auch gegenüber dritten Personen, auf Widersprüche in ihren Aussagen jedenfalls zum Randgeschehen der Taten und auf ihr ambivalentes Verhalten gegenüber dem Angeklagten verwiesen. Es hat ferner hervorgehoben, dass die Nebenklägerin auf Grund der von ihr als tiefe Verletzung empfundenen Zurückweisung durch ihren Vater ein Motiv zur (erneuten) Anzeigeerstattung gehabt habe. Außerdem verfüge sie über eine ausreichende Phantasiebegabung, was sich daran zeige, dass sich die Nebenklägerin bereits im Jahre 2002 daran beteiligt habe, einen Bekannten wider besseres Wissen eines gegen sie gerichteten sexuellen Übergriffs zu bezichtigen und diesen wahrheitswidrigen Sachverhalt auch in der jetzigen Hauptverhandlung in Übereinstimmung mit ihren diesbezüglichen früheren Angaben wiederholt habe.
Diesen Umständen hat die Strafkammer Beweisanzeichen gegenübergestellt, die für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin sprechen können. Sie hat dabei auch in noch ausreichender Weise die Aussagegenese dargestellt und bedacht, dass der Angeklagte eingeräumt hat, mit der Nebenklägerin einmal den Geschlechtsverkehr vollzogen zu haben, als diese 17 bzw. 18 Jahre alt gewesen sei. Dass sich das Landgericht gleichwohl in Anbetracht des Aussageverhaltens der Nebenklägerin nicht von der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben zu überzeugen vermocht hat, ist deshalb vom Revisionsgericht hinzunehmen.
HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 528
Bearbeiter: Karsten Gaede