HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2023
24. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

1418. BGH GSSt 1/23 - Beschluss vom 23. Mai 2023 (LG Stuttgart)

BGHSt; selbständige Einziehung des durch oder für eine verjährte Straftat erlangten Ertrages oder dessen Wertes (Zulässigkeit der Anordnung im subjektiven Verfahren mit dem Urteil); Abänderung einer Vorlagefrage.

§ 76a Abs. 2 Satz 1 StGB; § 260 Abs. 3 StPO; § 264 Abs. 1 StPO, § 435 StPO; § 436 StPO

Das Gericht kann die selbständige Einziehung des durch oder für eine verjährte Straftat erlangten Ertrages oder dessen Wertes nach § 76a Abs. 2 Satz 1 StGB im subjektiven Verfahren mit dem Urteil anordnen, durch das es das Verfahren hinsichtlich dieser Tat einstellt; in einem solchen Fall bedarf es mithin nicht des Übergangs in das objektive Verfahren gemäß §§ 435 f. StPO. (BGHSt)


Entscheidung

1392. BGH 5 StR 257/23 - Urteil vom 26. Oktober 2023 (LG Berlin)

Störung der Urteilsverkündung (letztes Wort; Verhandlungsführungsbefugnis des Vorsitzenden; Behinderung; lautes Schreien; Beginn der Urteilsverkündung; Eingangsformel); schwerer Bandendiebstahl.

§ 268 StPO; § 238 Abs. 1 StPO; § 244a StGB

1. Verfahrensbeteiligte haben nur dann das Wort, wenn ihnen dies durch den Vorsitzenden erteilt wird, denn diesem obliegt die Verhandlungsführung. Die gesetzlich vorgeschriebene Verkündung des Urteils durch den Vorsitzenden nach Maßgabe von § 268 Abs. 2 StPO darf weder durch lautes Schreien gestört noch durch andere Maßnahmen Verfahrensbeteiligter behindert werden.

2. Die Urteilsverkündung beginnt entgegen der Auffassung der Revision nicht erst mit der Verlesung des Urteilstenors, sondern bereits mit den ersten Worten der Eingangsformel „Im Namen des Volkes“, mit der alle Urteile verkündet werden (vgl. § 268 Abs. 1 StPO). Die Verkündung im Sinne von § 268 Abs. 2 Satz 1 StPO bildet mit dem Eingangssatz des § 268 Abs. 1 StPO einen einheitlichen zusammenhängenden Verfahrensvorgang, in dessen Durchführung Verfahrensbeteiligte nach seinem Beginn nicht mehr einzugreifen befugt sind.

3. Rechtswidrige Störungen des Verfahrensablaufs durch Verfahrensbeteiligte begründen keine Rechtsfehler des Gerichts, sondern legen bei darauf gestützten Verfahrensbeanstandungen den Vorwurf des Rechtsmissbrauchs nahe. Einwände gegen die Verfahrensweise des Gerichts vor oder während der Urteilsverkündung müssen gegebenenfalls mit einem Rechtsmittel geltend gemacht werden, rechtfertigen aber nicht die Störung der Hauptverhandlung.


Entscheidung

1468. BGH 4 StR 239/23 - Beschluss vom 14. November 2023

Verwerfung eines unzulässige Ablehnungsantrags (enge Auslegung; tauglicher Grund zur Ablehnung); Besorgnis der Befangenheit (Standpunkt eines besonnenen Angeklagten; Vorbefassung des abgelehnten Richters: Rechtsfehler in Entscheidungen, Hinzutreten besonderer Umstände, Ablehnung eines weiteren Entscheidungsaufschubs).

§ 26a StPO; § 24 StPO

Knüpft die Richterablehnung an eine den Verfahrensgegenstand betreffende Vorbefassung des abgelehnten Richters mit der Sache an, ist dieser Umstand regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Auch Rechtsfehler in Entscheidungen bei einer Vorbefassung mit dem Sachverhalt oder im zu Grunde liegenden Verfahren können eine Ablehnung im Allgemeinen nicht begründen. Anders verhält es sich lediglich beim Hinzutreten besonderer Umstände, die über die Tatsache bloßer Vorbefassung als solcher und der damit notwendig verbundenen inhaltlichen Äußerung hinausgehen.


Entscheidung

1409. BGH 3 StR 227/23 - Beschluss vom 5. Oktober 2023 (LG Koblenz)

Elektronische Einreichung der Revisionsbegründungschrift (Eignung eines elektronischen Dokuments zur Bearbeitung); Revisionsbegründungsfrist; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Nachholung einer Verfahrensrüge); Beweiswürdigung des Tatgerichts (Darlegungsanforderungen in Urteilsgründen).

§ 32a Abs. 2 StPO; § 32d StPO; § 44 StPO; § 45 StPO; § 267 StPO; § 341 StPO; § 2 Abs. 1 ERVV

1. Das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dient nicht zur Heilung von Zulässigkeitsmängeln bei Verfahrensrügen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung einer Verfahrensrüge kommt daher nur in besonderen Prozesssituationen ausnahmsweise in Betracht, wenn dies zur Wahrung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör unerlässlich erscheint.

2. Die Beweiswürdigung in den Urteilsgründen soll keine umfassende Dokumentation der Beweisaufnahme enthalten, sondern lediglich belegen, warum bestimmte bedeutsame Umstände so festgestellt worden sind. Es ist nicht nötig, für jede einzelne Feststellung einen Beleg in den Urteilsgründen zu erbringen.


Entscheidung

1465. BGH 4 StR 148/23 - Beschluss vom 27. September 2023 (LG Bielefeld)

Beweiswürdigung (Aussage-gegen-Aussage:

Darstellung in den Urteilsgründen, Konstanzanalyse, schwerer Missbrauch von Kindern; beschränkte Revisibilität); Strafzumessung (überdurchschnittlich lange Verfahrensdauer).

§ 261 StPO; § 267 StPO; § 46 StGB

Im Rahmen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen gelten besondere Anforderungen an die Begründung und Darstellung der tatrichterlichen Überzeugungsbildung, wenn das Tatgericht seine Überzeugung allein auf die Angaben der Geschädigten stützt. Um dem Revisionsgericht in einem solchen Fall die sachlich-rechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung zu ermöglichen, ist der entscheidende Teil der Aussage der einzigen Belastungszeugin in Form einer geschlossenen Darstellung in den Urteilsgründen wiederzugeben; grundsätzlich nicht ausreichend sind einzelne, aus dem Zusammenhang der Aussage gerissene Angaben. Die Darstellung hat auch vorangegangene, frühere Aussagen der Zeugin zu umfassen, denn anderenfalls kann das Revisionsgericht nicht überprüfen, ob das Tatgericht eine fachgerechte Konstanzanalyse vorgenommen und Abweichungen zutreffend gewichtet hat.


Entscheidung

1379. BGH 1 StR 224/23 - Beschluss vom 14. November 2023 (LG Konstanz)

Anforderung an die Revisionseinlegung des Nebenklägers (hinreichende Bezeichnung, auf welche Verfahrensbeteiligten und welche Entscheidungsteile sich die Revision erstreckt).

§ 341 Abs. 1 StPO; § 400 Abs. 1 StPO

Als verfahrensgegenständliche Prozesserklärung muss die Einlegung der Revision den unbedingten Anfechtungswillen des Erklärenden erkennen lassen. Ist das Urteil gegen mehrere Angeklagte ergangen, muss sich im Interesse der Rechtsklarheit aus der Einlegungsschrift eindeutig ergeben, auf welche Verfahrensbeteiligten und welche Entscheidungsteile sich die Rechtsmittel beziehen.


Entscheidung

1389. BGH 5 StR 104/23 - Urteil vom 25. Oktober 2023 (LG Chemnitz)

Beschränkung des Rechtsmittels (innerer Zusammenhang; widerspruchsfreie Gesamtentscheidung; Schuldfähigkeit; Freispruch; Unterbringung); Auswirkungen einer festgestellten Erkrankung auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung (psychosoziale Verhaltensmuster; Ausprägungsgrad der Störung; Einfluss auf soziale Anpassungsfähigkeit).

§ 344 StPO; § 20 StGB; § 21 StGB

1. Ob die Beschränkung eines Rechtsmittels zulässig ist, hängt davon ab, ob die Beschwerdepunkte nach dem inneren Zusammenhang des Urteils losgelöst von seinem nicht angefochtenen Teil rechtlich und tatsächlich unabhängig beurteilt werden können, mithin die Gesamtentscheidung frei von inneren Widersprüchen bleibt. Eine Unterbringung nach § 63 StGB oder deren Nichtanordnung kann danach nur selbständig angefochten werden, wenn nicht zwischen dem nicht angefochtenen Teil und dem Maßregelausspruch ein untrennbarer Zusammenhang besteht, wofür stets auf den Einzelfall abzustellen ist. Ein solcher untrennbarer Zusammenhang wird freilich regelmäßig anzunehmen sein, wenn es um die Schuldfähigkeitsbeurteilung geht und insbesondere die Unterbringung nach § 63 StGB und der auf § 20 StGB gestützte Freispruch gleichermaßen von der Bewertung der Schuldfähigkeit abhängen.

2. Dem Tatgericht obliegt es, unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen festzustellen, welchen Ausprägungsgrad und insbesondere welchen Einfluss eine diagnostizierte psychische Störung auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters hat. Seine psychische Funktionsfähigkeit muss durch das psychosoziale Verhaltensmuster bei Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Um dies zu begründen, bedarf es einer konkretisierenden und widerspruchsfreien Darlegung, wie sich die festgestellte, einem Merkmal von §§ 20, 21 StGB unterfallende Erkrankung in der jeweiligen Tatsituation auf die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstat(en) auf den entsprechenden psychischen Zustand zurückzuführen sind.