HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1389
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 104/23, Urteil v. 25.10.2023, HRRS 2023 Nr. 1389
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 22. November 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Mordes wegen aufgehobener Schuldfähigkeit freigesprochen und die Anordnung seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Gegen die Nichtanordnung der Maßregel wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des Urteils insgesamt.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte litt seit Herbst 2021 an verschiedenen körperlichen Beschwerden, für die keine organischen Befunde erhoben werden konnten; diese verschlimmerten sich im Dezember 2021, nachdem ihm - wie in jedem Jahr im Winter bei Neueinstellung im Frühjahr - seine Stelle als Kraftfahrer gekündigt worden war. Er wurde antriebsloser, ängstlicher, resignierend und grüblerisch und verfiel schließlich in eine Depression. Am 12. Januar 2022 wurde er, nachdem er in suizidaler Absicht auf einer Brücke stehend von Passanten gestellt worden war, vom herbeigerufenen Rettungsdienst in eine psychiatrische Klinik gebracht, in der eine schwere depressive Episode mit anklingenden psychotischen Symptomen, der Verdacht auf eine generalisierte Angststörung und eine anankastische Persönlichkeitsakzentuierung diagnostiziert wurden. Am 11. März 2022 wurde der Angeklagte nach Einschätzung der Klinik in deutlich gebessertem Zustand entlassen, wobei er weiter antidepressiv mit Medikamenten behandelt und ihm eine ambulante psychiatrische Weiterbehandlung empfohlen wurde. Tatsächlich war bei dem Angeklagten aber keine relevante Verbesserung seines Gesundheitszustands eingetreten. Er sah sich wegen des zu beantragenden Kranken- und Arbeitslosengeldes einer Vielzahl von Problemen und einer drohenden Verarmung gegenüber. Er meinte, keine Möglichkeit der Problemlösung zu haben, außer aus dem Leben zu scheiden. Hierbei ging er davon aus, dass seine Ehefrau nicht ohne ihn würde weiterleben können und beschloss, diese mit aus dem Leben zu nehmen.
In den frühen Morgenstunden des 21. März 2022 setzte er diesen Entschluss in die Tat um, indem er seiner schlafend auf dem Rücken im Ehebett liegenden Ehefrau ein Kopfkissen fest gegen das Gesicht drückte, um ihr das Atmen unmöglich zu machen und sie so zu töten. Dabei kniete oder lehnte sich der Angeklagte auf Arme und Oberkörper seiner Ehefrau, um ihre Gegenwehr zu unterbinden. Er brach ihr so die Nasenspitze und eine Rippe. Sie versuchte vergeblich, den Angeklagten mit Händen und Armen von seinem Vorhaben abzubringen und starb innerhalb von maximal fünf Minuten durch Ersticken. Der Angeklagte war tatzeitbezogen nicht in der Lage, sein Handeln von allgemein verbindlichen Rechtsgedanken leiten zu lassen; seine Steuerungsfähigkeit war deshalb aufgehoben. Die Erkrankung erreichte jedoch nicht das Ausmaß der kognitiven Einbußen, die geeignet wären, seine Einsichtsfähigkeit aufzuheben.
Nach der Tat rief der Angeklagte zunächst den Notruf an und teilte mit, dass er seine Frau mit einem Kissen getötet habe. Alsdann rief er die gemeinsame Tochter, die Nebenklägerin, an und teilte ihr mit, er habe „die Mama erwürgt“. Die Frage nach dem Warum konnte er nicht beantworten, er könne „einfach nicht mehr“, „alles [sei] so kompliziert […] mit diesen Papieren“. Dem am Ende des Telefonats mit seiner Tochter eintreffenden Notarzt öffnete der zu diesem Zeitpunkt ruhige und unaufgeregte Angeklagte die Tür und zeigte ihm den Leichnam seiner Ehefrau.
2. Das Landgericht hat sich der psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen, die bei dem Angeklagten eine schwere depressive Episode mit psychotischer Ausweitung bei einer eher als anankastisch und gehemmt zu bezeichnenden Persönlichkeitsstruktur diagnostiziert hat. Die Sachverständige hat weiter ausgeführt, die Erkrankung unterfalle dem Eingangskriterium der krankhaften seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB und sei aufgrund „der unveränderlichen Eingebundenheit in eine fatalistische Gedankenwelt geeignet“ gewesen, die Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt aufzuheben, „auch wenn sich […] die tataktuelle Motivation für das auch vom Angeklagten selbst als vollkommen persönlichkeitsfremd erlebte Handeln nicht rekonstruieren“ lasse. Die Schwurgerichtskammer ist deshalb bei erhaltener Einsichtsfähigkeit von aufgehobener Steuerungsfähigkeit ausgegangen und hat den Angeklagten freigesprochen.
Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat das Landgericht nicht angeordnet, weil der Angeklagte trotz fortbestehender schwerer Depressionen und Suizidalität für die Allgemeinheit nicht gefährlich sei. Denn die Tathandlung habe auf der symbiotischen Beziehung zu seiner Ehefrau basiert. Da diese „verstorben und der konstellative Faktor für die Tatbegehung in Wegfall geraten“ sei, könne bei der bestehenden Depression weder für andere Familienmitglieder noch sonstige Dritte eine Fremdgefährdung angenommen werden.
Die Revision der Staatsanwaltschaft führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils insgesamt.
1. Das Rechtsmittel ist entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts nicht wirksam auf den unterlassenen Maßregelausspruch beschränkt.
Die Staatsanwaltschaft hat zwar trotz des mit der Revisionseinlegung gestellten Antrags, das Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben, in der Revisionsbegründung unter anderem ausgeführt, „nach den zutreffenden Feststellungen des Landgerichts“ habe der Angeklagte seine Ehefrau „im Zustand der Schuldunfähigkeit“ getötet und im Weiteren nur noch die Begründung der Strafkammer zur verneinten Gefährlichkeit des Angeklagten angegriffen. Mit Blick auf Nr. 156 RiStBV ist das Angriffsziel der Revision dahin auszulegen, dass auch nur in diesen Ausführungen des angefochtenen Urteils eine Rechtsverletzung erblickt wird (vgl. BGH, Urteil vom 3. August 2022 - 5 StR 203/22 Rn. 13 f.) und deshalb nur das Unterlassen der Maßregelanordnung angefochten ist.
Diese Beschränkung ist unwirksam. Ob die Beschränkung eines Rechtsmittels - hier: der Revision - zulässig ist, hängt davon ab, ob die Beschwerdepunkte nach dem inneren Zusammenhang des Urteils losgelöst von seinem nicht angefochtenen Teil rechtlich und tatsächlich unabhängig beurteilt werden können, mithin die Gesamtentscheidung frei von inneren Widersprüchen bleibt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 7. Oktober 1992 - 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362, 363; vom 13. Juli 1989 - 4 StR 297/89, BGHR StPO § 344 Abs. 1 Beschränkung 2; Beschluss vom 9. September 2015 - 4 StR 334/15, BGHR StPO § 344 Abs. 1 Beschränkung 22). Eine Unterbringung nach § 63 StGB oder deren Nichtanordnung kann danach nur selbständig angefochten werden, wenn nicht zwischen dem nicht angefochtenen Teil und dem Maßregelausspruch ein untrennbarer Zusammenhang besteht, wofür stets auf den Einzelfall abzustellen ist (MüKoStPO/Knauer/Kudlich, § 344 Rn. 47 mwN). Ein solcher untrennbarer Zusammenhang wird freilich regelmäßig anzunehmen sein, wenn es um die Schuldfähigkeitsbeurteilung geht und insbesondere die Unterbringung nach § 63 StGB und der auf § 20 StGB gestützte Freispruch gleichermaßen von der Bewertung der Schuldfähigkeit abhängen (BGH, Beschluss vom 26. September 2012 - 4 StR 348/12, NStZ 2013, 424; LK/Cirener, StGB, § 63 Rn. 211 mwN auch zum Ausnahmefall, dass bei feststehender Schuldunfähigkeit nur die Gefahrenprognose angegriffen wird).
So verhält es sich hier: Die Staatsanwaltschaft rügt unter anderem, dass sich das Landgericht Einschätzungen der psychiatrischen Sachverständigen zu eigen gemacht habe, ohne diese ausreichend zu hinterfragen. So habe es nicht dargelegt, warum der Angeklagte zwar seine Frau getötet aber keine Anstalten unternommen habe, den „offenbar vom Landgericht angenommenen Plan der Selbsttötung auch in die Tat umzusetzen.“ Damit werden aber Umstände angesprochen, die nicht allein die Gefährlichkeit des Angeklagten betreffen, sondern auch seine Schuldfähigkeit. Denn die Staatsanwaltschaft hinterfragt so letztlich auch, ob der Angeklagte im Tatzeitraum überhaupt vorhatte, sich selbst zu töten. War dies nicht der Fall, könnten sich daraus Auswirkungen auf das Vorliegen seiner nach den Ausführungen der Sachverständigen durch Depressionen hervorgerufenen Suizidalität ergeben, aus der die Strafkammer - der Sachverständigen folgend - im Ergebnis auch die aufgehobene Steuerungsfähigkeit abgeleitet hat. Die von der Staatsanwaltschaft gerügte zu unkritische Übernahme von Einschätzungen der Sachverständigen kann damit nicht unabhängig von der Frage der Schuldfähigkeit und damit nicht unabhängig vom Schuldspruch beurteilt werden.
2. Die danach unbeschränkte Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet, denn die Ausführungen des Landgerichts zur aufgehobenen Steuerungsfähigkeit des Angeklagten erweisen sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft, was sowohl dem Freispruch als auch der Maßregelentscheidung die Grundlage entzieht.
a) Es fehlt schon an einer nachvollziehbaren Darstellung der angenommenen krankhaften seelischen Störung des Angeklagten bei Begehung der Anlasstat. Die Sachverständige hat ausgeführt, aufgrund der Vorbefunde und ihrer Untersuchung sei bei dem Angeklagten „die diagnostische Zuordnung einer schweren depressiven Episode mit psychotischer Ausweitung (ICD-10: F32.3) bei einer eher als anankastisch und gehemmt zu bezeichnenden Persönlichkeitsstruktur“ zu treffen. Aufgrund welcher Anknüpfungstatsachen allerdings eine „psychotische Ausweitung“ anzunehmen sein sollte, wird nicht näher erläutert. Weiter heißt es allgemein, „im Rahmen einer schweren Depression werde die Auslöschung der eigenen Person gemeinsam mit dem nahen Familienangehörigen, im hiesigen Falle der Ehefrau, für unausweichlich gehalten.“ Ob dies aber auch bei dem Angeklagten in der Tatsituation so war, wird nicht belegt. Die weiteren Ausführungen der Sachverständigen, in den Schilderungen des Angeklagten „klinge an, dass sich das Ehepaar, insbesondere die Ehefrau, nicht vorstellen konnte, ohne den jeweils anderen weiterleben bzw. existieren zu können“, bleiben vage. Insbesondere erschließt sich nicht, in welchen Äußerungen eine solche „symbiotische Beziehung“ der Eheleute „angeklungen“ sein soll, die „die naheliegende Tatmotivation des erweiterten Suizides“ begründet haben könnte, in der „ein wahnhafter Altruismus das Motiv [geschaffen habe], der andere solle nicht zurückgelassen werden.“
b) Insbesondere fehlt es an der notwendigen Erörterung des Ausprägungsgrades der festgestellten Störung und deren Auswirkungen bei der Tatbegehung.
aa) Dem Tatgericht obliegt es, unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen festzustellen, welchen Ausprägungsgrad und insbesondere welchen Einfluss die diagnostizierte Störung auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters hat. Seine psychische Funktionsfähigkeit muss durch das psychosoziale Verhaltensmuster bei Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Um dies zu begründen, bedarf es einer konkretisierenden und widerspruchsfreien Darlegung, wie sich die festgestellte, einem Merkmal von §§ 20, 21 StGB unterfallende Erkrankung in der jeweiligen Tatsituation auf die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstat(en) auf den entsprechenden psychischen Zustand zurückzuführen sind (BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 2023 - 5 StR 532/22, NStZ-RR 2023, 136, 137 mwN; vom 26. Mai 2020 - 2 StR 114/20; vom 28. Januar 2016 - 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135).
bb) Diesen Anforderungen genügen die Ausführungen des Landgerichts nicht; eine konkrete auf die diagnostizierte Erkrankung zurückzuführende Beeinträchtigung des Angeklagten zum Tatzeitpunkt wird nicht dargelegt. Vielmehr heißt es in der eigenen Würdigung der Strafkammer lediglich pauschal, die diagnostizierte Erkrankung, eine „schwere depressive Episode mit psychotischer Ausweitung bei einer eher als anankastisch und gehemmt zu bezeichnenden Persönlichkeitsstruktur“, sei „zweifellos“ dem Eingangsmerkmal der „krankhaften seelischen Störung“ des § 20 StGB zuzuordnen und habe beim Angeklagten „durch ihre symptomatische Ausgestaltung, der unveränderlichen Eingebundenheit in eine fatalistische Gedankenwelt“ dazu geführt, seine Steuerungsfähigkeit aufzuheben. Nähere Ausführungen dazu, wie sich diese „symptomatische Ausgestaltung“ in der konkreten Tatsituation gezeigt und ausgewirkt haben soll, fehlen; die „Eingebundenheit in eine fatalistische Gedankenwelt“ wird auch nicht beweiswürdigend belegt. Vielmehr werden wiederum nur die allgemeinen Erwägungen der Sachverständigen wiedergegeben, die beim Angeklagten diagnostizierte depressive Störung gehe „prinzipiell“ mit der Beherrschung des Denkens und des Fühlens durch nicht realitätsbegründete, absolut pessimistische, depressive Überzeugungen einher. Diese „könnten“ sich in einem abgründigen Nihilismus, in massiven konkreten Befürchtungen und der Sorge um die eigene Gesundheit äußern, wobei es sich insoweit um „eindeutig psychotische Zustände“ handele. Ob und in welchem Ausmaß beim Angeklagten bei Begehung der Tat solche Zustände vorlagen und warum daraus - bei erhaltener Einsichtsfähigkeit - gar die Aufhebung der Steuerungsfähigkeit resultieren soll, bleibt hingegen offen. Insoweit verweist die Sachverständige wiederum nur auf nicht näher erläuterte „Hinweise“ aus der „Epikrise der psychiatrischen Klinik Chemnitz“ auf eine „psychiatrische Ausweitung“ der depressiven Erkrankung. Das Fehlen von Feststellungen zu einer konkreten Beeinträchtigung des Angeklagten wiegt umso schwerer, als die Sachverständige letztlich selbst ausgeführt hat, die tataktuelle Motivation des Angeklagten lasse sich im Nachhinein nicht rekonstruieren. Damit bleibt auch ihre Annahme, ein „wahnhafter Altruismus“ des Angeklagten habe das Tatmotiv für den Mord geschaffen, ohne Beleg. In diesem Zusammenhang ist schließlich auch das Nachtatverhalten des Angeklagten (Aufzeichnung der Telefonate mit der Tochter) nicht in den Blick genommen worden.
c) Die aufgezeigten Rechtsfehler führen zur Aufhebung des Urteils insgesamt, weil die unzureichende Schuldfähigkeitsprüfung sowohl dem Freispruch als auch der Entscheidung über die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus die Grundlage entzieht. Auf die von der Staatsanwaltschaft mit Blick auf die Gefahrenprognose gerügten Erörterungsmängel kommt es daher nicht mehr an. Sollte das neue Tatgericht wiederum zu einer Schuldunfähigkeit des Angeklagten bei fortbestehender psychiatrischer Erkrankung kommen, wird es - sorgfältiger als das bisherige - zu prüfen haben, ob von dem Angeklagten mit Blick auf eine gegebenenfalls fortbestehende Suizidalität eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht.
Die Sache muss nach alledem - naheliegend unter Einschaltung eines anderen Sachverständigen - umfassend neu verhandelt und entschieden werden. Der Aufhebung der Feststellungen bedarf es auch deshalb, weil der freigesprochene und nicht mit einer Maßregel belegte Angeklagte diese bislang nicht angreifen konnte.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1389
Bearbeiter: Christian Becker