HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2023
24. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

1243. BVerfG 2 BvR 900/22 (Zweiter Senat) - Urteil vom 31. Oktober 2023 (OLG Celle / LG Verden)

Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel (Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zur Herstellung materieller Gerechtigkeit; Grundsatz „ne bis in idem“; Verbot der Mehrfachbestrafung und Mehrfachverfolgung; grundrechtsgleiches Recht des Verurteilten ebenso wie des Freigesprochenen; Unschuldsvermutung; Freispruch als verfahrensbeendendes Sachurteil; Rechtskraft und Vertrauensschutz; verfassungsrechtlich vorgegebener absoluter Vorrang vor dem Gebot materialer Gerechtigkeit; keine Abwägung durch den Gesetzgeber; enge Auslegung der Sonderregelung; Begrenzung auf Strafurteile inländischer Gerichte; Zulässigkeit der Wiederaufnahme zur Beseitigung schwerwiegender Verfahrensmängel; Unzulässigkeit der Wiederaufnahme zur Herbeiführung einer materiell gerechteren Entscheidung; keine Berücksichtigung neuer kriminaltechnischer Methoden oder von Opferinteressen; keine Beeinträchtigung des Anspruchs auf effektive Strafverfolgung; Verletzung des Rückwirkungsverbots; keine ausnahmsweise Zulässigkeit „echter“ Rückwirkung; Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 14. Juli 2022 [= HRRS 2022 Nr. 762]).

Art. 1 Abs. 3 GG; Art. 20 Ab. 3 GG; Art. 103 Abs. 3 GG; § 362 Nr. 5 StPO; § 211 StGB; § 6 Abs. 1 VStGB; § 7 Abs. 1 VStGB; § 8 Abs. 1 VStGB

1. Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt. (BVerfG)

2. Es entfaltet seine Wirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft. (BVerfG)

3. Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, sodass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt. (BVerfG)

4. Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist. (BVerfG)

5. Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. (BVerfG)

6. Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang. (BVerfG)

7. Art. 103 Abs. 3 GG gestaltet das Prinzip des Strafklageverbrauchs als grundrechtsgleiches Recht aus, das der Einzelne als individuelle Rechtsposition geltend machen kann. Träger des Rechts sind ungeachtet des Gesetzeswortlauts („mehrmals bestraft“) nicht nur Verurteilte, sondern nach Entstehungsgeschichte und Zweckrichtung der Norm auch Freigesprochene. Der in Art. 103 Abs. 3 GG verankerte Grundsatz „ne bis in idem“ ist strafrechtshistorisch als Abkehr von einer lediglich vorläufigen verfahrenseinstellenden „absolutio ab instantia“ im Inquisitionsprozess zugunsten des Freispruchs als verfahrensbeendendes Sachurteil zu verstehen, der materiell bestätigt, dass die den Prozess leitende Unschuldsvermutung nicht widerlegt wurde. (Bearbeiter)

8. Die Figur der Rechtskraft prägt alle rechtsstaatlichen Entscheidungen und entfaltet insbesondere dann ihre Bedeutung, wenn die Sachentscheidung materiell-rechtlich unrichtig ist. Zugunsten des Entscheidungsadressaten wird die Bedeutung der Rechtskraft durch den Aspekt des Vertrauensschutzes verstärkt. Im Spannungsverhältnis zu dem ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestatteten Gebot materialer Gerechtigkeit räumt der Verfassungsgeber dem Prinzip der Rechtssicherheit mit Art. 103 Abs. 3 GG den Vorrang ein. Diese Vorrangentscheidung wirkt – ebenso wie das besondere strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG – absolut und ist einer Abwägung durch den (einfachen) Gesetzgeber nicht zugänglich. (Bearbeiter)

9. Als abwägungsfestes Verbot der Mehrfachverfolgung und als eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen ist Art. 103 Abs. 3 GG eng auszulegen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund des Kriminalstrafrechts, wenn wegen derselben Tat aufgrund einer Hauptverhandlung in der Sache bereits ein rechtskräftiges Strafurteil eines deutschen Gerichts ergangen ist. Demgegenüber erstreckt sich der Gewährleistungsgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG nicht auf die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten, auf Maßregeln der Besserung und Sicherung oder Maßnahmen der Strafvollstreckung. Auch unterfallen Strafbefehle oder Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts nur dem allgemeinen rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot. (Bearbeiter)

10. Art. 103 Abs. 3 GG verbietet dem Gesetzgeber die Eröffnung einer Wiederaufnahmemöglichkeit zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell. Zulässig ist die Wiederaufnahme insbesondere dann, wenn sie unabhängig von der inhaltlichen Richtigkeit des Urteils primär auf die Wiederholung eines mit einem schwerwiegenden Mangel behafteten Verfahrens abzielt (§ 362 Nr. 1–3 StPO; „propter falsa“) oder verhindern soll, dass ein Freigesprochener für sich beansprucht, in seinen sozialen Bezügen nicht als unschuldig, sondern als Täter wahrgenommen zu werden (§ 362 Nr. 4 StPO; glaubwürdiges Geständnis nach Freispruch). (Bearbeiter)

11. Demgegenüber ist die Korrektur eines Strafurteils mit dem Ziel, eine inhaltlich „richtigere“ und damit materiell gerechtere Entscheidung herbeizuführen, mit der von Art. 103 Abs. 3 GG getroffenen unbedingten Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit nicht zu vereinbaren. An den verfassungsrechtlichen Vorgaben vermögen auch die Weiterentwicklung kriminaltechnischer Methoden und Aufklärungsmöglichkeiten oder die Belange von Opfern und deren Angehörigen nichts zu ändern. Wird die Aufklärung ungelöster Fälle erst mithilfe früher nicht verfügbarer Erkenntnismittel möglich, bestätigt dies vielmehr die rechtsstaatliche Unbedenklichkeit der früheren, wenngleich in der Sache unvollständigen Ergebnisse. Auch geht der Anspruch von Opfern oder ihrer Hinterbliebenen auf effektive Strafverfolgung nicht über die Erzwingung einer Anklage und die Verfahrensrechte als Nebenkläger hinaus und umfasst nicht die inhaltliche Korrektur eines Strafurteils, namentlich eine Verurteilung anstelle eines Freispruchs. (Bearbeiter)

12. Die durch das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit vom 21. Dezember 2021 geschaffene Wiederaufnahmemöglichkeit des § 362 Nr. 5 StPO aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel („propter nova“) läuft damit dem Schutzgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG zuwider, weil sie in erster Linie dem Ziel einer der inhaltlichen Korrektur des Urteils dient. (Bearbeiter)

13. Die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten der Bestimmung durch

rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen waren, verletzt zudem das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG. Die Vorschrift unterfällt der Kategorie der „echten“ Rückwirkung im Sinne einer zeitlichen Rückbewirkung von Rechtsfolgen auf abgeschlossene Tatbestände. In dieser Fallgruppe kommt dem Vertrauensschutz regelmäßig der Vorrang zu, weil der in der Vergangenheit liegende Sachverhalt mit dem Eintritt der Rechtsfolge kraft gesetzlicher Anordnung einen Grad der Abgeschlossenheit erreicht hat, über den sich der Gesetzgeber vorbehaltlich besonders schwerwiegender Gründe nicht mehr hinwegsetzen darf. (Bearbeiter)

14. Die mit § 362 Nr. 5 StPO einhergehende „echte“ Rückwirkung ist verfassungsrechtlich nicht ausnahmsweise zulässig. Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Freigesprochenen darauf, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der bisherigen Rechtslage durchbrochen werden kann, entfällt nicht wegen der Unverjährbarkeit der von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Delikte; denn gerade für unverjährbare Delikte kann erst ein Freispruch die weitere Strafverfolgung ausschließen. Der Vertrauensschutz tritt auch nicht wegen zwingender Gründe des Gemeinwohls zurück. (Bearbeiter)


Entscheidung

1241. BVerfG 1 BvR 2219/20 (1. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 25. September 2023 (OLG München)

Durchsuchung eines Universitätslehrstuhls zum Auffinden von Forschungsunterlagen (Forschungsprojekt zur „Islamistischen Radikalisierung im Justizvollzug“; Interview mit einem Strafgefangenen; Ermittlungsverfahren gegen den Gefangenen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland; Wissenschaftsfreiheit; Forschungsfreiheit; Vertraulichkeit von Daten im Rahmen wissenschaftlicher Forschungsprojekte; Abwägung mit den Belangen einer effektiven und funktionstüchtigen Strafrechtspflege; Bedeutung der Forschung für die Kriminalprävention); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Darlegungslast in Zweifelsfällen auch hinsichtlich der Wahrung der Monatsfrist).

Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; § 35 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StPO; § 103 StPO; § 105 StPO

1. Die Anordnung der Durchsuchung eines Universitätslehrstuhls zum Auffinden der Protokolle eines Interviews, das der Lehrstuhlinhaber im Rahmen eines Forschungsprojekts zur „Islamistischen Radikalisierung im Justizvollzug“ mit einem Strafgefangenen geführt hatte, gegen den zwischenzeitlich wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland ermittelt wird, berücksichtigt das Gewicht und die Reichweite der Forschungsfreiheit nicht in angemessenem Maße, wenn das Gericht verkennt, dass der Eingriff die Forschung über das konkrete Interview hinaus beeinträchtigt und dass die betroffene Forschung von besonderer Bedeutung für die Kriminalprävention ist.

2. Die Forschungsfreiheit umfasst auch die Erhebung und Vertraulichkeit von Daten im Rahmen wissenschaftlicher Forschungsprojekte. Die staatlich erzwungene Preisgabe von Forschungsdaten hebt die Vertraulichkeit auf und erschwert oder verunmöglicht Forschungen, die auf vertrauliche Datenerhebungen angewiesen sind, wie dies in besonderem Maße bei kriminologischen Forschungen über Dunkelfelder oder Kontexte strafbarer Verhaltensweisen der Fall ist. Staatliche Zugriffe erschweren insoweit nicht nur die Fortführung des konkreten Projekts, sondern verschlechtern auch die Bedingungen für zukünftige Forschungsvorhaben.

3. Wie andere vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte kann die Wissenschaftsfreiheit aufgrund von kollidierendem Verfassungsrecht beschränkt werden. Hierzu gehören auch die Belange einer effektiven und funktionstüchtigen Strafrechtspflege als Zweck von Verfassungsrang. Bei der Abwägung der gegenläufigen Belange kommt der Wissenschaftsfreiheit umso höheres Gewicht zu, je stärker die Forschung auf die Vertraulichkeit bei Datenerhebungen und -verarbeitungen angewiesen ist. Dies gilt umso mehr, wenn die konkret betroffene Forschung der Gewinnung von Erkenntnissen über Dunkelfelder und kriminalitätsfördernde Dynamiken und damit letztlich gerade auch der effektiven Verhinderung von Straftaten dient.

4. Das Erfordernis einer ausreichenden Begründung der Verfassungsbeschwerde umfasst auch die Sachentscheidungsvoraussetzungen – wie etwa die Einhaltung der Frist nach § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG –, soweit nicht aus sich heraus erkennbar ist, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind. Dies erfordert bei formlos mitgeteilten letztinstanzlichen strafprozessualen (Beschwerde-)Entscheidungen insbesondere dann eine über die bloße Mitteilung des Bekanntgabezeitpunkts hinausgehende Darlegung zum Zugang der angegriffenen Entscheidung, wenn die Verfassungsbeschwerde erst mehr als einen Monat nach dem Datum der Entscheidung erhoben wird.


Entscheidung

1242. BVerfG 2 BvR 825/23 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 21. September 2023 (OLG Frankfurt am Main)

Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz durch erheblich verzögerte Entscheidung des Oberlandesgerichts im besonderen Haftprüfungsverfahren (Sechs-Monats-Haftprüfung; überlange Verfahrensdauer aus von dem Beschuldigten nicht zu vertretenden Gründen; Unterbleiben der Neun-Monats-Prüfung; Anspruch auf Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit; keine feste zeitliche Grenze; Umstände des Einzelfalls; Freiheitsgrundrecht; Unschuldsvermutung; Rechtsschutzbedürfnis; fortbestehendes Feststellungsinteresse nach Anordnung der Haftfortdauer).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 104 GG; Art. 5 Abs. 4 EMRK; § 121 StPO; § 122 StPO

1. Ein Oberlandesgericht verletzt das Recht eines Beschuldigten auf effektiven Rechtsschutz, wenn es im Verfahren über die besondere Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO erst etwa sechs Monate nach (rechtzeitiger) Vorlage der Akten über die Haftfortdauer entscheidet und dem Beschuldigten damit faktisch nicht zuletzt auch die Möglichkeit der weiteren Nachprüfung nach neun Monaten nimmt. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende Gründe – wie eine längerfristige Erkrankung des Vorsitzenden und des Berichterstatters, die verzögerte Bestellung einer Vertretungsrichterin, deren urlaubs- oder

familiär bedingte Abwesenheit oder Belastung mit anderen Verfahren – sind dabei nicht geeignet, eine Verzögerung der Entscheidung über mehrere Monate zu rechtfertigen.

2. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz eröffnet dem Einzelnen einen substantiellen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle bezüglich eines ihn betreffenden Handelns oder Unterlassens der öffentlichen Gewalt. Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit, wobei die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen ist.

3. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz erlangt im Hinblick auf Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht besondere Bedeutung. Bei einem Haftprüfungsverfahren ist außerdem Art. 5 Abs. 4 EMRK zu berücksichtigen, der bestimmt, dass die Gerichte innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung zu entscheiden haben. Wenngleich insoweit eine feste zeitliche Grenze nicht existiert, sondern die Umstände des Einzelfalls – darunter die Schwierigkeit des Verfahrens, das Verhalten der Behörden und Gerichte sowie des Festgenommenen und die Bedeutung der Rechtssache für diesen – entscheidend sind, ist ein strenger Maßstab anzulegen. Dies gilt mit Blick auf die Unschuldsvermutung insbesondere in einem anhängigen Strafverfahren.

4. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche) Feststellung einer Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz durch die überlange Dauer eines Haftprüfungsverfahrens besteht auch dann fort, wenn das Gericht zwischenzeitlich die Haftfortdauer angeordnet hat; denn es steht die Gewährleistung von Rechtsschutz im Zusammenhang mit der Überprüfung eines Freiheitsentzugs in Rede, der seinerseits einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff darstellt. Eine Pflicht zur Aufhebung oder Außervollzugsetzung des Haftbefehls begründet der Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG für sich genommen allerdings nicht.


Entscheidung

1244. BVerfG 2 BvR 1838/22 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 3. August 2023 (OLG Naumburg)

Auslieferung an die Türkei zum Zwecke der Strafvollstreckung nach einem Abwesenheitsurteil (unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze; unverzichtbarer völkerrechtlicher Mindeststandard; ordre public; Recht auf effektiven Rechtsschutz; hinreichende gerichtliche Sachverhaltsaufklärung; Wahrung der Mindestrechte bezüglich wirksamer Verteidigung; nachträgliche Einräumung rechtlichen Gehörs; Möglichkeit eines neuen Verfahrens; Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens; Erschütterung des Vertrauens bei systemischen Defiziten im Zielstaat; völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen; Zweifel an der Belastbarkeit; eigene gerichtliche Gefahrprognose).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 25 GG; Art. 79 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; § 73 IRG; § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG

1. Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der die Auslieferung eines türkischen Staatsangehörigen an die Türkei zum Zwecke der Strafvollstreckung auf der Grundlage einer in seiner Abwesenheit ergangenen Verurteilung wegen Totschlags für zulässig erklärt wird, verletzt das Recht des Verfolgten auf effektiven Rechtsschutz, wenn das Gericht unzureichend aufgeklärt hat, ob bei der Durchführung des Abwesenheitsverfahrens gegen die Mindestrechte des Beschwerdeführers, sich wirksam zu verteidigen, verstoßen wurde und ob ihm gegebenenfalls nachträglich die tatsächlich wirksame Möglichkeit eingeräumt wird, sich in einem neuen Verfahren unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen zu verteidigen (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 31. Oktober 2022 [= HRRS 2022 Nr. 1187]).

2. Bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Auslieferung haben die deutschen Gerichte zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze und das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz sowie – insbesondere im Auslieferungsverkehr mit Staaten, die nicht Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind – den nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren.

3. Zum unverzichtbaren Bestand des verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandards und der öffentlichen Ordnung (ordre public) gehört das in der Menschenwürde und im Recht auf rechtliches Gehör wurzelnde Gebot, dass ein Beschuldigter im Rahmen der Verfahrensordnung die Möglichkeit haben und auch tatsächlich ausüben können muss, auf das Strafverfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen und deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen.

4. Die Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in Abwesenheit des Beschuldigten ergangenen Strafurteils ist von Verfassungs wegen unzulässig, wenn der Betroffene weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des Verfahrens unterrichtet war noch ihm eine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen. Hingegen ist der völkerrechtliche Mindeststandard nicht verletzt, wenn der Betroffene von dem Verfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, sich ihm durch Flucht entzogen hat und im Verfahren von einem ordnungsgemäß bestellten Pflichtverteidiger unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen verteidigt werden konnte. Dies haben die Gerichte vor einer Auslieferung aufzuklären.

5. Dem ersuchenden Staat ist im Auslieferungsverkehr grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen. Dies gilt in besonderem Maße gegenüber den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, im Grundsatz jedoch auch im allgemeinen völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr. Das Vertrauen kann jedoch durch entgegenstehende Tatsachen – wie etwa systemische Defizite im Zielstaat – erschüttert werden, angesichts derer gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die Mindeststandards nicht beachtet werden.

6. Völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen des ersuchenden Staates sind zwar grundsätzlich geeignet, etwaige

Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit einer Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird. Eine Zusicherung entbindet die Gerichte jedoch nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um die Situation im Zielstaat und so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können.


Entscheidung

1245. BVerwG 6 C 8/21 – Urteil vom 26. April 2023 (OVG Münster)

BVerwGE; Verbot eines Wahlplakats (Meinungsfreiheit: Kontexte des Wahlkampfs und des Parteiprogramms; Volksverhetzung: böswilliges Verächtlichmachen).

Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG; Art. 5 Abs. 2 GG; Art. 21 GG; § 14 Abs. 1 OBG NJW; § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB

1. Bei mehrdeutigen Äußerungen haben Behörden und Gerichte sanktionsrechtlich irrelevante Auslegungsvarianten mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen auszuschließen, bevor sie ihrer Entscheidung eine zur Anwendung des Straftatbestands der Volksverhetzung führende Deutung zugrunde legen.

2. Bei einer polemischen Äußerung auf einem Wahlplakat muss der Kontext des zu Verkürzungen und Zuspitzungen anhaltenden Wahlkampfes bei der Ermittlung des objektiven Sinns der Äußerung bei der gerichtlichen Bewertung der Äußerung konkret sichtbar Berücksichtigung finden. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung eines Wahlkampfes als Begleitumstand ergibt sich in besonderer Weise dann, wenn die betreffende Äußerung ersichtlich ein Anliegen in nur schlagwortartiger Form zusammenfasst. Das Parteiprogramm der plakatierenden Partei ist grundsätzlich nicht zu dem Kontext zu zählen, der in die Interpretation einzustellen ist. Anderes gilt auch dann nicht, wenn es sich um eine Partei handelt, hinsichtlich derer das Bundesverfassungsgericht selbst die Verfassungswidrigkeit durch Urteil festgestellt hat.