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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1243

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 900/22, Urteil v. 31.10.2023, HRRS 2023 Nr. 1243


BVerfG 2 BvR 900/22 (Zweiter Senat) - Urteil vom 31. Oktober 2023 (OLG Celle / LG Verden)

Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel (Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zur Herstellung materieller Gerechtigkeit; Grundsatz „ne bis in idem“; Verbot der Mehrfachbestrafung und Mehrfachverfolgung; grundrechtsgleiches Recht des Verurteilten ebenso wie des Freigesprochenen; Unschuldsvermutung; Freispruch als verfahrensbeendendes Sachurteil; Rechtskraft und Vertrauensschutz; verfassungsrechtlich vorgegebener absoluter Vorrang vor dem Gebot materialer Gerechtigkeit; keine Abwägung durch den Gesetzgeber; enge Auslegung der Sonderregelung; Begrenzung auf Strafurteile inländischer Gerichte; Zulässigkeit der Wiederaufnahme zur Beseitigung schwerwiegender Verfahrensmängel; Unzulässigkeit der Wiederaufnahme zur Herbeiführung einer materiell gerechteren Entscheidung; keine Berücksichtigung neuer kriminaltechnischer Methoden oder von Opferinteressen; keine Beeinträchtigung des Anspruchs auf effektive Strafverfolgung; Verletzung des Rückwirkungsverbots; keine ausnahmsweise Zulässigkeit „echter“ Rückwirkung; Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 14. Juli 2022 [= HRRS 2022 Nr. 762]).

Art. 1 Abs. 3 GG; Art. 20 Ab. 3 GG; Art. 103 Abs. 3 GG; § 362 Nr. 5 StPO; § 211 StGB; § 6 Abs. 1 VStGB; § 7 Abs. 1 VStGB; § 8 Abs. 1 VStGB

Leitsätze

1. Das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG enthält kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot, das Verurteilte wie Freigesprochene gleichermaßen schützt. (BVerfG)

2. Es entfaltet seine Wirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft. (BVerfG)

3. Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Diese Vorrangentscheidung steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen, sodass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt. (BVerfG)

4. Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist. (BVerfG)

5. Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. (BVerfG)

6. Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft geltenden Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang. (BVerfG)

7. Art. 103 Abs. 3 GG gestaltet das Prinzip des Strafklageverbrauchs als grundrechtsgleiches Recht aus, das der Einzelne als individuelle Rechtsposition geltend machen kann. Träger des Rechts sind ungeachtet des Gesetzeswortlauts („mehrmals bestraft“) nicht nur Verurteilte, sondern nach Entstehungsgeschichte und Zweckrichtung der Norm auch Freigesprochene. Der in Art. 103 Abs. 3 GG verankerte Grundsatz „ne bis in idem“ ist strafrechtshistorisch als Abkehr von einer lediglich vorläufigen verfahrenseinstellenden „absolutio ab instantia“ im Inquisitionsprozess zugunsten des Freispruchs als verfahrensbeendendes Sachurteil zu verstehen, der materiell bestätigt, dass die den Prozess leitende Unschuldsvermutung nicht widerlegt wurde. (Bearbeiter)

8. Die Figur der Rechtskraft prägt alle rechtsstaatlichen Entscheidungen und entfaltet insbesondere dann ihre Bedeutung, wenn die Sachentscheidung materiell-rechtlich unrichtig ist. Zugunsten des Entscheidungsadressaten wird die Bedeutung der Rechtskraft durch den Aspekt des Vertrauensschutzes verstärkt. Im Spannungsverhältnis zu dem ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestatteten Gebot materialer Gerechtigkeit räumt der Verfassungsgeber dem Prinzip der Rechtssicherheit mit Art. 103 Abs. 3 GG den Vorrang ein. Diese Vorrangentscheidung wirkt - ebenso wie das besondere strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG - absolut und ist einer Abwägung durch den (einfachen) Gesetzgeber nicht zugänglich. (Bearbeiter)

9. Als abwägungsfestes Verbot der Mehrfachverfolgung und als eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen ist Art. 103 Abs. 3 GG eng auszulegen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund des Kriminalstrafrechts, wenn wegen derselben Tat aufgrund einer Hauptverhandlung in der Sache bereits ein rechtskräftiges Strafurteil eines deutschen Gerichts ergangen ist. Demgegenüber erstreckt sich der Gewährleistungsgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG nicht auf die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten, auf Maßregeln der Besserung und Sicherung oder Maßnahmen der Strafvollstreckung. Auch unterfallen Strafbefehle oder Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts nur dem allgemeinen rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot. (Bearbeiter)

10. Art. 103 Abs. 3 GG verbietet dem Gesetzgeber die Eröffnung einer Wiederaufnahmemöglichkeit zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell. Zulässig ist die Wiederaufnahme insbesondere dann, wenn sie unabhängig von der inhaltlichen Richtigkeit des Urteils primär auf die Wiederholung eines mit einem schwerwiegenden Mangel behafteten Verfahrens abzielt (§ 362 Nr. 1-3 StPO; „propter falsa“) oder verhindern soll, dass ein Freigesprochener für sich beansprucht, in seinen sozialen Bezügen nicht als unschuldig, sondern als Täter wahrgenommen zu werden (§ 362 Nr. 4 StPO; glaubwürdiges Geständnis nach Freispruch). (Bearbeiter)

11. Demgegenüber ist die Korrektur eines Strafurteils mit dem Ziel, eine inhaltlich „richtigere“ und damit materiell gerechtere Entscheidung herbeizuführen, mit der von Art. 103 Abs. 3 GG getroffenen unbedingten Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit nicht zu vereinbaren. An den verfassungsrechtlichen Vorgaben vermögen auch die Weiterentwicklung kriminaltechnischer Methoden und Aufklärungsmöglichkeiten oder die Belange von Opfern und deren Angehörigen nichts zu ändern. Wird die Aufklärung ungelöster Fälle erst mithilfe früher nicht verfügbarer Erkenntnismittel möglich, bestätigt dies vielmehr die rechtsstaatliche Unbedenklichkeit der früheren, wenngleich in der Sache unvollständigen Ergebnisse. Auch geht der Anspruch von Opfern oder ihrer Hinterbliebenen auf effektive Strafverfolgung nicht über die Erzwingung einer Anklage und die Verfahrensrechte als Nebenkläger hinaus und umfasst nicht die inhaltliche Korrektur eines Strafurteils, namentlich eine Verurteilung anstelle eines Freispruchs. (Bearbeiter)

12. Die durch das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit vom 21. Dezember 2021 geschaffene Wiederaufnahmemöglichkeit des § 362 Nr. 5 StPO aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel („propter nova“) läuft damit dem Schutzgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG zuwider, weil sie in erster Linie dem Ziel einer der inhaltlichen Korrektur des Urteils dient. (Bearbeiter)

13. Die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten der Bestimmung durch rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen waren, verletzt zudem das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG. Die Vorschrift unterfällt der Kategorie der „echten“ Rückwirkung im Sinne einer zeitlichen Rückbewirkung von Rechtsfolgen auf abgeschlossene Tatbestände. In dieser Fallgruppe kommt dem Vertrauensschutz regelmäßig der Vorrang zu, weil der in der Vergangenheit liegende Sachverhalt mit dem Eintritt der Rechtsfolge kraft gesetzlicher Anordnung einen Grad der Abgeschlossenheit erreicht hat, über den sich der Gesetzgeber vorbehaltlich besonders schwerwiegender Gründe nicht mehr hinwegsetzen darf. (Bearbeiter)

14. Die mit § 362 Nr. 5 StPO einhergehende „echte“ Rückwirkung ist verfassungsrechtlich nicht ausnahmsweise zulässig. Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Freigesprochenen darauf, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der bisherigen Rechtslage durchbrochen werden kann, entfällt nicht wegen der Unverjährbarkeit der von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Delikte; denn gerade für unverjährbare Delikte kann erst ein Freispruch die weitere Strafverfolgung ausschließen. Der Vertrauensschutz tritt auch nicht wegen zwingender Gründe des Gemeinwohls zurück. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. § 362 Nummer 5 der Strafprozessordnung in der Fassung des Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung - Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO und zur Änderung der zivilrechtlichen Verjährung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit) vom 21. Dezember 2021 (Bundesgesetzblatt I Seite 5252) ist mit Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes, auch in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes), unvereinbar und nichtig.

2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 20. April 2022 - 2 Ws 62/22, 2 Ws 86/22 - und der Beschluss des Landgerichts Verden vom 25. Februar 2022 - 1 Ks 148 Js 1066/22 (102/22) - verletzen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes, auch in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Verden zurückverwiesen.

3. Die einstweilige Anordnung vom 14. Juli 2022, zuletzt wiederholt durch Beschluss des Senats vom 16. Juni 2023, wird damit gegenstandslos.

4. Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Niedersachsen haben dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren sowie das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu gleichen Teilen zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Fragen, ob die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel mit Art. 103 Abs. 3 GG vereinbar und ob die neue Regelung rückwirkend anwendbar ist.

A.

I.

1. Die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zuungunsten eines Angeklagten ist in § 362 StPO geregelt. Mit dem Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung - Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß § 362 StPO und zur Änderung der zivilrechtlichen Verjährung (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit) vom 21. Dezember 2021 (BGBl I S. 5252) wurde die Norm um eine weitere Fallgruppe (Nr. 5) ergänzt. Die Vorschrift lautet seither:

§ 362 StPO Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten

Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig,

1. wenn eine in der Hauptverhandlung zu seinen Gunsten als echt vorgebrachte Urkunde unecht oder verfälscht war;

2. wenn der Zeuge oder Sachverständige sich bei einem zugunsten des Angeklagten abgelegten Zeugnis oder abgegebenen Gutachten einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht oder einer vorsätzlichen falschen uneidlichen Aussage schuldig gemacht hat;

3. wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat;

4. wenn von dem Freigesprochenen vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat abgelegt wird;

5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) verurteilt wird.

2. Die ersten vier Wiederaufnahmegründe und damit die vorausgehende Fassung des § 362 StPO lassen sich auf die Reichsstrafprozessordnung vom 1. Februar 1877 (RGBl S. 253 ff.) zurückführen.

a) Die Regelung in der Reichsstrafprozessordnung bildete anknüpfend an die uneinheitliche Rechtslage in den deutschen Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts einen Mittelweg zwischen einem akkusatorischen und einem inquisitorischen Strafverfahren ab (vgl. Motive zu dem Entwurf einer Deutschen Strafprozessordnung nach den Beschlüssen der von dem Bundesrath eingesetzten Kommission, 1873, S. 173 f.; Motive zum Entwurf einer Strafprozessordnung von 1874, abgedruckt in: Hahn, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 3, Erste Abteilung, 1880, S. 264 f.).

Der Grundsatz ne bis in idem wird auf das kontradiktorische Verfahren im römischen Recht zurückgeführt. Demgegenüber oblag nach dem gemeinrechtlichen und teils auch kodifizierten Inquisitionsverfahren die Aufgabe der Strafverfolgung ausschließlich dem Staat, der im Interesse der Allgemeinheit und der Gerechtigkeit die Wahrheit zu erkennen und durchzusetzen hatte. Dem Verfahrensziel, die objektive Wahrheit zu erlangen, entsprach es, auch nach Abschluss eines Verfahrens ein und dieselbe Tat erneut zu untersuchen und gegebenenfalls erneut zu bestrafen, wenn neue Verdachtsgründe oder Beweismittel zutage traten. Dies wurde durch die sogenannte Lossprechung von der Instanz (absolutio ab instantia) ermöglicht, wenn nach den gesetzlichen Beweisregeln des Inquisitionsverfahrens weder die Schuld noch die Unschuld festgestellt werden konnte (vgl. Grünewald, ZStW 120 <2008>, S. 545 <549>; Frank, Die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten im Strafverfahren, 2022, S. 11 ff. m.w.N.).

Nach Einführung des akkusatorischen Strafverfahrens in Frankreich infolge der Revolution von 1791 wurde der Anklageprozess in zahlreichen deutschen Partikularstaaten rezipiert und auch in § 179 Abs. 1 der Frankfurter Paulskirchenverfassung von 1849 vorgegeben. Als Kern des akkusatorischen Verfahrens galt, dass die Parteien den Prozessstoff zu sammeln und vorzulegen hatten, so dass bewusst oder unbewusst nicht vorgebrachter Prozessstoff unbeachtlich war. Zugleich hielt der Gedanke der Rechtskraft der richterlichen Streitentscheidung Einzug in den Strafprozess. Bei offen gebliebenen Anklagepunkten trat an die Stelle der nur verfahrenseinstellenden absolutio ab instantia der Freispruch als verfahrensbeendendes Sachurteil (vgl. Grünewald, ZStW 120 <2008>, S. 545 <552> m.w.N.; Frank, Die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten im Strafverfahren, 2022, S. 19 ff.). Eine Wiederaufnahme wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel gab es nicht.

In der Weimarer Republik blieben die strafprozessualen Bestimmungen inhaltlich unverändert (vgl. Verordnung vom 4. Januar 1924 zur (Neu-)Bekanntmachung der Reichsstrafprozessordnung, RGBl I S. 299 ff. <358 ff.>). Eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zulasten des Angeklagten um neue Tatsachen oder Beweismittel wurde 1931 auf dem Deutschen Juristentag kontrovers diskutiert und im Ergebnis abgelehnt (vgl. Verhandlungen des 36. Deutschen Juristentages, Bd. 1, 4. Lieferung, 1931, S. 1141 ff.; Bd. 2, 1932, S. 222 ff.).

b) Unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurden die Wiederaufnahmegründe zugunsten und zuungunsten des Angeklagten durch die Dritte Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 29. Mai 1943 (RGBl I S. 342 ff.) einander angeglichen. In der Begründung des vorangegangenen Entwurfs hieß es, wichtiger als die - vorwiegend als Schutz des Beschuldigten gedachte - formale Rechtskraft sei das Verlangen der Volksgemeinschaft nach Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit sei einheitlich und unteilbar und sei die gleiche bei Entscheidungen zugunsten wie zuungunsten des Angeklagten (vgl. Begründung des Entwurfs einer Strafverfahrensordnung vom 1. Mai 1939, abgedruckt in: Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, Abteilung III, Bd. 1, 1991, S. 541). Daneben konnte mit der sogenannten Urteilsergänzung die Rechtskraft in denjenigen Fällen durchbrochen werden, in denen das Urteil den „Belangen der Volksgemeinschaft“ widersprach (vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 4).

c) Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde zunächst in den Besatzungszonen die Rechtslage im Wesentlichen entsprechend der Reichsstrafprozessordnung in der Fassung der Neubekanntmachung von 1924 wiederhergestellt (vgl. im Einzelnen Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten <§§ 362 ff. StPO>, 1974, S. 71 und 143; Bohn, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Angeklagten vor dem Hintergrund neuer Beweise, 2016, S. 87 f.).

Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland galt dies bundeseinheitlich aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 20. September 1950 (BGBl S. 455). In der Folgezeit wurde eine Reform des Wiederaufnahmerechts im Schrifttum diskutiert (vgl. nur Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, 1972, S. 321; Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten <§§ 362 ff. StPO>, 1974; BRAK, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme des Verfahrens im Strafprozess, 1971, S. 76; Meyer, Wiederaufnahmereform, 1977, S. 158; Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, 1979, S. 142), ohne dass es zu Änderungen zuungunsten des Angeklagten kam.

Im Gegensatz dazu wurde in der Deutschen Demokratischen Republik die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten aus denselben Gründen zugelassen wie zugunsten des Verurteilten; die ungünstige Wiederaufnahme war aber nur innerhalb von fünf Jahren seit Rechtskraft des Urteils möglich (§ 328 der Strafprozessordnung vom 12. Januar 1968 <GBl DDR 1968 I S. 49>).

3. Der Einführung des § 362 Nr. 5 StPO gingen mehrere, jeweils durch Einzelfälle angestoßene Reformversuche voraus.

a) Ende 1992 scheiterte im Fall des 1938 in einem Konzentrationslager verstorbenen Journalisten Carl von Ossietzky die von dessen Tochter beantragte Wiederaufnahme des Strafverfahrens, das 1931 mit einer Verurteilung von Ossietzkys durch das Reichsgericht wegen Landesverrats geendet hatte (vgl. BGHSt 39, 75). Daraufhin brachte die SPD-Bundestagsfraktion 1993 und erneut 1996 einen Gesetzentwurf zur umfassenden Reform des Wiederaufnahmerechts in den Bundestag ein. Mit Blick auf die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten wurde „wegen des verfassungsrechtlichen Grundsatzes des ‚ne bis in idem‘ (Artikel 103 Abs. 3 GG) nach dem Vorbild ausländischer Rechtsordnungen“ vorgeschlagen, die Wiederaufnahme zuzulassen, „wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen jeden begründeten Zweifel ausschließen, dass der Angeklagte in einer neuen Hauptverhandlung der Begehung eines Mordes (§ 211 StGB) oder Völkermordes (§ 220a StGB) überführt werden wird“ (vgl. BTDrucks 12/6219, S. 1, 3). Nach kontroverser Debatte sah der Rechtsausschuss des 13. Deutschen Bundestages keinen umfassenden Reformbedarf (vgl. BTDrucks 13/10333, S. 4), und § 362 StPO blieb unverändert.

b) Im September 2007 brachten das Land Nordrhein-Westfalen und die Freie und Hansestadt Hamburg einen Gesetzentwurf in den Bundesrat ein, nach dem in Fällen des vollendeten Mordes und einiger Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch eine Wiederaufnahme zulasten des Angeklagten zulässig sein sollte, „wenn auf der Grundlage neuer, wissenschaftlich anerkannter technischer Untersuchungsmethoden, die bei Erlass des Urteils […] nicht zur Verfügung standen, neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden“ (vgl. BRDrucks 655/07, S. 1; BTDrucks 16/7957, S. 5). Anlass für diese Initiative war ein Fall, in dem 1993 die Angestellte einer Videothek bei einem Raubüberfall getötet worden war und 2004 durch die Untersuchung von auf Asservaten sichergestellten Hautpartikeln diese dem zuvor mangels Beweisen Freigesprochenen zugeordnet werden konnten (vgl. BRPlenProt 837, S. 341 <C>-<D>). Auch hier kam es letztlich nicht zu einer Gesetzesänderung (vgl. Mitteilung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 12. März 2009 zur 130. Sitzung; BRDrucks 222/10 und BRPlenProt 869, S. 123 <A>, 156 <D>; BMJV, Abschlussbericht der StPO-Expertenkommission, 2015, S. 168 und hierzu Anlagenband I, Gutachten, S. 660; BRPlenProt 967, S. 131 <C> und 138 <A>).

c) Die Einfügung des § 362 Nr. 5 StPO durch das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit vom 21. Dezember 2021 ist ebenfalls durch einen Einzelfall - den hier verfahrensgegenständlichen - veranlasst (vgl. BVerfGE 162, 358 <361 Rn. 7> - Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen-eA). Dazu heißt es in der Gesetzesbegründung (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 9 f.):

Der Rechtsfrieden und das Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung werden durch einen erwiesenermaßen ungerechtfertigten Freispruch wegen Mordes oder wegen der aufgeführten Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch in mindestens ebenso starkem Maße beeinträchtigt wie durch die Verurteilung eines unschuldigen Angeklagten. Schon der Freispruch in einem einzigen Verfahren - etwa im Falle eines Serienmörders -, der sich nachträglich auf Grund neuer technischer Ermittlungsmethoden als falsch erweist, kann den Rechtsfrieden und das Vertrauen in die Strafrechtspflege nachhaltig stören. Dies zeigt auch der Fall der ermordeten Frederike von Möhlmann, der Anlass für eine Petition zur Reform der Wiederaufnahme geworden ist. Knapp 180.000 Menschen haben diese Petition bereits unterschrieben.

4. Nach einer Auswertung des Statistischen Bundesamtes gingen im Jahr 2020 von den 13.819 vor den Landgerichten erledigten Verfahren 19 auf einen Antrag auf Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten zurück (Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3, 2020, S. 62).

In den zurückliegenden Jahren wurden pro Kalenderjahr knapp 10 Verfahren mit einem Freispruch vom Tatvorwurf des Mordes abgeschlossen (vgl. für 2003 und 2004: BTDrucks 16/7957, S. 2; für 2010-2019: BTDrucks 19/30798, S. 47 f.; für 2020: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3, 2020, S. 24, 50 f. und 71). Ein Freispruch vom Tatvorwurf des Völkermordes erfolgte einmal im Jahr 2011 (BTDrucks 19/30798, S. 47 f.).

5. In Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (nachfolgend: 7. ZP-EMRK), das die Bundesrepublik Deutschland nicht ratifiziert hat, ist der Grundsatz ne bis in idem verankert, der nur für Strafverfahren innerhalb eines Staates, nicht für Strafverfahren in verschiedenen Staaten gilt (vgl. EGMR, Amrollahi v. Denmark, Entscheidung vom 28. Juni 2001, Nr. 56811/00, § 1; Trabelsi v. Belgium, Urteil vom 4. September 2014, Nr. 140/10, § 164). Dies schließt nach Absatz 2 die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist. Auch nach Art. 14 Abs. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl II 1973 S. 1553) darf niemand wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des jeweiligen Landes rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden. Art. 20 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes (BGBl I 2002 S. 2144) bietet Schutz vor wiederholter strafrechtlicher Verfolgung im Zusammenhang mit vor dem Strafgerichtshof geführten oder zu führenden Verfahren.

Für die Europäische Union entfaltet das Doppelbestrafungsverbot des Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (vom 19. Juni 1990, ABl EU Nr. L 239 vom 22. September 2000, S. 19, zuletzt geändert durch Art. 64 ÄndVO <EU> 2018/1861 vom 28. November 2018, ABl EU Nr. L 312 vom 7. Dezember 2018, S. 14; nachfolgend: SDÜ) transnationale Wirkung. Es findet seine Verankerung zudem in Art. 50 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (nachfolgend: GRCh), der eine erneute Verfolgung oder Bestrafung wegen einer Straftat verbietet, deretwegen der Betroffene bereits in der Union rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, EU:C:2013:105, Rn. 33 f.; Urteil vom 5. Juni 2014, M, C-398/12, EU:C:2014:1057, Rn. 35; Urteil vom 28. Oktober 2022, PPU, C-435/22, EU:C:2022:852, Rn. 64 ff.; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2022 - 2 BvR 1110/21 -, Rn. 40 ff.).

6. Eine Anfrage des Bundesverfassungsgerichts an die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) zur Rechtslage betreffend den Grundsatz ne bis in idem und die Wiederaufnahme von Strafverfahren hat ergeben, dass in den meisten derjenigen Staaten, die eine Stellungnahme abgegeben haben, der Grundsatz ne bis in idem jedenfalls aufgrund von Art. 4 des 7. ZP-EMRK eine verfassungsrechtliche Verankerung erfahren hat. Zur Zulässigkeit der Wiederaufnahme ergaben die Antworten ein heterogenes Bild nicht zuletzt deswegen, weil in den verschiedenen Rechtsordnungen unterschiedlich zwischen strafrechtlichen und ordnungs- beziehungsweise disziplinarrechtlichen Sanktionen oder unterschiedlichen Arten der Verfahrensbeendigung differenziert wird. Außerdem bestehen unterschiedliche Fristen für eine Wiederaufnahme, entweder durch den Eintritt der Verjährung der verfolgten Straftat oder anknüpfend an die Rechtskraft des Urteils; soweit eine Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweise (propter nova) möglich ist, ist teilweise eine Frist ab Kenntniserlangung zu beachten.

Eine Wiederaufnahme zuungunsten der betroffenen Person ist in sieben der ausgewerteten Staaten (vgl. auch Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, WD 7 - 3000 - 262/18 und WD 7 - 3000 - 007/22) insgesamt unzulässig. In weiteren sieben Staaten ist sie beschränkt auf gefälschte Beweismittel, Falschaussagen oder andere Verfahrensfehler wie Korruption, Bestechung oder Amtsmissbrauch (propter falsa) vorgesehen. In 17 Staaten ist dagegen mit Unterschieden im Einzelnen eine ungünstige Wiederaufnahme auch aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel (propter nova) möglich.

II.

1. Der Beschwerdeführer wurde mit seit dem 21. Mai 1983 rechtskräftigem Urteil des Landgerichts Stade vom 13. Mai 1983 vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes freigesprochen. Nach Einführung des § 362 Nr. 5 StPO stellte die zuständige Staatsanwaltschaft im Februar 2022 beim Landgericht Verden (nachfolgend: Landgericht) einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach dieser Vorschrift und auf Erlass eines Haftbefehls. Das Landgericht erklärte den Wiederaufnahmeantrag mit Beschluss vom 25. Februar 2022 für zulässig und ordnete Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Celle (nachfolgend: Oberlandesgericht) mit Beschluss vom 20. April 2022 (vgl. im Einzelnen BVerfGE 162, 358 <360 ff. Rn. 2 ff.>).

2. Mit seiner unmittelbar gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts und des Landgerichts sowie mittelbar gegen § 362 Nr. 5 StPO gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 3 GG sowie aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

§ 362 Nr. 5 StPO sei verfassungswidrig und könne auch nicht verfassungskonform ausgelegt werden. Die Norm stelle keine bloße Grenzkorrektur des Art. 103 Abs. 3 GG dar. Die neue Vorschrift sei gegenüber den bisherigen Wiederaufnahmegründen wesensverschieden. Anlass für ihre Einführung seien nicht etwa aufgekommene Zweifelsfragen im Zusammenhang mit einem der bisherigen Wiederaufnahmegründe. Auch stelle die Neuregelung keine Fortschreibung der bisherigen Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO dar; diese beträfen die Manipulation der Beweisführung (Nr. 1-3) beziehungsweise stammten aus der Sphäre des Täters (Nr. 4), der durch das Geständnis auf den Schutz durch das Doppelverfolgungsverbot verzichte.

Die Wertung des Gesetzgebers, dass durch einen erwiesenermaßen ungerechtfertigten Freispruch der Rechtsfrieden und das Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung in mindestens ebenso starkem Maße beeinträchtigt werde wie durch die Verurteilung eines unschuldigen Angeklagten (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 9 f.), missachte die Funktion des Strafverfahrens. Zu seinen verfahrensrechtlichen Vorkehrungen gehöre, dass nur der Verurteilte nach § 359 Nr. 5 StPO neue Tatsachen oder Beweismittel geltend machen könne. Diese Besserstellung sei von Verfassungs wegen geboten und dürfe nicht durch eine gleichgewichtige Urteilskorrektur zur Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs ausgehöhlt werden. Der in den Gesetzesmaterialien angeführte Begriff der Unerträglichkeit sei emotionalisiert und unbestimmt und daher nicht geeignet, als rechtssicheres Kriterium für die Kodifizierung von Ausnahmen vom Grundsatz ne bis in idem zu dienen. Die dort zum Ausdruck kommende Annahme, die „sehr hohe Schwelle“ der dringenden Gründe für eine Verurteilung sichere die Verhältnismäßigkeit der Gesamtregelung ab, verfehle die Verdachtslage bei der Wiederaufnahme. Denn allen Urteilen liege ein Eröffnungsbeschluss und damit die Annahme des hinreichenden Tatverdachts zugrunde. Es sei rational nicht vermittelbar, dass dieser eine mindere Intensität aufweise als der dringende Tatverdacht nach § 114 Abs. 2 Nr. 4 StPO. Daher sei nicht sichergestellt, dass eine Verurteilung mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei. Schließlich verstoße die Beseitigung der Rechtskraft des freisprechenden Urteils gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Rückwirkungsverbot.

III.

Auf den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat der Senat den Vollzug des Haftbefehls des Landgerichts vom 25. Februar 2022 mit Beschluss vom 14. Juli 2022 (BVerfGE 162, 358), wiederholt mit Beschluss vom 20. Dezember 2022, unter Auflagen ausgesetzt. Mit Beschluss vom 16. Juni 2023 wurde die einstweilige Anordnung ohne Auflagen verlängert.

IV.

Der Bundestag, der Bundesrat, das Bundeskanzleramt, das Bundesministerium des Innern und für Heimat, das Bundesministerium der Justiz, die Landesregierungen, der Bundesgerichtshof, die Nebenklägerin im fachgerichtlichen Verfahren, der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, die Direktorin der Abteilung Strafrecht am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg, die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltverein e.V., der Deutsche Richterbund e.V., die Neue Richtervereinigung e.V., das Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen sowie der Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer (Arbeitskreis Alternativ-Entwurf) haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

1. Aus dem Deutschen Bundestag haben die Fraktionen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP gemeinsam (a) und die Fraktionen der SPD (b) sowie der CDU/CSU (c) jeweils gesondert Stellung genommen.

a) Nach der gemeinsamen Stellungnahme der Fraktionen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP ist § 362 Nr. 5 StPO wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 3 GG und das in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG wurzelnde Rückwirkungsverbot verfassungswidrig.

Art. 103 Abs. 3 GG verbürge die Einmaligkeit des Strafverfahrens und gewähre einen Ausgleich für die mit einem Strafverfahren verbundenen erheblichen Belastungen. In den Fällen des § 362 Nr. 5 StPO seien diese noch deutlich härter, weil mit erneuter Berichterstattung, vor allem aber mit erneuter Untersuchungshaft zu rechnen sei. Um das dem Strafprozess immanente Ungleichgewicht zwischen dem Angeklagten und den Strafverfolgungsbehörden auszugleichen, müsse die Wiederaufnahme zulasten des Angeklagten wesentlich höheren Voraussetzungen unterliegen als die Wiederaufnahme zu seinen Gunsten. Darin liege ein wesentlicher Unterschied zum Inquisitionsverfahren des gemeinen Rechts, das der materiellen Gerechtigkeit Vorrang gegenüber der Rechtskraft einräume und insbesondere Strafverfahren aus Mangel an Beweisen mit dem Institut der Lossprechung von der Instanz (absolutio ab instantia) nur vorläufig beende. Die Reichsstrafprozessordnung habe bewusst auf eine ungünstige Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel verzichtet, einerseits, um den Rechtskraftgedanken durchzusetzen, und andererseits, weil nunmehr die Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens berufen sei, dieses bei unsicherer Beweislage einzustellen (vgl. § 170 Abs. 2 StPO).

Auch aus dem historischen Hintergrund des Art. 103 Abs. 3 GG folge, dass der Gesetzgeber die Wiederaufnahme zulasten des Angeklagten nicht um den Grund neuer Tatsachen oder Beweise erweitern dürfe. Mit den grundgesetzlichen Garantien betreffend die Strafrechtspflege habe der Verfassungsgeber als Reaktion auf die Erfahrungen in der Zeit der nationalsozialistischen Willkürherrschaft ausschließen wollen, dass die Justiz für justizfremde Zwecke missbraucht werden könne. Die zur Zeit des Nationalsozialismus eingeführten Wiederaufnahmemöglichkeiten hätten aus Sicht der Rechtswissenschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit trotz ihrer Begrenzungen mangels klarer Entscheidungsmaßstäbe bewirkt, dass „der Freispruch des Richters dem Freigesprochenen die Freiheit nicht mehr verschaffte“ (unter Verweis auf Bader, Die deutschen Juristen, 1947, S. 14). Dasselbe gelte für § 362 Nr. 5 StPO.

Die Neuregelung stelle auch keine bloße Grenzkorrektur im Randbereich des Art. 103 Abs. 3 GG dar. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 56, 22 gebe nichts dafür her, dass der Gesetzgeber nach Belieben neue Wiederaufnahmegründe ergänzen dürfe. Neue Tatsachen oder Beweismittel seien kein für die Prozessrechtswissenschaft und Literatur neu auftauchender Gesichtspunkt. Dies gelte auch für neue kriminalistische Methoden. Das Wiederaufnahmerecht dürfe nicht dazu dienen, Mängel auszugleichen, die in der Struktur des gesetzlichen Verfahrens selbst wurzelten. Genau darum gehe es aber bei § 362 Nr. 5 StPO, da jedes Strafverfahren denknotwendig zeitgebunden sei, weil jedes Gericht nur auf die zum Verfahrenszeitpunkt verfügbaren Erkenntnismittel zurückgreifen könne. § 362 Nr. 5 StPO sei außerdem ein Fremdkörper im bestehenden Recht der ungünstigen Wiederaufnahme; die herkömmlichen Gründe verfolgten mitnichten Belange der materiellen Gerechtigkeit um ihrer selbst willen, sondern nähmen Angriffe auf die materielle Gerechtigkeit durch menschliches Verhalten zum Anlass für eine Wiederaufnahme. Zudem grenze § 362 Nr. 5 StPO die zur Wiederaufnahme berechtigenden neuen Tatsachen oder Beweismittel nicht ein. Damit werde für Freigesprochene die Gefahr repetitiver Strafverfolgung real. Freisprechende Urteile verlören an Autorität und könnten ihre rechtsfriedenstiftende Funktion nicht erfüllen, weil sie in den Augen der Öffentlichkeit nicht mehr als das letzte Wort gelten könnten.

Dass die Wiederaufnahme der materiellen Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfe, könne nicht als rechtfertigender Belang herangezogen werden. Naturgemäß könne erst nach dem erneuten Strafverfahren beantwortet werden, ob ein Freispruch ungerechtfertigt sei. Davor bestehe nur ein dringender Verdacht, an dem auch ein hoher Verdachtsgrad nichts ändern könne. Insbesondere bei Mordverdacht sei die Freispruchquote deutlich höher als bei dem Gesamtaufkommen aller Straftaten, wegen derer Untersuchungshaft angeordnet werde. Wiederaufgenommene Prozesse dürften zudem häufig mit einem Freispruch enden, weil durch den Zeitverlauf weitere, neben den neuen Tatsachen oder Beweismitteln erforderliche Erkenntnismittel verloren gingen, ihre Qualität abnehme oder sie nicht mehr verwertbar seien. Der Gesetzgeber habe auch versäumt, den Widerspruch zwischen § 362 Nr. 5 StPO und § 373 Abs. 1 StPO zu klären, so dass unklar bleibe, ob das Gericht nach erneuter Hauptverhandlung auf eine Verurteilung wegen der in § 362 Nr. 5 StPO genannten Delikte beschränkt wäre.

b) Die Fraktion der SPD hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. § 362 Nr. 5 StPO sei verfassungsgemäß.

Art. 103 Abs. 3 GG sei nicht verletzt. Die Norm beinhalte nach ihrem eindeutigen Wortlaut schon kein Mehrfachverfolgungs-, sondern nur ein Mehrfachbestrafungsverbot. Dieses greife bei § 362 Nr. 5 StPO mangels Bestrafung im Erstverfahren nicht. Aus der Entstehungsgeschichte ergebe sich nichts anderes. In den Beratungen des Parlamentarischen Rates fänden sich keine Hinweise darauf, dass neben der wiederholten Bestrafung auch die erneute Strafverfolgung habe erfasst werden sollen. Die gegenteilige Auffassung des Bundesgerichtshofs beruhe auf einer grundlegend falschen Prämisse, da die rechtsstaatlichen Grundlagen des Mehrfachverfolgungsverbots nicht mit denen des Doppelbestrafungsverbots identisch seien. Das Mehrfachverfolgungsverbot sei als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips in Art. 20 Abs. 3 GG zu verorten. Eine Abwägung mit anderen Grundsätzen des Rechtsstaats, hier der materiellen Gerechtigkeit, sei dann möglich.

Ungeachtet dessen sei auch Art. 103 Abs. 3 GG nicht abwägungsfest, sondern verlange nur den Ausnahmecharakter der Wiederaufnahme. Verfassungsrechtlich ausgeschlossen sei eine routinemäßige Überprüfung rechtskräftiger Freisprüche oder eine Wiederaufnahme allein aufgrund einer Neubewertung bereits vorhandener Beweismittel. § 362 Nr. 5 StPO normiere hingegen einen exzeptionellen Vorbehalt zugunsten der materiellen Gerechtigkeit in Fällen, in denen die Rechtskraft des Urteils keine Befriedungsfunktion mehr entfalte.

Die Neuregelung sei auch verhältnismäßig, da sie eine Vielzahl materieller und prozessualer Einschränkungen enthalte, die den Ausnahmecharakter der Wiederaufnahme gewährleisteten. Dies seien insbesondere die dringenden Gründe für eine Verurteilung und die Begrenzung auf besonders schwere Straftaten. Die Annäherung an die materielle Wahrheit sei ein wesentliches Instrument des deutschen Strafverfahrensrechts. Es sei hingegen nicht wie das adversatorische Verfahrensmodell von Elementen des Wettstreits und insbesondere der Vorstellung geprägt, dass der Staat nur einen Versuch zur Überführung des Täters habe. Das gegen die Neuregelung angeführte Dammbruch-Argument sei nicht auf eine valide Risikoabschätzung gestützt.

Ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot sei ebenfalls nicht gegeben. Die überragenden Ziele des Gemeinwohls, die der Gesetzgeber mit § 362 Nr. 5 StPO verfolge, könnten nur erreicht werden, wenn die Vorschrift auch auf Fälle angewendet werde, in denen die Betroffenen bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung rechtskräftig freigesprochen worden seien. Das Bundesverfassungsgericht habe 1999 eine echte Rückwirkung gebilligt, wenn die Gesetzesänderung ein zentrales Gebot der Gerechtigkeit darstelle (unter Verweis auf BVerfGE 101, 239 <268 f.>). Im Jahr 2021 habe es für die Fälle nachträglicher Vermögensabschöpfung entschieden, dass eine echte Rückwirkung zur Erweisung der Gerechtigkeit und Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung gerechtfertigt sein könne; es habe als überragenden Gemeinwohlbelang die Notwendigkeit anerkannt, einem für die Rechtstreue der Bevölkerung abträglichen Eindruck eines erheblichen Vollzugsdefizits entgegenzuwirken (unter Verweis auf BVerfGE 156, 354 <410 f. Rn. 151 f.>). Dies müsse erst recht für eine unterlassene Wiederaufnahme in einem Mordfall trotz gravierender neuer Beweise gelten.

c) Die Fraktion der CDU/CSU hält die Verfassungsbeschwerde ebenfalls für unbegründet und § 362 Nr. 5 StPO für verfassungskonform.

Der Verfassungsgeber habe sich für eine enge Fassung des Art. 103 Abs. 3 GG entschieden. Seine Kerngewährleistung verbiete eine doppelte Bestrafung und eine Strafverfolgung zum Zweck einer doppelten Bestrafung. Er umfasse jedoch kein generelles Verbot mehrfacher Strafverfolgung. Faktisch und grundrechtsdogmatisch unterscheide sich eine doppelte Bestrafung gravierend von einer erneuten Strafverfolgung. Bei ersterer gehe es um Eingriffe in Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 14 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG, bei letzterer für sich betrachtet um den Verlust an Rechtssicherheit und den Schutz des individuellen Rechtsfriedens.

Da strafprozess- und verfassungsrechtlich anerkannte Gründe für eine erneute Verfolgung existierten, könne Art. 103 Abs. 3 GG kein absolutes Verbot der Mehrfachverfolgung statuieren. Der Gewährleistungsumfang des Art. 103 Abs. 3 GG sei auch nicht mit der vorkonstitutionellen Rechtslage deckungsgleich, so dass eine Erweiterung des § 362 StPO um andere Tatsachen oder Beweismittel als das Geständnis (§ 362 Nr. 4 StPO) möglich sei. Zwar sei die Kerngewährleistung des Art. 103 Abs. 3 GG abwägungsfest. Jedoch lasse sich weder aus der Verfassung noch aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unmittelbar ableiten, dass zum Kern des von Art. 103 Abs. 3 GG verbotenen staatlichen Handelns die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen gehöre.

Für die Verhältnismäßigkeitsprüfung existiere kein Sondermaßstab wie eine Beschränkung auf Grenzkorrekturen oder ein Unerträglichkeitserfordernis. Es sei Zurückhaltung bei der verfassungsrechtlichen Maßstabsbildung geboten; insbesondere dürfe keine umstrittene strafprozessrechtsdogmatische Frage verfassungsgerichtlich entschieden werden. Das Interesse der Allgemeinheit und insbesondere der Opfer an einer als legitimes Verfassungsziel anerkannten effektiven Strafverfolgung ende nicht per se mit Eintritt der Rechtskraft. Vielmehr könnten neben den auflösenden Bedingungen der Rechtskraft nach § 362 StPO a.F. auch neue Tatsachen oder Beweismittel einen Freispruch entkräften, und das Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung könne wiederaufleben. § 362 Nr. 5 StPO sei auf Taten mit einem exzeptionellen Unrechtsgehalt beschränkt und trage dafür Sorge, dass die Befriedungsfunktion des Strafrechts nicht dadurch Schaden nehme, dass einem dringenden Verdacht nicht nachgegangen werden könne. § 362 Nr. 5 StPO sei zudem geeignet und erforderlich sowie angemessen.

Auch die rückwirkende Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO sei zulässig. Im Vergleich mit sachnahen Judikaten, namentlich der Entscheidung zur Vermögensabschöpfung (mit Verweis auf BVerfGE 156, 354), gerate die Wiederaufnahme nicht mit dem Rückwirkungsverbot in Konflikt.

2. Die Landesregierungen des Landes Niedersachsen, des Freistaats Bayern und der Länder Brandenburg und Hessen halten § 362 Nr. 5 StPO mit vergleichbaren Erwägungen für verfassungskonform und die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Die Landesregierung des Freistaats Thüringen erachtet § 362 Nr. 5 StPO wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 3 GG für verfassungswidrig.

3. Die sowohl für als auch gegen die Neuregelung vorgebrachten Gesichtspunkte sind in den Stellungnahmen des Arbeitskreises Alternativ-Entwurf (a), des Deutschen Anwaltvereins e.V. und des Organisationsbüros der Strafverteidigervereinigungen (b) sowie der Direktorin des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg (c) bestätigt und vertieft worden.

a) Der Arbeitskreis Alternativ-Entwurf hält zum Verständnis des § 362 Nr. 5 StPO fest, dass der frühere Anklagevorwurf nicht notwendig eine Katalogtat oder überhaupt eine Straftat gegen das Leben umfassen müsse. Der Maßstab, wann eine Tatsache oder ein Beweismittel als neu anzusehen sei, könne trotz einheitlicher Formulierung in § 359 Nr. 5 und § 373a StPO nicht einheitlich bestimmt werden und sollte in § 362 Nr. 5 StPO enger gefasst werden als in § 359 Nr. 5 StPO. Das Merkmal „dringende Gründe“ könne entgegen der Begründung des Gesetzentwurfs nicht sachgerecht dem dringenden Tatverdacht als Voraussetzung für den Erlass eines Haftbefehls entsprechen, sondern müsse bei aller Schwierigkeit der Quantifizierung als „große Wahrscheinlichkeit für die Verurteilung“ interpretiert werden. Fragwürdig sei, ob allein die vollendete Tat und allein die täterschaftliche Begehung erfasst seien, zumal die Anstiftung ebenso wenig verjähre wie der Versuch. Nicht stimmig erscheine die Auswahl der fünf Straftatbestände, denn die Unverjährbarkeit sei kein eindeutiger Indikator für die Unrechtsschwere. Im Fall des Mordes sei sie der zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung drohenden Verjährung von NS-Mordtaten geschuldet gewesen; die Unverjährbarkeit „gewöhnlicher“, nicht im Kontext von Makrokriminalität begangener Mordtaten sei ein unbeabsichtigter Nebeneffekt. Für Völkerstraftaten beruhe die Unverjährbarkeit auf Völkergewohnheitsrecht und erstrecke sich gemäß § 5 VStGB auf Taten recht unterschiedlichen Unrechtsgewichts. Es erscheine auch fraglich, ob es ein praktisches Bedürfnis für die Wiederaufnahme von Verfahren wegen Völkerstraftaten zur Vermeidung unerträglicher Ergebnisse gebe, da in den Verfahrensordnungen der internationalen Strafgerichte die ungünstige Wiederaufnahme propter nova wegen core crimes zumeist entweder nur eingeschränkt binnen eines Jahres nach Rechtskraft oder wie beim Internationalen Strafgerichtshof gar nicht zugelassen sei. Mit Blick auf die Rechtsfolgen sei festzuhalten, dass § 362 Nr. 5 StPO mangels einschränkender Bedingungen theoretisch zur Beseitigung jeglichen Freispruchs und zur Verurteilung wegen jeglichen Straftatbestands führen könne, sofern sich ex post der Verdacht einer Katalogtat ergebe.

Die Annahme des Gesetzgebers, es entspreche der herrschenden Meinung, dass eine Erweiterung des § 362 StPO verfassungsrechtlich zulässig sei, treffe nicht zu. Die Vereinbarkeit der Neuregelung mit Art. 103 Abs. 3 GG erscheine auch mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als zweifelhaft. Eine Unterbindung neuer Verfahren, wenn sich die Rechtslage ändere oder neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt würden, sei keine Nebenfolge, sondern der Hauptzweck der materiellen Rechtskraft. Dies erschließe sich aus der Entwicklung des Instituts der Rechtskraft im römischen Recht und gelte sowohl bei Verurteilung wie bei Freispruch. Von Bedeutung für die deutsche Rechtsentwicklung sei zudem die Einführung des Anklageprozesses nach englischem Vorbild im Zuge der französischen Revolution. Nachdem sich die Paulskirchenverfassung 1849 zum Anklageprozess bekannt habe, habe sich dieser zunehmend durchgesetzt, wenn auch das Partikularrecht bei Schaffung der Reichsstrafprozessordnung ein inhomogenes Bild geboten habe.

Wegen der Beschränkung auf Fälle des Freispruchs und der Auswahl der Straftatbestände verstoße § 362 Nr. 5 StPO insgesamt auch gegen Art. 3 Abs. 1 GG.

b) Der Deutsche Anwaltverein e.V. und das Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen sehen in der Neuregelung einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG und das allgemeine Rückwirkungsverbot. Das Bundesverfassungsgericht habe mit den Entscheidungen BVerfGE 2, 380 und 3, 248 klargestellt, dass die vorkonstitutionellen Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Angeklagten einen abschließenden Kanon bildeten, dessen Erweiterung um neue Wiederaufnahmegründe Art. 103 Abs. 3 GG entgegenstehe. Dies werde auch nicht durch die Entscheidung BVerfGE 56, 22 infrage gestellt. Dort habe das Bundesverfassungsgericht sich lediglich zum Tatbegriff verhalten und zudem nochmals verdeutlicht, dass Grenzkorrekturen nur innerhalb des bereits bestehenden Kanons der Wiederauf-nahmegründe gestattet seien. Ebenso wenig führe die Entscheidung BVerfGE 65, 377 zu einem anderen Befund. In diesem Judikat habe das Gericht lediglich auf die vorkonstitutionell vorgezeichnete Zulässigkeit der Durchbrechung der Rechtskraft von Strafbefehlen abgestellt.

c) Nach Ansicht der Direktorin des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht ist § 362 Nr. 5 StPO verfassungsgemäß. Das Recht der Opfer müsse stärker in den Vordergrund gerückt werden. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung stünden dadurch auf beiden Seiten Individualrechte, deren umfassende Berücksichtigung nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz erforderlich sei. Vor diesem Hintergrund sei die These eines absoluten, pauschalen Abwägungsverbots auf keinen Fall überzeugend. § 362 Nr. 5 StPO könne unter drei Bedingungen als angemessene Einschränkung des Art. 103 Abs. 3 GG eingestuft werden. Erstens sei durch die angeordnete Beschränkung auf Mord und Völkerrechtsverbrechen gewährleistet, dass wirklich nur Sachverhalte erfasst seien, bei denen auf beiden abzuwägenden Seiten subjektive Rechte stünden. Zweitens bedürften die „dringenden Gründe“ einer verfassungskonformen Auslegung dahin, dass eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bestehen müsse, was der Fall sei, wenn die neue Tatsache oder das neue Beweismittel die Sachverhaltsrekonstruktion oder Beweislage in grundlegender Weise ändere. Drittens müsse für die schließlich verurteilten Täter als Kompensation für das zweimal zu erduldende Strafverfahren die Strafe gemindert werden.

V.

Der Senat hat am 24. Mai 2023 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, in der die Verfahrensbeteiligten ihr bisheriges Vorbringen ergänzt und vertieft haben. Als sachkundige Auskunftspersonen sind angehört worden: die Direktorin des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg, Professorin Dr. …, Professor Dr. …, Universität Augsburg, Rechtsanwalt … für das Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen sowie Professor Dr. … als Mitglied des Bundesvorstands des WEISSER RING e.V.

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insoweit wird auf die Gründe des Beschlusses des Senats vom 14. Juli 2022 über den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verwiesen (vgl. BVerfGE 162, 358 <367 ff. Rn. 31 ff.>).

C.

Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer ist verfassungswidrig. Ihre Rechtsgrundlage, der mittelbar angegriffene § 362 Nr. 5 StPO, verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG (I.). Zudem verletzt seine Anwendung auf Freisprüche, die bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Regelung am 30. Dezember 2021 rechtskräftig waren, das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (II.).

I.

§ 362 Nr. 5 StPO verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG. Dieses grundrechtsgleiche Recht verbietet dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Grundrechtsträgers aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel (1.). Damit ist § 362 Nr. 5 StPO nicht vereinbar (2.).

1. Art. 103 Abs. 3 GG enthält ein Mehrfachverfolgungsverbot auch gegenüber dem Gesetzgeber (a). Diese verfassungsrechtliche Entscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit ist abwägungsfest und eröffnet dem Gesetzgeber bei der Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens keinen Spielraum (b). Als abwägungsfestes Verbot ist Art. 103 Abs. 3 GG eng auszulegen; soweit sein Schutzgehalt reicht, verbietet er dem Gesetzgeber die Eröffnung einer Wiederaufnahmemöglichkeit zum Nachteil des Grundrechtsträgers aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel (c).

a) Art. 103 Abs. 3 GG gewährt einem Verurteilten oder Freigesprochenen ein subjektives grundrechtsgleiches Recht, das zunächst unmittelbar an die Strafgerichte und Strafverfolgungsorgane gerichtet ist (aa). Die gleiche Wirkung entfaltet Art. 103 Abs. 3 GG gegenüber dem Gesetzgeber, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft (bb).

aa) Der Grundsatz, dass niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden darf (ne bis in idem), beschreibt das Prinzip des Strafklageverbrauchs, das Strafgerichte und Strafverfolgungsorgane als Verfahrenshindernis von Amts wegen in jedem Stadium des Strafverfahrens zu beachten haben (vgl. BVerfGE 56, 22 <32>; 162, 358 <371 f. Rn. 46>). Soweit dieser Grundsatz eine erneute Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze betrifft, ist er durch Art. 103 Abs. 3 GG zum verfassungsrechtlichen Verbot erhoben worden (vgl. BVerfGE 3, 248 <251 f.>; 12, 62 <66>; 23, 191 <202>; 56, 22 <32>). Dabei gestaltet Art. 103 Abs. 3 GG das zunächst abstrakte Prinzip des Strafklageverbrauchs als grundrechtsgleiches Recht aus. Er gewährt dem Einzelnen Schutz, den dieser als individuelle Rechtsposition geltend machen kann (vgl. BVerfGE 56, 22 <32>; 162, 358 <371 Rn. 46>; BVerfGK 13, 7 <11>; vgl. auch bereits BVerfGE 3, 248 <252>).

Dieser Schutz kommt Verurteilten wie Freigesprochenen gleichermaßen zu (1) und steht bereits der erneuten Strafverfolgung entgegen (2).

(1) Träger des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 103 Abs. 3 GG sind nicht nur Verurteilte, sondern auch Freigesprochene (vgl. BVerfGE 12, 62 <66>; 162, 358 <371 Rn. 46>; BVerfGK 9, 22 <26>).

Der Wortlaut des Art. 103 Abs. 3 GG ließe zwar eine Auslegung dahingehend zu, dass diese Bestimmung nur nach einer vorangegangenen Verurteilung greift. Eine solche Beschränkung des grundrechtsgleichen Rechts auf Verurteilte hat jedoch weder der historische Verfassungsgeber vorgesehen (a), noch wird Art. 103 Abs. 3 GG in der Praxis der Strafgerichte und Strafverfolgungsbehörden in diesem Sinne verstanden (b). Sie widerspräche zudem dem Zweck des grundrechtsgleichen Rechts (c).

(a) Die Entstehungsgeschichte der Norm streitet für die Einbeziehung des Freispruchs in den Schutzgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG.

Die Materialien lassen erkennen, dass im Parlamentarischen Rat Einigkeit dahingehend bestand, dass die Aufnahme des Grundsatzes ne bis in idem in das Grundgesetz Schutz bereits vor der mehrfachen Verfolgung und damit auch nach Freisprüchen bieten sollte. Dem steht nicht entgegen, dass sich der Parlamentarische Rat letztlich für die Formulierung entschied, dass eine „mehrfache Bestrafung“ verboten sein solle.

Am Ende der Beratung in der 8. Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege äußerte der Ausschussvorsitzende Zinn sich zwar ablehnend zu dem ursprünglichen Formulierungsvorschlag „Niemand darf mehrmals strafrechtlich verfolgt werden“. Den Unterschied zwischen „bestrafen“ und „verfolgen“ thematisierte aber weder der Vorschlag noch die Erwiderung. Zinn wandte sich insoweit vielmehr allein gegen die Formulierung „strafrechtlich“, die er anstelle von „aufgrund der allgemeinen Strafgesetze“ für zu weitreichend hielt (vgl. Wortprotokoll der 8. Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege vom 7. Dezember 1948, abgedruckt in: Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat, Bd. 13/2, 2002, S. 1449 <1472>). Damit bezog er sich auf die zuvor debattierte Begrenzung des grundgesetzlichen Verbotes auf Kriminalstrafen und das Bestreben, eine Formulierung zu finden, nach der sonstige Strafen des Disziplinar-, Ordnungs-, Polizei- oder auch des Steuerrechts weiter zulässig bleiben sollten (vgl. Wortprotokolle der 7. und 8. Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege vom 6. und 7. Dezember 1948, abgedruckt in: Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat, Bd. 13/2, 2002, S. 1347 <1433 ff.> und S. 1449 <1465 f.>). Auch zu Beginn der 8. Ausschusssitzung hatte Zinn nicht zwischen „bestrafen“ und „verfolgen“ differenziert, vielmehr - insoweit unerwidert - betont, Grundgedanke des in Rede stehenden Grundsatzes ne bis in idem sei, „daß niemand wegen derselben Straftat wiederholt verfolgt werden darf“ (Wortprotokoll der 8. Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege vom 7. Dezember 1948, abgedruckt in: Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat, Bd. 13/2, 2002, S. 1449 <1465>). Für die Einbeziehung des Freispruchs in das Verbot des Art. 103 Abs. 3 GG spricht auch die Erörterung in der vorangehenden 7. Ausschusssitzung. Zur Darstellung der zahlreichen Problemlagen zwischen Kriminalstrafen, die vom grundgesetzlichen Verbot erfasst sein sollten, und anderen Strafen, die möglich bleiben sollten, wurde gerade ein Beispiel mit strafrechtlichem Freispruch gebildet (vgl. Wortprotokoll der 7. Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege vom 6. Dezember 1948, abgedruckt in: Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat, Bd. 13/2, 2002, S. 1347 <1436>).

Der historische Hintergrund nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft stützt dieses Verständnis. Die Aufnahme des Grundsatzes ne bis in idem in das Grundgesetz sollte der uferlosen Durchbrechung des Prinzips der Rechtskraft entgegenwirken, die in der nationalsozialistischen Zeit Platz gegriffen hatte (vgl. Entwurf eines Grundgesetzes des Verfassungskonvents der Ministerpräsidentenkonferenz der westlichen Besatzungszonen auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948 - Darstellender Teil, S. 56; Wortprotokoll der 8. Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege vom 7. Dezember 1948, abgedruckt in: Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat, Bd. 13/2, 2002, S. 1449 <1465 ff.>; BVerfGE 56, 22 <32>; BGHSt 5, 323 <329 f.>). Diese Durchbrechungen richteten sich gerade (auch) gegen Freigesprochene. Die Willkürherrschaft des Nationalsozialismus war namentlich dadurch gekennzeichnet, dass „der Freispruch des Richters dem Freigesprochenen die Freiheit nicht mehr verschaffte“ (vgl. Bader, Die deutschen Juristen, 1947, S. 14). Auch wenn in den Beratungen des Parlamentarischen Rates ausdrücklich nur die sogenannte Urteilsergänzung erwähnt wurde (vgl. Wortprotokoll der 8. Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege vom 7. Dezember 1948, abgedruckt in: Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat, Bd. 13/2, 2002, S. 1449 <1472>), bestehen keine Anhaltspunkte dafür, das verfassungsrechtliche Verbot der Rechtskraftdurchbrechung auf diese Variante zu beschränken (vgl. BGHSt 5, 323 <330>).

Dem Verfassungsgeber stand vielmehr der Grundsatz ne bis in idem in seiner breiten, maßgeblich durch das Reichsgericht geprägten Gestalt vor Augen (vgl. BVerfGE 3, 248 <252>; 9, 89 <95 f.>; 12, 62 <66>; 56, 22 <27 f., 34>). Die Reichsstrafprozessordnung von 1877 und insbesondere auch die Weimarer Reichsverfassung enthielten zwar noch keine ausdrückliche Verankerung des Grundsatzes ne bis in idem, setzten dessen Existenz aber als selbstverständlich voraus (vgl. BVerfGE 3, 248 <251>; BGHSt 5, 323 <328>). Dementsprechend ging das Reichsgericht von Anfang an von der Geltung dieses Grundsatzes aus, den es als Mehrfachverfolgungsverbot verstand (vgl. RGSt 2, 347 <348>; 56, 161 <166>; 70, 26 <30>; 72, 99 <102>; BVerfGE 3, 248 <251>) und auch nach Freisprüchen anwandte (vgl. RGSt 2, 347 <348>). Auf diesen vorkonstitutionellen Stand des Prozessrechts und seine Auslegung durch die herrschende Rechtsprechung nimmt Art. 103 Abs. 3 GG Bezug. Der Grundsatz ne bis in idem sollte insoweit durch die Aufnahme in Art. 103 Abs. 3 GG inhaltlich nicht verändert werden (vgl. BVerfGE 3, 248 <252>; 9, 89 <96>; 12, 62 <66>; 23, 191 <202 f.>; 56, 22 <27 f., 34>).

Schließlich hatten zum Zeitpunkt der Beratungen des Parlamentarischen Rates die meisten Landesverfassungen den Grundsatz ne bis in idem aufgenommen und dabei in ähnlicher Weise gefasst (vgl. Art. 104 Abs. 2 der Verfassung des Freistaats Bayern vom 2. Dezember 1946; Art. 4 Abs. 3 der Verfassung für Württemberg-Baden vom 28. November 1946; Art. 17 Abs. 3 der Verfassung für Württemberg-Hohenzollern vom 18. Mai 1947; Art. 7 Abs. 2 der Verfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947; Art. 22 Abs. 3 der Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946; Art. 6 Abs. 4 Satz 1 der Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947). Es ist nicht erkennbar, dass dabei der Ausschluss von Freisprüchen in Betracht gezogen worden wäre. Auch deshalb ist nicht anzunehmen, dass der Parlamentarische Rat den grundgesetzlichen Schutz auf Verurteilte beschränken wollte.

(b) Die strafrechtliche Praxis unter dem Grundgesetz versteht Art. 103 Abs. 3 GG als verfassungsrechtliche Verankerung des Grundsatzes ne bis in idem und wendet ihn auf Schuld- und Freisprüche gleichermaßen an, ohne dies auch nur im Ansatz zu problematisieren. Das verfassungsrechtliche Schrifttum übernimmt dieses Verständnis als Schutzgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG.

Der in Art. 103 Abs. 3 GG verankerte Grundsatz ne bis in idem ist strafrechtshistorisch eng mit der Unschuldsvermutung verknüpft (vgl. Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 176 f. und 231; Nolte, in: Merten/Papier, HGR, Bd. V, 2013, § 135 Rn. 4 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 1). Er versteht sich als in der Aufklärung wiedergewonnenes Gegenprinzip zum Inquisitionsprozess des gemeinen Rechts (vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 1). Dieser war von einem absoluten Wahrheitsanspruch einerseits und der bloßen Inquisitenstellung des Einzelnen andererseits geprägt. Dies zeigte sich insbesondere in der verfahrensrechtlichen Möglichkeit der absolutio ab instantia, die lediglich eine vorläufige Einstellung des Verfahrens bedeutete und grundsätzlich bei neuen Erkenntnissen die jederzeitige Wiederaufnahme erlaubte. Demgegenüber bestand eine zentrale Bedeutung des Anklageprozesses darin, die prinzipielle Unendlichkeit des gemeinrechtlichen Inquisitionsgrundsatzes abzulösen und ein Strafverfahren unbedingt zum Abschluss zu bringen. Gerade bei Unerweislichkeit der Schuld sollte der Strafprozess nicht nur vorläufig eingestellt, sondern dauerhaft abgeschlossen werden. Der Freispruch erhielt materiellen Gehalt, indem er „bestätigte“, dass die den Prozess leitende Unschuldsvermutung nicht widerlegt wurde. Der Grundsatz ne bis in idem zielt daher insbesondere auf den Schutz des - aus Mangel an Beweisen - Freigesprochenen ab. Er sichert die vom Rechtsstaat getroffene „Fundamentalentscheidung“ (vgl. Leitmeier, StV 2021, S. 341 <343>), bei nicht behebbaren Zweifeln an der Schuld nach dem Grundsatz in dubio pro reo zu verfahren und dabei zugunsten des tatsächlich Unschuldigen in Kauf zu nehmen, sich auch - zugunsten eines tatsächlich Schuldigen - irren zu können (vgl. Leitmeier, StV 2021, S. 341 <343>; Swoboda, HRRS 2009, S. 188 <196 f.>). Deshalb ist in der strafrechtlichen Praxis der Grundsatz ne bis in idem stets auch auf Freisprüche bezogen worden (vgl. BGHSt 5, 323 <330>; 38, 37 <42 f.>; BGH, NStZ-RR 2004, S. 238 <240>; NStZ-RR 2016, S. 47 <49>).

(c) Das den Freispruch einschließende Verständnis des Art. 103 Abs. 3 GG trägt seinem grundrechtsgleichen Charakter Rechnung. Jedes Strafverfahren stellt unabhängig von seinem Ausgang eine erhebliche Belastung für den Einzelnen dar. Zweck des grundrechtsgleichen Schutzes ist die Zusicherung, dass jeder wegen derselben Tat diesen Belastungen nur einmal ausgesetzt sein soll (vgl. BVerfGE 56, 22 <31>; BVerfGK 4, 49 <53>). Art. 103 Abs. 3 GG bezweckt die Verhinderung von Grundrechtseingriffen durch das Strafverfahren, verbürgt also die „Einmaligkeit der Strafverfolgung“ (vgl. BGHSt 38, 54 <57>; Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 133; Schmidt-Aßmann, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 301 <Dez. 1992>), nicht nur die „Einmaligkeit der Sühne“. Der Einzelne soll darauf vertrauen können, wegen eines konkreten individualisierten Sachverhalts nicht erneut vom Staat belangt und mit den Belastungen eines Strafverfahrens überzogen zu werden (vgl. BVerfGE 56, 22 <31>).

(2) Auch aus Entstehungsgeschichte und Zweckrichtung ergibt sich, dass Art. 103 Abs. 3 GG über seinen Wortlaut hinaus nicht allein vor einer Verurteilung, sondern auch bereits vor allen Maßnahmen schützt, deren Zweck die mögliche Verurteilung ist (vgl. BVerfGE 12, 62 <66>; 23, 191 <202>; 65, 377 <381>; 162, 358 <371 Rn. 46>; BVerfGK 4, 49 <52>; 13, 7 <11>). Art. 103 Abs. 3 GG enthält ein Mehrfachverfolgungsverbot, kein bloßes Mehrfachbestrafungsverbot.

Aufgabe des Strafprozesses ist es, den Strafanspruch des Staates um des Schutzes der Rechtsgüter Einzelner und der Allgemeinheit willen in einem justizförmigen Verfahren durchzusetzen und hierdurch einen gerechten Schuldausgleich zu bewirken (vgl. BVerfGE 133, 168 <198 f. Rn. 55 f.>). Darf der Täter aber nicht erneut bestraft werden, kann ein gleichwohl geführtes Strafverfahren diese Funktion nicht erfüllen. Ohne die Möglichkeit einer Bestrafung entfällt die Legitimationsgrundlage dafür, den Einzelnen mit den Belastungen eines Strafverfahrens zu überziehen. Ein um seiner selbst willen geführtes Strafverfahren, an dessen Ende kein Strafausspruch erfolgen darf, würde den Einzelnen zum bloßen Objekt der Strafverfolgung herabsetzen (vgl. BVerfGE 133, 168 <197 ff. Rn. 53 ff.>). Strafprozessrechtlich stellt Art. 103 Abs. 3 GG deshalb ein Verfahrenshindernis dar, das als solches bereits der erneuten Einleitung eines Strafverfahrens entgegensteht (vgl. BVerfGE 56, 22 <32>; 162, 358 <371 f. Rn. 46>; BVerfGK 13, 7 <11>).

bb) Gegenüber dem Gesetzgeber entfaltet Art. 103 Abs. 3 GG keine andere Wirkung, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft (vgl. BVerfGE 15, 303 <307>).

Der Parlamentarische Rat hatte bei der Entscheidung für Art. 103 Abs. 3 GG nicht nur die Urteile und Verfolgungsmaßnahmen der nationalsozialistischen Willkürherrschaft im Blick, sondern auch die ausdrücklich geschaffenen Rechtsbehelfe zur Durchbrechung der Rechtskraft von Strafurteilen (vgl. Entwurf eines Grundgesetzes des Verfassungskonvents der Ministerpräsidentenkonferenz der westlichen Besatzungszonen auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948 - Darstellender Teil, S. 56; Wortprotokoll der 8. Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege vom 7. Dezember 1948, abgedruckt in: Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat, Bd. 13/2, 2002, S. 1449 <1465 ff.>; BVerfGE 56, 22 <32>). Art. 103 Abs. 3 GG sollte als grundrechtsgleiches Recht daher ebenso wie die Grundrechte des ersten Abschnitts des Grundgesetzes gemäß Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar gerade auch den Gesetzgeber binden.

Das in Art. 103 Abs. 3 GG gegenüber den Strafverfolgungsorganen statuierte Verbot mehrfacher Strafverfolgung wäre praktisch wirkungslos, wenn die einfachgesetzliche Ausgestaltung als Wiederaufnahmeverfahren eine erneute Strafverfolgung und gegebenenfalls Verurteilung ermöglichen könnte (vgl. BVerfGE 15, 303 <307>; BGHSt 5, 323 <331>; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 44 <Nov. 2018>). Ungeachtet der strafprozessrechtlichen Frage, ob ein Urteil bereits mit der Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag aufgehoben oder ob nur der aus dem ersten Urteil folgende Strafklageverbrauch beseitigt wird (vgl. hierzu etwa Schuster, in: Löwe/Rosenberg, StPO, Bd. 9/1, 27. Aufl. 2022, § 370 Rn. 31 ff.), ermöglicht das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme die erneute Strafverfolgung wegen derselben Tat unter Durchbrechung der Rechtskraft eines früheren Urteils. Soll Art. 103 Abs. 3 GG als individuelles grundrechtsgleiches Recht vor einer erneuten Verurteilung gerade auch wegen der Belastungen schützen, die mit einer erneuten Strafverfolgung verbunden sind, muss es auch die gesetzlichen Regelungen erfassen, die dies strafprozessual ermöglichen (vgl. BGHSt 5, 323 <331>).

b) Das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit (aa). Sie steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen (bb), so dass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts insoweit kein Gestaltungsspielraum zukommt (cc).

aa) Art. 103 Abs. 3 GG gewährt dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit.

Die Figur der Rechtskraft prägt alle rechtsstaatlichen Entscheidungen (vgl. BVerfGE 2, 380 <392 ff., 403 ff.>; 60, 253 <269 ff.>). Sie entfaltet insbesondere dann ihre Bedeutung, wenn die Sachentscheidung materiell-rechtlich unrichtig ist oder durch Veränderungen der tatsächlichen Grundlagen unrichtig geworden ist (vgl. BVerfGE 2, 380 <403 ff.>; 20, 230 <235>; 35, 41 <58>; 117, 302 <315>). Für Entscheidungen der Exekutive bestehen unterschiedlich ausgeprägte Möglichkeiten der nachträglichen Aufhebung oder Änderung, um den Einklang zwischen Verwaltungsentscheidung und gesetzlicher Grundlage (wieder) herzustellen (vgl. etwa §§ 48 ff., § 51 Verwaltungsverfahrensgesetz; §§ 44 ff. Sozialgesetzbuch X: Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz). Unabhängig davon kann die Rechtskraft staatlicher Akte, insbesondere von Gerichtsentscheidungen, im Interesse des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit grundsätzlich ungeachtet ihrer inhaltlichen Richtigkeit nicht mehr durchbrochen werden (vgl. BVerfGE 2, 380 <403 ff.>). Wirkt die Rechtskraft einer Entscheidung zugunsten eines Adressaten, wird ihre Bedeutung durch den Aspekt des Vertrauensschutzes verstärkt (vgl. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 20 Rn. 304). In diesen Fällen steht sie im Spannungsverhältnis zum Gebot materialer Richtigkeit und Gerechtigkeit (vgl. BVerfGE 22, 322 <329>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. September 2006 - 2 BvR 123/06 u.a. -, juris, Rn. 17; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 13. Februar 2019 - 2 BvR 2136/17 -, Rn. 20).

Da sowohl das Prinzip der materialen Gerechtigkeit als auch das Prinzip der Rechtssicherheit mit Verfassungsrang ausgestattet sind, ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, welchem der beiden Prinzipien im konkreten Fall der Vorzug gegeben werden soll (vgl. BVerfGE 3, 225 <237>; 15, 313 <319>; 22, 322 <329>; 131, 20 <46 f.> m.w.N.). Etwas anderes gilt jedoch, wenn das Grundgesetz diese Entscheidung bereits selbst getroffen hat (vgl. für Art. 117 Abs. 1 GG BVerfGE 3, 225 <238 f.>). Eine solche Entscheidung beinhaltet Art. 103 Abs. 3 GG. Indem Art. 103 Abs. 3 GG bestimmt, dass wegen derselben Tat keine erneute Bestrafung erfolgen darf, hat das Grundgesetz für den Anwendungsbereich dieser Bestimmung, mithin den Bereich strafgerichtlicher Urteile, bereits entschieden, dass dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit zukommt.

bb) Die in Art. 103 Abs. 3 GG zugunsten der Rechtssicherheit getroffene Vorrangentscheidung ist absolut. Damit ist das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG abwägungsfest. Zwar folgt dies noch nicht zwingend aus dessen Wortlaut (1) oder Entstehungsgeschichte (2). Jedoch ergibt sich aus der Systematik (3) und dem Sinn und Zweck (4) der Bestimmung, dass diese Entscheidung des Grundgesetzes strikte Geltung beansprucht. Nichts anderes folgt aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (5).

(1) Der ebenso knappe wie strikte Wortlaut spricht zunächst dafür, dass der von Art. 103 Abs. 3 GG gewährte Schutz absolut ist (vgl. Sodan, in: ders., GG, 4. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 31; Neumann, in: Festschrift für Heike Jung, 2007, S. 655 <661>). Allerdings weisen auch einige andere Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte keine ausdrücklichen Vorbehalte oder Einschränkungen auf. Gleichwohl ist allgemein anerkannt, dass sie verfassungsimmanenten Schranken unterliegen.

(2) Auch die Entstehungsgeschichte lässt unterschiedliche Folgerungen zu. Einerseits erfolgte die explizite Verankerung des Grundsatzes ne bis in idem in Art. 103 Abs. 3 GG als Reaktion auf die Unterordnung der Rechtskraft unter andere Ziele in der nationalsozialistischen Zeit (vgl. oben Rn. 64). Andererseits nimmt Art. 103 Abs. 3 GG auf den bei Inkrafttreten des Grundgesetzes geltenden Stand des Prozessrechts und seiner Auslegung durch die herrschende Rechtsprechung Bezug (vgl. oben Rn. 65). In der Rechtsprechung des Reichsgerichts kam dem Grundsatz ne bis in idem eine der Auslegung der konkreten Prozessrechtsnormen dienende Funktion zu. Er wurde dabei in unterschiedlichem Umfang als verwirklicht oder eingeschränkt angesehen (vgl. RGSt 2, 211 ff.; 2, 347 ff.; 4, 243 ff.; 9, 344 ff.; 51, 241 ff.; 72, 99 ff.).

(3) Bei systematischer Betrachtung erscheint Art. 103 Abs. 3 GG jedoch abwägungsfest.

Art. 103 Abs. 3 GG stellt eine besondere Ausprägung des im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Vertrauensschutzes dar, die ausschließlich für strafrechtliche Verfahren gilt. Als Sonderregelung mit eigenständigem Gehalt geht Art. 103 Abs. 3 GG in seinem Schutzgehalt über die allgemeinen Prinzipien hinaus, die ihrerseits bereits das Vertrauen in eine rechtskräftige Entscheidung schützen und eine übermäßige Beeinträchtigung der Interessen des Einzelnen verhindern. Dieser weiterreichende Vertrauensschutz beruht darauf, dass ihm unbedingter Vorrang gegenüber den grundsätzlich berechtigten Korrekturinteressen zukommt, die der Gesetzgeber ansonsten wie in anderen Sachbereichen auch (vgl. oben Rn. 77) berücksichtigen könnte.

Art. 103 Abs. 3 GG korrespondiert in Bezug auf diese Unbedingtheit mit Art. 103 Abs. 2 GG. Auch diese Norm stellt eine auf das Strafrecht beschränkte Sonderregelung zu allgemeinen verfassungsrechtlichen Prinzipien dar. Als Spezialfall des allgemeinen Rückwirkungsverbots und anders als dieses verbietet Art. 103 Abs. 2 GG dem Strafgesetzgeber ausnahmslos, rückwirkende Strafgesetze zu erlassen. Dieses besondere Rückwirkungsverbot wirkt somit absolut und ist einer Abwägung nicht zugänglich (vgl. BVerfGE 30, 367 <385>; 95, 96 <132>; 109, 133 <171 f.>). Ein gleichlaufendes Verständnis des Art. 103 Abs. 3 GG als abwägungsfestes Recht komplementiert diesen materiell-rechtlichen Schutz des Einzelnen im Bereich des Strafrechts auf der verfahrensrechtlichen Ebene.

Art. 103 Abs. 2 und 3 GG stehen den Freiheitsrechten nahe, die nicht nur innerhalb eines Strafverfahrens zu beachten sind, sondern den Grundrechtsträger bereits vor einem Strafverfahren schützen, ohne dass es zur Verwirklichung dieses Schutzes noch einer gesetzlichen Umsetzung bedürfte. Darin unterscheiden sich Art. 103 Abs. 2 und 3 GG von den Rechten, die - wie beispielsweise Art. 103 Abs. 1 GG - auf die Gewährleistung von Rechtsschutz gerichtet sind. Der für alle Verfahrensarten geltende Anspruch auf rechtliches Gehör bedarf einer verfahrensrechtlichen Ausgestaltung durch den Gesetzgeber (vgl. BVerfGE 75, 302 <313 f.>; 89, 28 <35 f.>; 119, 292 <296>).

Entsprechendes gilt auch für andere in der Verfassung wurzelnde Rechte im Strafverfahren, die im Gegensatz zu Art. 103 Abs. 3 GG keine ausdrückliche Verankerung im Grundgesetz erfahren haben. Dies sind namentlich die Unschuldsvermutung (vgl. BVerfGE 38, 105 <111>; 122, 248 <271 f.>; 133, 168 <200 f. Rn. 59>) und das Recht auf ein faires Verfahren (vgl. BVerfGE 38, 105 <111>; 122, 248 <271 f.>; 133, 168 <200 f. Rn. 59>) einschließlich seiner Bestandteile wie dem Grundsatz nemo tenetur (vgl. BVerfGE 38, 105 <113 f.>; 55, 144 <150 f.>; 56, 37 <43>; 110, 1 <31>; 133, 168 <201 Rn. 60>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Januar 2022 - 2 BvR 2462/18 -, Rn. 50 ff.), der Beweisregel in dubio pro reo (vgl. BVerfGK 1, 145 <149>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 2007 - 2 BvR 965/07 -, Rn. 3; vgl. auch BVerfGE 9, 167 <169>; 35, 311 <320>; 74, 358 <371>; 133, 168 <199 Rn. 56>; 140, 317 <345 Rn. 57>) und dem Grundsatz der Waffengleichheit (vgl. BVerfGE 110, 226 <253>; 133, 168 <200 Rn. 59>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 32). Sie sichern die Subjektstellung des Beschuldigten während des Verfahrens und sind damit naturgemäß in ihrer Reichweite von der Ausgestaltung des Verfahrens selbst abhängig. Deshalb enthalten sie keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- und Verbote, sondern bedürfen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das Verfahrensrecht der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten, vornehmlich durch den Gesetzgeber (vgl. BVerfGE 74, 358 <371 f.>; 133, 168 <202 Rn. 61> m.w.N.). Demgegenüber will Art. 103 Abs. 3 GG nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens verhindern, dass der Betroffene erneut mit einem solchen Verfahren belastet und in die Rolle des Beschuldigten zurückversetzt wird.

(4) Auch Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG sprechen dafür, dass die Norm absolute Geltung beansprucht. Sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Zweckrichtung des Art. 103 Abs. 3 GG verlangen die verbindliche Entscheidung zugunsten der Rechtssicherheit. Dies lässt eine Relativierung seines Schutzes nicht zu.

Der Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG als Individualrecht besteht zunächst darin, den staatlichen Strafanspruch um der Rechtssicherheit des Einzelnen willen zu begrenzen (vgl. BVerfGE 56, 22 <31 f.>; vgl. auch bereits BVerfGE 3, 248 <253 f.>). Der Einzelne soll darauf vertrauen dürfen, dass er nach einem Urteil wegen des abgeurteilten Sachverhalts nicht nochmals belangt werden kann (vgl. BVerfGE 56, 22 <31>). Das grundrechtsgleiche Recht dient damit - ebenso wie Art. 103 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 109, 133 <171 f.>) - zugleich der Freiheit und der Menschenwürde des Betroffenen. Es verhindert, dass der Einzelne - gegebenenfalls im Rahmen eines Prozesses „ad infinitum“ (vgl. Marxen/Tiemann, ZIS 2008, S. 188 <190>; Arnemann, NJW-Spezial 2021, S. 440) - zum bloßen Objekt der Ermittlung der materiellen Wahrheit herabgestuft wird. Deshalb unterliegt die Strafverfolgung einem geregelten Verfahren, nach dessen Abschluss mittels eines Sachurteils eine weitere Strafverfolgung wegen derselben Tat ausscheidet. Art. 103 Abs. 3 GG beschränkt damit die Durchsetzung des Legalitätsprinzips (vgl. BVerfGE 56, 22 <31 f.>). Diese Selbstbeschränkung des Staates folgt dem rechtsstaatlichen Grundprinzip, mit der Rechtskraft einer Entscheidung Rechtssicherheit des Einzelnen zu schaffen, und konkretisiert es für das Strafrecht als einen der intensivsten Bereiche staatlicher Macht. Wäre dem Gesetzgeber vorbehalten, die Abwägung zwischen Rechtssicherheit und staatlichem Strafanspruch anders zu treffen, könnte Art. 103 Abs. 3 GG selbst das Vertrauen des Angeklagten in den Bestand des in seiner Sache ergangenen Strafurteils und damit Rechtssicherheit für den Einzelnen nicht begründen.

Daneben dient die Rechtskraft einer Entscheidung auch dem Rechtsfrieden (vgl. BVerfGE 2, 380 <403>; 56, 22 <31>; 115, 51 <62>). Es besteht ein vom Einzelnen unabhängiges Bedürfnis der Gesellschaft an einer endgültigen Feststellung der Rechtslage (vgl. Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, S. 346 ff. m.w.N.). Daher hat sich die moderne rechtsstaatliche Ordnung gegen die Erreichung des Ideals absoluter Wahrheit und für die in einem rechtsförmigen Verfahren festzustellende, stets nur relative Wahrheit entschieden. Auch das Strafrecht gebietet keine Erforschung der Wahrheit „um jeden Preis“ (vgl. BGHSt 14, 358 <365>; 31, 304 <309>). Insoweit sichert die Rechtskraft den dauerhaften Geltungsanspruch gerichtlicher Entscheidungen. Rechtsmittel tragen dem Umstand Rechnung, dass jede Entscheidung fehlerhaft und daher korrekturbedürftig sein kann; sie erhöhen damit die Richtigkeitsgewähr. Die Möglichkeit, ein Verfahren durch Rechtsmittel unaufhörlich weiterzuführen, beziehungsweise die Möglichkeit der Wiederaufnahme, es von Neuem zu beginnen, würde jedoch fortwährende Zweifel an der Richtigkeit des Urteilsspruchs zulassen und damit das Vertrauen in die Effektivität der Streitentscheidung durch die Rechtsprechung beeinträchtigen.

(5) Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt das Verständnis des Art. 103 Abs. 3 GG als absolutes und abwägungsfestes Verbot.

Das Bundesverfassungsgericht hat bisher Art. 103 Abs. 3 GG nicht mit anderen Verfassungswerten abgewogen und auch nicht zum Ausdruck gebracht, dass das Schutzgut des Art. 103 Abs. 3 GG mit anderen Verfassungsgütern abgewogen werden könnte. Vielmehr befassen sich die zu dieser Verfassungsnorm ergangenen Entscheidungen mit der Bestimmung ihres Schutzgehalts. Während Ausgangspunkt hierfür das vorgefundene Gesamtbild des Strafprozessrechts ist (vgl. BVerfGE 3, 248 <252>; 9, 89 <96>; 12, 62 <66>; 65, 377 <384>), werden strafrechtsdogmatische Weiterentwicklungen nicht von vornherein ausgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht hat sie zum Anlass für korrespondierende „Grenzkorrekturen“ des Schutzgehalts des Art. 103 Abs. 3 GG genommen (vgl. BVerfGE 56, 22 <34>). Diese Grenzkorrekturen nimmt es selbst vor, so dass angegriffene Entscheidungen verfassungsrechtlich vollständig an Art. 103 Abs. 3 GG zu überprüfen sind (vgl. BVerfGE 56, 22 <27 ff.>).

Auch die Formulierung, die vorkonstitutionelle Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem sei als „immanente Schranke“ des Art. 103 Abs. 3 GG anzusehen (vgl. BVerfGE 3, 248 <252 f.>), stellt die absolute Wirkung der Norm nicht in Abrede. Sie bringt vielmehr zum Ausdruck, dass mit Art. 103 Abs. 3 GG eine vornehmlich durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts normativ vorgeprägte prozessrechtliche Garantie in das Grundgesetz aufgenommen wurde und sich daher der Gehalt dieser Bestimmung aus dieser Vorprägung erschließt (vgl. BVerfGE 3, 248 <251>). Dem Einwand, dass damit eine „Versteinerung“ des Gewährleistungsgehalts des Art. 103 Abs. 3 GG drohe (vgl. Zehetgruber, JR 2020, S. 157 <160>), begegnet der Zweite Senat durch ein enges Verständnis des Schutzgehalts des Art. 103 Abs. 3 GG, das lediglich Grenzkorrekturen im Randbereich erlaubt (vgl. BVerfGE 56, 22 <34>).

cc) Auch gegenüber dem das Wiederaufnahmerecht gestaltenden Gesetzgeber, der ebenso wie die Strafverfolgungsorgane dem Normbefehl des Art. 103 Abs. 3 GG unterliegt (vgl. oben Rn. 72 ff.), stellt Art. 103 Abs. 3 GG ein absolutes und abwägungsfestes Verbot dar. Zwar obliegt dem Gesetzgeber grundsätzlich die Ausgestaltung der aus dem Rechtsstaatprinzip folgenden Grundsätze. Er kann dabei im Regelfall zwischen dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit abwägen. Bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts kommt ihm jedoch ein Gestaltungsspielraum nur zu, soweit nicht das abwägungsfeste Verbot des Art. 103 Abs. 3 GG greift.

c) Als abwägungsfestes Verbot ist das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG in Abgrenzung zu den allgemeinen rechtsstaatlichen Garantien eng auszulegen (aa). Soweit dieser Schutzgehalt reicht, ist dem Gesetzgeber die Eröffnung einer Wiederaufnahme zum Nachteil des Grundrechtsträgers aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel versagt (bb).

aa) Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen (1). Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze (2), wenn wegen derselben Tat (3) bereits durch ein deutsches Gericht (4) ein rechtskräftiges Strafurteil (5) ergangen ist.

(1) Die Bestimmung des Art. 103 Abs. 3 GG ist auch im Hinblick auf seinen engen Schutzgehalt mit Art. 103 Abs. 2 GG vergleichbar. Art. 103 Abs. 2 GG enthält ein absolutes und striktes Verbot, das der Abwägung nicht zugänglich ist (vgl. BVerfGE 30, 367 <385>; 95, 96 <132>; 109, 133 <171 f.>). Für den Bereich des materiellen Strafrechts fasst Art. 103 Abs. 2 GG Einzelausprägungen des Rechtsstaatsprinzips enger. Dies gilt insbesondere für den Gesetzesvorbehalt (vgl. BVerfGE 47, 109 <120>; 75, 329 <340 ff.>; 78, 374 <381 f.>; 87, 399 <411>; 126, 170 <194 f.>), das Bestimmtheitsgebot (vgl. BVerfGE 25, 269 <285>; 78, 374 <382>; 126, 170 <194 ff.>; 143, 38 <53 f. Rn. 38>; 159, 223 <292 ff. Rn. 152 ff.> - Bundesnotbremse I <Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen>) und das Rückwirkungsverbot (vgl. BVerfGE 25, 269 <286>; 30, 367 <385>; 46, 188 <192 f.>; 81, 132 <135>; 95, 96 <131>; 109, 133 <172>; 156, 354 <388 f. Rn. 104 f.> - Vermögensabschöpfung). Gerade mit dem absoluten Rückwirkungsverbot erfüllt Art. 103 Abs. 2 GG seine rechtsstaatliche und grundrechtliche Gewährleistungsfunktion durch eine strikte Formalisierung (vgl. BVerfGE 95, 96 <96 LS 1 und 131>). Nichts anderes gilt für Art. 103 Abs. 3 GG. Auch dieses Recht fasst den Vertrauensschutz, der auf den Bestand rechtskräftiger Entscheidungen als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips gerichtet ist, als Einzelausprägung für den Bereich des Strafrechts enger als in anderen Rechtsbereichen. Art. 103 Abs. 3 GG erfüllt seine Gewährleistungsfunktion ebenso wie Art. 103 Abs. 2 GG durch eine strikte Formalisierung.

(2) Das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG bezieht sich nur auf die Anwendung der allgemeinen Strafgesetze, das heißt des Kriminalstrafrechts (vgl. BVerfGE 21, 378 <383 f.>; 21, 391 <401 f.>; 27, 180 <185>; 43, 101 <105>; 66, 337 <356 f.>).

Art. 103 Abs. 3 GG knüpft an das mit einer Strafe verbundene autoritative Unwerturteil über die schuldhafte Verletzung eines allgemein gewährleisteten Rechtsgutes und die Störung des allgemeinen Rechtsfriedens an (vgl. BVerfGE 21, 391 <403>; 43, 101 <105>). Die Gewährleistung betrifft staatliche Maßnahmen, die eine missbilligende hoheitliche Reaktion auf ein rechtswidriges, schuldhaftes Verhalten darstellen und wegen dieses Verhaltens auf die Verhängung eines Übels gerichtet sind, das dem Schuldausgleich dient (vgl. BVerfGK 14, 357 <364>; 16, 98 <107>). Nicht erfasst sind somit Maßnahmen der Strafvollstreckung (vgl. BVerfGE 117, 71 <115>) sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung (vgl. BVerfGE 55, 28 <30>; BVerfGK 14, 357 <364>; 16, 98 <107>).

Dabei erstreckt sich Art. 103 Abs. 3 GG jedoch nicht auf alle Sanktionen, die sich unter den Begriff der Strafe fassen lassen, sondern ausdrücklich nur auf solche, die aufgrund der allgemeinen Strafgesetze ergehen (vgl. auch Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 57 <Nov. 2018>). Nach dem dokumentierten Willen des Verfassungsgebers (vgl. Wortprotokoll der 8. Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege vom 7. Dezember 1948, abgedruckt in: Büttner/Wettengel, Der Parlamentarische Rat, Bd. 13/2, 2002, S. 1449 <1465 f. und 1472>) ist hierunter allein das „eigentliche“ Strafrecht im Sinne des Strafgesetzbuches und seiner Nebengesetze im Gegensatz zum Dienst-, Disziplinar-, Ordnungs-, Polizei- und Berufsstrafrecht zu verstehen (vgl. BVerfGE 21, 378 <383 f.>; 21, 391 <401, 403 f.>; 27, 180 <185>; 28, 264 <276 f.>; 43, 101 <105>; 66, 337 <357>). Insbesondere ist damit die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten vom Verbot des Art. 103 Abs. 3 GG ausgenommen (vgl. BVerfGE 21, 378 <388>; 43, 101 <105>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Mai 1990 - 2 BvR 1722/89 -, juris; vgl. zum Streitstand im Schrifttum Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 58 m.w.N. <Nov. 2018>). Dies gilt ungeachtet dessen, dass ihre Ahndung durch Geldbußen einen Strafcharakter aufweist und daher insbesondere von Art. 103 Abs. 2 GG erfasst wird (vgl. BVerfGE 81, 132 <135>; 87, 399 <411>; BVerfGK 11, 337 <349>). Ebenso wenig erstreckt sich Art. 103 Abs. 3 GG auf verwaltungsrechtliche Sanktionen (vgl. BVerfGE 20, 365 <372>).

(3) Art. 103 Abs. 3 GG verbietet die erneute Strafverfolgung nur, wenn ein Strafurteil dieselbe Tat, also den geschichtlichen - und damit zeitlich und hinsichtlich des Sachverhalts begrenzten - Vorgang zum Gegenstand hat, welchen Anklage und Eröffnungsbeschluss umreißen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (vgl. BVerfGE 23, 191 <202>; 45, 434 <435>; 56, 22 <28>; BVerfGK 5, 7 <8>; 7, 417 <418>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Oktober 2014 - 2 BvR 920/14 -, Rn. 26).

(4) Der Schutz des Art. 103 Abs. 3 GG wird dabei allein durch Strafurteile deutscher Gerichte ausgelöst (vgl. BVerfGE 12, 62 <66>; 75, 1 <15 f.>; BVerfGK 13, 7 <11 f.>; 19, 265 <273>). Bei transnationalen Konstellationen ist darauf abzustellen, inwieweit aufgrund des Völker- oder des Unionsrechts die Mehrfachverfolgung ausgeschlossen ist (vgl. insoweit etwa BVerfGK 13, 7 <11 f.>; 19, 265 <273>).

(5) Art. 103 Abs. 3 GG entfaltet seine Wirkung nur nach Strafverfahren, die durch ein rechtskräftiges Sachurteil abgeschlossen wurden (a). Vertrauensschutz, der durch andere Entscheidungen begründet wird, die zum rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens führen, ist nicht vom engen Schutzgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG erfasst, sondern besteht nach allgemeinen Grundsätzen (b).

(a) Das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG wird nur durch Strafurteile ausgelöst, die aufgrund einer Hauptverhandlung in der Sache ergangen sind. Diese Begrenzung des Schutzgehalts liegt in der Funktion des strafrechtlichen Hauptverfahrens begründet (vgl. BVerfGE 3, 248 <251 f.>; 65, 377 <383>) und findet ihre Bestätigung in der Entstehungsgeschichte der Bestimmung.

Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts (vgl. BVerfGE 57, 250 <275>; 118, 212 <231>; 122, 248 <270>; 130, 1 <26>; 133, 168 <199 Rn. 56>). Die Hauptverhandlung bildet das Kernstück des Strafprozesses. In ihr soll der Sachverhalt endgültig aufgeklärt und festgestellt werden. Gemäß § 244 Abs. 2 StPO hat das Gericht zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Die Hauptverhandlung bietet nach allgemeiner Prozesserfahrung die größtmögliche Gewähr für die Erforschung der Wahrheit und zugleich für die bestmögliche Verteidigung des Angeklagten und damit für ein gerechtes Urteil (vgl. BVerfGE 65, 377 <383>). Sie schafft die prozessual vorgesehenen Voraussetzungen dafür, Feststellungen zur Schuld zu treffen und gegebenenfalls die Unschuldsvermutung zu widerlegen (vgl. BVerfGE 74, 358 <372 f.>). Aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung schöpft das Gericht seine Überzeugung über die Tatsachen, die es als erwiesen erachtet und auf die es das Urteil stützt (vgl. § 261, § 264 Abs. 1, § 267 Abs. 1 StPO). Um des Schutzes der Rechtsgüter Einzelner und der Allgemeinheit willen ist der Strafprozess als justizförmiges Verfahren ausgestaltet (vgl. BVerfGE 133, 168 <199 Rn. 56>). Die Wahrheitsfindung erfolgt rechtsgeleitet und stellt die weitestgehende Form rechtsstaatlicher Sachverhaltsermittlung und Urteilsfindung dar. Die Unschuldsvermutung erzwingt ein prozessordnungsgemäßes Verfahren zum Beweis des Gegenteils. Erst auf dieser Grundlage können Feststellungen zur Schuld erfolgen (vgl. BVerfGE 74, 358 <371>). In diesem rechtsstaatlichen Rahmen ist der Staat von Verfassungs wegen gehalten, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222>; 122, 248 <272>; 130, 1 <26>; 133, 168 <199 f. Rn. 57>). Diese besondere Ausgestaltung des strafgerichtlichen Hauptverfahrens mit der Hauptverhandlung vermittelt dem auf ihm gründenden Urteil die Legitimation, die Grundlage für seine Rechtskraft ist und den damit verbundenen uneingeschränkten Eintritt des Strafklageverbrauchs im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG rechtfertigt (vgl. BVerfGE 3, 248 <253 f.>; 65, 377 <383>; vgl. auch BVerfGE 23, 191 <202>).

Aus diesen Gründen kam der Grundsatz ne bis in idem bereits in seiner durch das Reichsgericht geprägten Gestalt, auf die der Verfassungsgeber bei der Schaffung des Art. 103 Abs. 3 GG maßgeblich abstellte, nur bei Strafurteilen uneingeschränkt zur Anwendung (vgl. BVerfGE 3, 248 <251> m.w.N.; 65, 377 <382 f.>).

(b) Die weiteren Entscheidungsformen, mit denen ein Strafverfahren seinen Abschluss finden kann, begründen ebenfalls schutzwürdiges Vertrauen. Der Schutz rührt jedoch nicht unmittelbar aus Art. 103 Abs. 3 GG her, sondern wurzelt verfassungsrechtlich im allgemeinen rechtsstaatlichen Gebot des Vertrauensschutzes. Dies betrifft sowohl Strafbefehle (aa) als auch Verfahrenseinstellungen der Staatsanwaltschaft (bb) und verfahrensbeendende Gerichtsentscheidungen (cc).

(aa) Strafbefehle unterfallen nicht dem Schutz des Art. 103 Abs. 3 GG. Einfachgesetzliche Regelungen - wie insbesondere § 373a StPO - sind vielmehr am allgemeinen Prozessgrundsatz ne bis in idem als Ausfluss des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebotes zu messen.

Das Strafbefehlsverfahren (§§ 407 ff. StPO) dient vornehmlich der Vereinfachung und Beschleunigung des Strafverfahrens. Im Gegensatz zum Urteilsverfahren fehlt dem Gericht die Möglichkeit, den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat frei und umfassend zu ermitteln und so das öffentliche Interesse an einer gerechten Entscheidung uneingeschränkt zu wahren (vgl. BVerfGE 3, 248 <253>; 65, 377 <383>). Insoweit steht ein Strafbefehl, gegen den nicht rechtzeitig Einspruch erhoben worden ist, einem Urteil nicht im Sinne des § 410 Abs. 3 StPO gleich (vgl. bereits BVerfGE 3, 248 <254>). Aufgrund dessen hat schon das Reichsgericht dem Strafbefehl nur einen eingeschränkten Strafklageverbrauch zuerkannt und eine Verurteilung im ordentlichen Verfahren wegen einer bereits von einem Strafbefehl erfassten Tat dann für zulässig gehalten, wenn die Bestrafung unter einem rechtlichen Gesichtspunkt erfolgte, der nicht schon im Strafbefehl gewürdigt wurde und eine erhöhte Strafbarkeit begründete (vgl. BVerfGE 3, 248 <251> m.w.N.). Diese vorkonstitutionelle Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der Bestimmung als immanente Schranke des Art. 103 Abs. 3 GG angesehen (vgl. BVerfGE 3, 248 <252 f.>; 65, 377 <382 ff.>).

(bb) Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft vermitteln dem Betroffenen nach allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der getroffenen Entscheidung, bewirken aber keinen umfassenden Strafklageverbrauch im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2022 - 2 BvR 1110/21 -, Rn. 50; BGHSt 54, 1 <6 ff. Rn. 14 ff.>). Art. 103 Abs. 3 GG bezieht sich nur auf Entscheidungen staatlicher Gerichte im Sinne des Art. 92 GG, wie sich aus der Verortung der Norm im „Abschnitt IX. Die Rechtsprechung“ des Grundgesetzes ergibt. Auch enthalten Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft keine der Rechtskraft fähigen Feststellungen zur Schuld des Betroffenen.

Dem steht nicht entgegen, dass dem in Art. 50 GRCh in Verbindung mit Art. 54 SDÜ geregelten unionsrechtlichen Grundsatz ne bis in idem unter bestimmten Voraussetzungen auch staatsanwaltschaftliche Einstellungsentscheidungen unterfallen können (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2022 - 2 BvR 1110/21 -, Rn. 37 ff. m.w.N. zur Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union). Art. 103 Abs. 3 GG regelt den Schutzgehalt des Grundsatzes ne bis in idem gerade nicht umfassend, sondern beschränkt das Verbot der Mehrfachverfolgung auf Strafverfahren vor deutschen Gerichten, die mit einem Sachurteil beendet worden sind. Daher besteht hier kein Anlass, das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG im Lichte der EU-Grundrechtecharta auszulegen (vgl. BVerfGE 152, 152 <177 ff. Rn. 60 ff.> - Recht auf Vergessen I). Vielmehr regeln Art. 50 GRCh und Art. 103 Abs. 3 GG jeweils für ihren eigenen Anwendungsbereich Ausprägungen dieses allgemeinen Prinzips, das unter dem Grundgesetz ergänzend durch das allgemeine rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot verwirklicht wird. Ein hinreichendes Schutzniveau des Grundsatzes ne bis in idem bei staatsanwaltschaftlichen Verfahrenseinstellungen ist somit insgesamt gewährleistet.

(cc) Auch gerichtliche Einstellungsentscheidungen sind nicht vom Schutzgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG erfasst. Sie enthalten weder in Form eines Prozessurteils (vgl. § 260 Abs. 3 StPO) noch eines Beschlusses (vgl. § 153 Abs. 2 Satz 1, § 153a Abs. 2 Satz 1, § 206a Abs. 1, § 206b Satz 1 StPO) rechtskräftige Feststellungen zur Schuld der betroffenen Person. Daher schaffen sie zwar nach Maßgabe des allgemeinen Grundsatzes ne bis in idem einen Vertrauenstatbestand in den Bestand der Verfahrenseinstellung, entfalten jedoch keine absolute Sperrwirkung nach Art. 103 Abs. 3 GG (vgl. BGHSt 48, 331 <334 ff.>).

Ebenso wenig haben Gerichtsbeschlüsse, die aufgrund der Ablehnung eines hinreichenden Tatverdachts zur Verfahrensbeendigung führen (vgl. § 174 Abs. 1, § 204 StPO), das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG zur Folge. Auch sie enthalten keine rechtskräftigen Schuldfeststellungen, sondern beruhen auf einer bloßen Verdachtsprüfung, die außerhalb einer Hauptverhandlung im schriftlichen Verfahren erfolgt (vgl. BGHSt 48, 331 <336>). Sie bewirken daher keinen umfassenden Strafklageverbrauch, der Art. 103 Abs. 3 GG unterfiele, sondern gewähren lediglich schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der gerichtlichen Entscheidung. Die insoweit in der Strafprozessordnung geregelten Möglichkeiten zur Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel (vgl. § 211, § 174 Abs. 2 StPO) sind somit nicht an Art. 103 Abs. 3 GG, sondern am allgemeinen Prozessgrundsatz ne bis in idem zu messen.

Dem steht nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht in zwei Kammerbeschlüssen festgehalten hat, ein Nichteröffnungsbeschluss nach § 204 StPO (vgl. BVerfGK 4, 49 <52 f.>) beziehungsweise ein Verwerfungsbeschluss gemäß § 174 Abs. 2 StPO (vgl. BVerfGK 9, 22 <25 f.>) gewährten Schutz vor erneuter Strafverfolgung, und dabei auch auf die „Garantiefunktion des Art. 103 Abs. 3 GG“ (BVerfGK 9, 22 <25>) beziehungsweise auf dessen „Ausstrahlungswirkung“ (BVerfGK 4, 49 <52>) hingewiesen hat. Denn in der Sache haben beide Kammern lediglich auf den allgemeinen Grundsatz ne bis in idem abgestellt und auch nur einen eingeschränkten Strafklageverbrauch infolge der in Rede stehenden Gerichtsbeschlüsse angenommen. Eine Verletzung von Art. 103 Abs. 3 GG selbst war gerade nicht Gegenstand der Entscheidungen.

bb) Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell (1), jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel (2).

(1) Die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens kann auch darauf gerichtet sein, ein mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarendes Urteil aufzuheben, ohne dass eine Änderung des materiellen Ergebnisses im Vordergrund steht. Ist dies der Fall, ist Art. 103 Abs. 3 GG nicht berührt (a). Auch Regelungen, die aus anderen Gründen auf die Aufhebung eines Strafurteils zielen, verbietet Art. 103 Abs. 3 GG nicht (b).

(a) Wird durch eine Wiederaufnahme ein Urteil korrigiert, ohne den materiellen Entscheidungsinhalt zu ändern, ist der Schutzgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG noch nicht berührt. Dementsprechend verstößt die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht gegen Art. 103 Abs. 3 GG, wenn sie darauf beschränkt ist, die materielle Rechtsgrundlage eines Strafurteils auszuwechseln, weil das Bundesverfassungsgericht sie für nichtig erklärt hat, und dabei alle sonstigen Urteilsbestandteile unberührt lässt (vgl. BVerfGE 15, 303 <307>). Ob eine solche beschränkte Wiederaufnahme eines Strafverfahrens, durch die im Beschlusswege ohne Erneuerung der Hauptverhandlung und ohne Anhörung des Verurteilten das ursprüngliche Urteil geändert wird, nach den Vorschriften der Strafprozessordung und des § 79 BVerfGG erfolgen darf, ist nicht unmittelbar vom Bundesverfassungsgericht zu prüfen (vgl. BVerfGE 15, 303 <306> m.w.N.). Erfolgt auf der Grundlage der bestehenden einfachgesetzlichen Vorschriften eine solche beschränkte Wiederaufnahme, so liegt darin keine von Art. 103 Abs. 3 GG verbotene nochmalige Bestrafung, wenn die tatsächlichen Feststellungen des Urteils, die rechtliche Beurteilung der Tat im Übrigen, die Art und Höhe der Strafe und die Vollstreckungsvoraussetzungen unverändert bleiben (vgl. BVerfGE 15, 303 <308>).

(b) Wiederaufnahmeregelungen, die nicht in erster Linie auf die Änderung des materiellen Entscheidungsinhalts zielen, sondern vorrangig auf die Aufhebung eines Strafurteils gerichtet sind, sind ebenfalls nicht vom Verbot des Art. 103 Abs. 3 GG umfasst.

Dies betrifft insbesondere die Wiederaufnahme von Strafverfahren gemäß § 362 Nr. 1-4 StPO (vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 32 und 35; Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 7. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 222 f.; vgl. auch Kunig/Saliger, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2021, Art. 103 Rn. 78; Degenhart, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 103 Rn. 84; Radtke, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 103 Rn. 47 f. <Aug. 2022>; a.A. Sodan, in: ders., GG, 4. Aufl. 2018, Art. 103 Rn. 31 f.; Brade, AöR 146 <2021>, S. 130 <167, 170>; zweifelnd Neumann, in: Festschrift für Heike Jung, 2007, S. 655 <666>; Höfling/Burkiczak, in: Friauf/Höfling, GG, Bd. 5, Art. 103 Rn. 173 ff. <IV/09>; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 62 <Nov. 2018>). Diese Bestimmungen stellen immanente Schranken des Art. 103 Abs. 3 GG dar (vgl. BVerfGE 3, 248 <252 f.>; 65, 377 <384>). Inwieweit sie den allgemeinen verfassungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen (zu § 362 Nr. 1-2 StPO vgl. Grünewald, ZStW 120 <2008>, S. 545 <574 f.>; Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, S. 985 ff.; zu § 362 Nr. 4 StPO vgl. Knoche, DRiZ 1971, S. 299 <299>; Loos, in: Festschrift für Hans-Ludwig Schreiber, 2003, S. 277 <280 f.>; Bohn, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Angeklagten vor dem Hintergrund neuer Beweise, 2016, S. 51; Eschelbach, in: KMR-StPO, § 362 Rn. 84 ff. <Aug. 2005>), bedarf hier keiner Entscheidung.

§ 362 Nr. 1-3 StPO ermöglicht die Wiederaufnahme, wenn durch anderweitiges Urteil festgestellt (§ 364 StPO) ist, dass in der Hauptverhandlung eine Urkundenfälschung, eine strafbewehrte Falschaussage durch Zeugen oder Sachverständige oder eine Amtspflichtverletzung durch einen Richter oder Schöffen begangen wurde. Die Wiederaufnahme erfolgt bei einer Amtspflichtverletzung (§ 362 Nr. 3 StPO) unabhängig von der inhaltlichen Richtigkeit des Urteils. Auch in den Fällen eines erwiesenermaßen falschen Beweises (§ 362 Nr. 1 und 2 StPO) steht nicht die Korrektur des Ergebnisses im Vordergrund. Die Wiederaufnahme entfällt in letzteren Fällen nur dann, wenn ausgeschlossen ist, dass diese Handlungen Einfluss auf die Entscheidung gehabt haben (§ 370 Abs. 1, 2. Alt. StPO). Ziel der Wiederaufnahme ist in allen diesen Fällen nicht notwendig ein im Ergebnis anderes Urteil, sondern primär die Wiederholung des fehlerbehafteten Verfahrens.

Die Wiederaufnahmemöglichkeit entfaltet damit Vorwirkungen auf das eigentliche Strafverfahren. Wahrheits- und Rechtspflichten im gerichtlichen Verfahren werden dadurch neben ihrer Strafbewehrung verstärkt. Eine Manipulation des Verfahrens kann nicht dadurch lohnenswert erscheinen, dass ein - für den Angeklagten möglicherweise günstiges - rechtskräftiges Urteil erreicht wird. Bereits der Entwurf der Deutschen Strafprozessordnung von 1873, der § 362 Nr. 1-3 StPO entsprechende Wiederaufnahmegründe vorsah, wurde damit begründet, dass niemand die „Früchte seiner strafbaren Handlungen genießen“ solle. Es verstoße gegen die Fundamentalsätze des Strafrechts, wenn man zulassen wollte, dass „der Verbrecher der verwirkten Strafe durch die Begehung eines neuen Verbrechens entzogen werde“, unabhängig davon durch wen es begangen werde (vgl. Motive zu dem Entwurf einer Deutschen Strafprozessordnung nach den Beschlüssen der von dem Bundesrath eingesetzten Kommission, 1873, S. 174; vgl. auch Frank, Die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten im Strafverfahren, 2022, S. 177 f.).

Ein Urteil mit einem solch schwerwiegenden Mangel verfehlt die Anforderungen an ein justizförmiges, rechtsgeleitetes Verfahren. Die Wahrung dieser Anforderungen ist jedoch unverzichtbare rechtsstaatliche Voraussetzung für einen gerechten Schuldspruch (vgl. BVerfGE 133, 168 <199 ff. Rn. 56 ff.>). Die Möglichkeit, ein unter solchen Mängeln gefundenes Urteil aufzuheben und das Verfahren zu wiederholen, sichert den Geltungsanspruch des Urteils und damit die rechtsstaatliche Autorität des Strafverfahrens ab.

Auch § 362 Nr. 4 StPO hat nicht eine Änderung des Freispruchs zum eigentlichen, vorrangigen Ziel. Vielmehr hat die Norm den Zweck, ein Verhalten zu verhindern, das die Autorität des rechtsstaatlichen Strafverfahrens infrage stellen würde (vgl. Frister, in: SK-StPO, 5. Aufl. 2018, § 362 Rn. 1; Tiemann, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 362 Rn. 1a, 26; Kaspar, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, 5. Aufl. 2023, § 362 Rn. 7; Weiler, in: Dölling/Duttge/ Rössner, Gesamtes Strafrecht, 5. Aufl. 2022, § 362 StPO Rn. 6; a.A. Kubiciel, GA 2021, S. 380 <392>; Schöch, in: Festschrift für Manfred Maiwald, 2010, S. 769 <779 f.>). In den Motiven zur Strafprozessordnung von 1877 wurde der entsprechende Wiederaufnahmetatbestand damit begründet, dass das allgemeine Rechtsbewusstsein leicht irregeführt werden könne, wenn ein Freigesprochener sich folgenlos öffentlich der Straftat rühmen könnte (vgl. Motive zum Entwurf einer Strafprozessordnung von 1874, abgedruckt in: Hahn, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 3, Erste Abteilung, 1880, S. 265). Er solle nicht in aller Öffentlichkeit die kriminelle Tat schildern, das Opfer und dessen Angehörige verhöhnen, mit dem Freispruch prahlen und den Staat lächerlich machen dürfen (vgl. Marxen/Tiemann, ZIS 2008, S. 188 <189> m.w.N.; Tiemann, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 362 Rn. 1a, 11). Der Grundsatz des akkusatorischen Strafverfahrens, das mit einem Freispruch endet, wenn die Unschuldsvermutung nicht widerlegt werden kann, wäre verkannt, wenn ein Freigesprochener beanspruchte, in seinen sozialen Bezügen nicht als unschuldig, sondern als Täter wahrgenommen zu werden.

(2) Demgegenüber verbietet Art. 103 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel, die vorrangig auf eine inhaltlich „richtigere“ Entscheidung zielt (a). Weder ein zwischenzeitlich gewandeltes Verfassungsverständnis (b) noch grundrechtlich geschützte Belange der Opfer und Opferangehörigen (c) führen zu einem anderen Ergebnis.

(a) Die Korrektur eines Strafurteils mit dem Ziel, eine inhaltlich „richtigere“ und damit materiell gerechtere Entscheidung herbeizuführen, lässt sich mit der von Art. 103 Abs. 3 GG getroffenen unbedingten Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit nicht vereinbaren.

Bereits das Reichsgericht, auf dessen Rechtsprechung zum Grundsatz ne bis in idem Art. 103 Abs. 3 GG inhaltlich Bezug nimmt (vgl. oben Rn. 65), ging davon aus, dass die Einleitung einer neuen Strafverfolgung auch dann ausgeschlossen sein sollte, wenn Tatsachen oder Beweise, die erst „nach eingetretener Rechtskraft des Urteiles zum Vorschein gekommen sind, vorher aber nicht bekannt und nicht zur Sprache gebracht worden waren, die That unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkte strafbar erscheinen lassen“ (vgl. RGSt 2, 347 <348>). Es knüpfte an die der Reichsstrafprozessordnung von 1877 zugrundeliegenden Gesetzesmaterialien an, die betonten, „aufgrund neuer Thatsachen aber [lasse] der Entwurf die Wiederaufnahme des Urtheils zum Nachtheil des Angeklagten in keinem Fall zu“ (vgl. Motive zu dem Entwurf einer Deutschen Strafprozessordnung nach den Beschlüssen der von dem Bundesrath eingesetzten Kommission, 1873, S. 174).

Der Zweck einer Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel erschöpft sich darin, eine mögliche Diskrepanz zwischen dem Inhalt eines Strafurteils und der materiell-rechtlichen Wirklichkeit, die sich nachträglich offenbart, zu beseitigen. Soweit eine solche Wiederaufnahme vorgesehen ist, gibt der Gesetzgeber der materialen Gerechtigkeit Vorrang vor der Rechtssicherheit. Dies läuft Art. 103 Abs. 3 GG zuwider.

Die Rechtssicherheit, die durch das justizförmig zustande gekommene Urteil geschaffen wurde, erstreckt sich darauf, dass sie nicht durch das Auftauchen neuer Tatsachen oder Beweismittel infrage gestellt wird (vgl. auch BVerfGE 56, 22 <31>; 65, 377 <383 und 385>). Der Rechtsstaat nimmt die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung vielmehr um der Rechtssicherheit willen in Kauf (vgl. BVerfGE 2, 380 <403>), namentlich auch dann, wenn diese Unrichtigkeit auf nachträglich hervortretenden Umständen beruht (vgl. BVerfGE 56, 22 <31>). Diese ziehen die Rechtsförmigkeit und Rechtsstaatlichkeit des vorausgegangenen Strafverfahrens nicht in Zweifel und begründen daher auch keinen schwerwiegenden Mangel der ergangenen Entscheidung. Deshalb zielt die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel nicht darauf, den Geltungsanspruch der ergangenen Entscheidung zu stärken, sondern stellt diese, im Gegenteil, zur Disposition. Aber gerade im Falle eines Freispruchs bedarf es der Autorität eines rechtskräftigen Urteils. Aufgabe und Funktion eines Urteils und dessen Rechtskraft bestehen darin, die Rechtslage zu dem für das Gericht maßgeblichen Zeitpunkt durch die Rechtsbeständigkeit des Inhalts der Entscheidung verbindlich festzustellen und hierdurch Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu schaffen (vgl. BVerfGE 47, 146 <161>).

(b) Art. 103 Abs. 3 GG hat auch nicht aufgrund einer gewandelten Verfassungswirklichkeit eine veränderte Bedeutung erhalten, in deren Folge dem Gesetzgeber die Gestaltung einer - womöglich eng umgrenzten - Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel offen stünde.

Zwar sind das Straf- und das Strafprozessrecht fortwährend Änderungen unterworfen. Insbesondere die Zulassung der Verständigung hat dabei auch Einfluss auf die Wahrheitsfindungsfunktion des Strafprozesses erlangt (vgl. BVerfGE 133, 168 <204 ff. Rn. 65 ff.>). An den verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Strafverfahren vermögen diese oder auch andere Entwicklungen jedoch nichts zu ändern (vgl. BVerfGE 133, 168 <225 ff. Rn. 100 ff.>).

Nichts anderes gilt für die Weiterentwicklung kriminaltechnischer Methoden und Aufklärungsmöglichkeiten. Sie können neue Ausprägungen grundrechtlicher Schutzbedarfe hervorbringen (vgl. BVerfGE 65, 1 <42>; 109, 279 <309>; 112, 304 <316>; 113, 29 <45 f.>; 120, 274 <305 f.>; 120, 378 <398 f.>; 154, 152 <215 ff. Rn. 87 ff.> - BND - Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung; BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 16. Februar 2023 - 1 BvR 1547/19 u.a. -, Rn. 52 ff. - Automatisierte Datenanalyse). Eine Zurücknahme verfassungsrechtlichen Schutzes gegenüber staatlichen Eingriffen folgt daraus jedoch nicht.

Erst recht nehmen die verfassungsrechtlichen Vorgaben gegenüber dem Gesetzgeber nicht deshalb ab, weil eine gefestigte demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland dazu geführt hätte, dass eine Abkehr oder Aufweichung der verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht mehr zu befürchten sind (vgl. dagegen Hoven, JZ 2021, S. 1154 <1160>). Die Gewährleistungen der im Grundgesetz garantierten Grundrechte stehen „nicht unter dem Vorbehalt einer realen Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung“ (vgl. Pohlreich, HRRS 2023, S. 140 <143>).

(c) Eine Ausweitung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums zur Regelung der Wiederaufnahme von Strafverfahren kann auch nicht auf die Belange von Opfern und deren Angehörigen gestützt werden.

Zwar kann nach der Kammerrechtsprechung aus der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ein Anspruch gegen den Staat auf effektive Strafverfolgung dort folgen, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter abzuwehren, und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 10; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 11; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 20; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Januar 2020 - 2 BvR 1763/16 -, Rn. 35 f.; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Dezember 2022 - 2 BvR 378/20 -, Rn. 53). Der Anspruch auf effektive Strafverfolgung verbürgt jedoch kein bestimmtes Ergebnis, sondern verpflichtet die Strafverfolgungsorgane grundsätzlich nur zu einem (effektiven) Tätigwerden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Dezember 2022 - 2 BvR 378/20 -, Rn. 56). Die Gründe für eine Wiederaufnahme zulasten des Angeklagten aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel wurzeln jedoch nicht in gravierenden Mängeln der Strafverfolgung an sich und insbesondere nicht in der Nichtverfolgung einer Straftat. Ein Freispruch steht vielmehr am Ende eines Strafverfahrens, das gerade nicht eingestellt, sondern durchgeführt worden ist. Das Vertrauen der Opfer und deren Angehöriger in die rechtsförmige und effektive Strafverfolgung kann daher durch Freisprüche grundsätzlich nicht erschüttert werden.

Insbesondere der Verweis auf die fortlaufende Verbesserung der Ermittlungsmethoden stellt die Rechtsstaatlichkeit früherer Strafverfolgung nicht infrage. Wird die Aufklärung ungelöster Fälle mithilfe früher nicht verfügbarer Erkenntnismittel möglich, bestätigt dies vielmehr die rechtsstaatliche Unbedenklichkeit der früheren, wenn auch in der Sache unvollständigen Ergebnisse. Technischen Fortschritt unterstellt, kann eine spätere und daher mit moderneren Methoden geführte Aufklärung die Chance besserer Erkenntnisse in sich tragen. Sie kann aber auch durch den Umstand belastet sein, dass nicht alle für das zuerst geführte Verfahren relevanten Beweismittel auch im zweiten Verfahren noch zur Verfügung stehen oder ebenso ertragreich sind, wie sie es im ersten Verfahren waren. Dem steht indes das weit gewichtigere Ziel zeitnaher Aufklärung und Verurteilung von Straftaten gegenüber. Letzteres liegt nicht nur im Interesse des Angeklagten und der Allgemeinheit, sondern insbesondere auch der Opfer und ihrer Angehörigen. Auch der Vertreter des WEISSER RING e.V. hat in der mündlichen Verhandlung erläutert, dass eine generelle Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel nicht dem Anliegen der Opferschutzorganisation entspreche. Ein Strafprozess, der wegen des grundsätzlich stets möglichen Auftauchens neuer Tatsachen oder Beweismittel faktisch nie ende, würde für die Opfer beziehungsweise für ihre Hinterbliebenen eine erhebliche seelische Belastung darstellen, die das Bedürfnis an einer inhaltlich richtigen Aufklärung und Urteilsfindung immer weiter zurücktreten lasse, je mehr Zeit nach der Tat verstrichen sei.

Ohnehin geht der Anspruch auf effektive Strafverfolgung nicht über die Erzwingung einer Anklage und die Verfahrensrechte als Nebenkläger hinaus. Die inhaltliche Korrektur eines Strafurteils, namentlich eine Verurteilung anstelle eines Freispruchs, ist hiervon nicht umfasst (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 14; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 15; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 24; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Januar 2020 - 2 BvR 1763/16 -, Rn. 42; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Dezember 2022 - 2 BvR 378/20 -, Rn. 56 f.). Der Staat ist nur zur Strafverfolgung selbst, nicht auch zu ihrem Erfolg im Sinne der Ermittlung der absoluten Wahrheit verpflichtet, erst recht nicht im Wege der Wiederaufnahme bereits rechtskräftig abgeschlossener Verfahren.

2. Die hier mittelbar angegriffene Norm des § 362 Nr. 5 StPO verstößt danach gegen Art. 103 Abs. 3 GG. Sie erlaubt für den Bereich des Strafrechts (a) eine erneute Strafverfolgung derselben Tat, über die bereits ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist (b), in erster Linie mit dem Ziel der inhaltlichen Korrektur des Urteils (c), und läuft damit dem Schutzgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG zuwider (d).

a) Die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO betrifft das Strafrecht. Nicht nur der Tatbestand des Mordes nach § 211 StGB, sondern auch die darüber hinaus von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch sind allgemeine Strafgesetze im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG (vgl. entsprechend zu Art. 103 Abs. 2 GG BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Dezember 2000 - 2 BvR 1290/99 -, Rn. 18 ff.).

Das Völkerstrafgesetzbuch sieht für die in ihm geregelten Delikte die Verhängung von Kriminalstrafen vor, die ein autoritatives Unwerturteil über die schuldhafte Verletzung eines allgemein gewährleisteten Rechtsgutes und die Störung des allgemeinen Rechtsfriedens beinhalten. Auch weist es keine Besonderheiten auf, die eine gegenüber dem übrigen Strafrecht abweichende Behandlung rechtfertigten. Es besteht vielmehr eine systematische und inhaltliche Nähe zwischen den beiden Regelungskomplexen, die einer unterschiedlichen Sperrwirkung von Verurteilungen, die auf ihrer Grundlage ergangen sind, entgegensteht. Das Völkerstrafgesetzbuch verzichtet weitgehend auf einen allgemeinen Teil und verweist deshalb in § 2 VStGB auf die allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches. Das Delikt des Völkermordes war vor seiner Neuregelung in § 6 VStGB im Jahr 2002 in dem bereits 1954 eingeführten § 220a StGB geregelt (vgl. BGBl II 1954 S. 729 und BGBl I 2002 S. 2254). Nach dem in § 1 Satz 1 VStGB normierten Weltrechtsprinzip ist zudem das deutsche Strafrecht im Übrigen anwendbar. Für Tötungen und Körperverletzungen folgt dies nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus einer Annexkompetenz. Damit kann nach den auch in diesen Fällen geltenden allgemeinen Konkurrenzregeln (vgl. BGHSt 55, 157 <173 Rn. 50>; 64, 89 <107 Rn. 70>) insbesondere eine Verurteilung wegen Völkermordes nach § 6 VStGB in Tateinheit mit Mord nach § 211 StGB erfolgen (vgl. BGHSt 45, 64 <69 f.>; 64, 89 <107 f. Rn. 71>).

b) § 362 Nr. 5 StPO stellt ferner auf ein rechtskräftiges Strafurteil eines deutschen Gerichts ab, worunter auch der Freispruch fällt. Die Norm ermöglicht mit der Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen eine erneute Strafverfolgung wegen derselben - bereits abgeurteilten - Tat.

c) Grund für die Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO sind neue Tatsachen oder Beweismittel. Zweck dieser Wiederaufnahme ist in erster Linie die inhaltliche Korrektur des Freispruchs. Bereits der Untertitel des Einführungsgesetzes - „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ - verweist auf diesen Zweck der Einführung des neuen Wiederaufnahmegrundes (BGBl I 2021 S. 5252). Auch in der Gesetzesbegründung wird auf keinen anderen Zweck als die Korrektur des „unbefriedigenden“ beziehungsweise „schlechterdings unerträglichen“ Ergebnisses verwiesen, das bestünde, wenn eine Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel weiterhin ausgeschlossen wäre (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 1, 9). Der Bestand des Freispruchs soll entfallen, wenn „nach Abschluss des Gerichtsverfahrens neue, belastende Beweismittel aufgefunden werden, aus denen sich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines zuvor Freigesprochenen ergibt“ (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 1 und ähnlich S. 9 f.). Der „Widerspruch der Rechtskraft zur materiellen Gerechtigkeit [soll] aufgelöst“ werden (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 2 und ähnlich S. 9 f.). Ziel des Gesetzes ist nichts anderes als die Ermöglichung der Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 6).

d) § 362 Nr. 5 StPO unterläuft somit die in Art. 103 Abs. 3 GG getroffene - abwägungsfeste - Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Die Neuregelung ist mit dem Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren.

II.

Zudem verletzt die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten dieser Bestimmung durch rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen waren, das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

1. Verfassungsrechtlicher Maßstab für die Zulässigkeit einer Rechtsänderung, die an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpft und zugleich Rechtsfolgen in die Vergangenheit erstreckt, ist - wegen des Schwergewichts der Regelung auf der Rechtsfolgenseite - vorrangig das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit den von der Rechtsfolgenanordnung berührten Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten (vgl. BVerfGE 72, 200 <257>; 156, 354 <404 f. Rn. 139>).

a) Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet dabei in ständiger Rechtsprechung zwischen Gesetzen mit „echter“ und solchen mit „unechter“ Rückwirkung. Eine Rechtsnorm entfaltet „echte“ Rückwirkung in Form einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung für vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll. Demgegenüber ist von einer „unechten“ Rückwirkung in Form einer tatbestandlichen Rückanknüpfung auszugehen, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet (vgl. BVerfGE 101, 239 <263>; 123, 186 <257>; 148, 217 <255 Rn. 136>), etwa wenn belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden (vgl. BVerfGE 63, 343 <356>; 72, 200 <242>; 97, 67 <79>; 105, 17 <37 f.>; 127, 1 <17>; 132, 302 <318 Rn. 43>; 148, 217 <255 Rn. 136>).

b) Eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig (vgl. BVerfGE 13, 261 <271>; 95, 64 <87>; 122, 374 <394>; 131, 20 <39>; 141, 56 <73 Rn. 43>; 156, 354 <405 Rn. 140> m.w.N.). Dieses grundsätzliche Verbot der Rückbewirkung von Rechtsfolgen schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte (vgl. BVerfGE 101, 239 <262>; 132, 302 <317 Rn. 41>; 135, 1 <21 Rn. 60>; 156, 354 <405 Rn. 140>). Die Kategorie der „echten“ Rückwirkung - verstanden als zeitliche Rückbewirkung von Rechtsfolgen auf abgeschlossene Tatbestände - findet ihre Rechtfertigung darin, dass mit ihr eine Fallgruppe gekennzeichnet ist, in welcher der Vertrauensschutz regelmäßig Vorrang hat, weil der in der Vergangenheit liegende Sachverhalt mit dem Eintritt der Rechtsfolge kraft gesetzlicher Anordnung einen Grad der Abgeschlossenheit erreicht hat, über den sich der Gesetzgeber vorbehaltlich besonders schwerwiegender Gründe nicht mehr hinwegsetzen darf (vgl. BVerfGE 127, 1 <19>; 156, 354 <406 Rn. 142>).

Das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes indes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze (vgl. BVerfGE 13, 261 <271 f.>; 88, 384 <404>; 101, 239 <266>; 126, 369 <393>; 135, 1 <21 Rn. 61>; 156, 354 <406 Rn. 142> m.w.N.). Eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit echter Rückwirkungen ist anerkanntermaßen gegeben, wenn die Betroffenen schon im Zeitpunkt, auf den die Rückwirkung bezogen wird, nicht auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung vertrauen durften, sondern mit deren Änderung rechnen mussten (vgl. BVerfGE 13, 261 <272>; 30, 367 <387>; 88, 384 <404>; 95, 64 <86 f.>; 122, 374 <394>; 135, 1 <22 Rn. 62>; 156, 354 <406 f. Rn. 143> m.w.N.). Vertrauensschutz kommt insbesondere dann nicht in Betracht, wenn die Rechtslage so unklar und verworren war, dass eine Klärung erwartet werden musste (vgl. BVerfGE 13, 261 <272>; 30, 367 <388>; 88, 384 <404>; 122, 374 <394>; 135, 1 <22 Rn. 62>; 156, 354 <407 Rn. 143> m.w.N.), oder wenn das bisherige Recht in einem Maße systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden (vgl. BVerfGE 13, 215 <224>; 30, 367 <388>; 135, 1 <22 Rn. 62>; 156, 354 <407 Rn. 143>). Dasselbe gilt, wenn im Laufe der Zeit (durch Entwicklungen in der Rechtsprechung) ein Zustand allgemeiner und erheblicher Rechtsunsicherheit eingetreten war und für eine Vielzahl Betroffener Unklarheit darüber herrschte, was rechtens sei (vgl. BVerfGE 72, 302 <325 f.>; 131, 20 <41>; 156, 354 <407 Rn. 143>). Der Vertrauensschutz muss ferner zurücktreten, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung erfordern (vgl. BVerfGE 13, 261 <272>; 18, 429 <439>; 88, 384 <404>; 101, 239 <263 f.>; 122, 374 <394 f.>; 135, 1 <22 Rn. 62>; 156, 354 <407 Rn. 143>), wenn der Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten Rechtsschein verlassen durfte (vgl. BVerfGE 13, 261 <272>; 18, 429 <439>; 50, 177 <193 f.>; 101, 239 <263 f.>; 135, 1 <22 Rn. 62>; 156, 354 <407 Rn. 143>) oder wenn durch die sachlich begründete rückwirkende Gesetzesänderung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird (sogenannter Bagatellvorbehalt; vgl. BVerfGE 30, 367 <389>; 72, 200 <258>; 95, 64 <87>; 101, 239 <263 f.>; 135, 1 <22 f. Rn. 62>; 156, 354 <407 Rn. 143>).

2. Soweit § 362 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme auch für Verfahren ermöglicht, die bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechtskräftig abgeschlossen waren (a), liegt darin eine „echte“ Rückwirkung (b), die auch nicht ausnahmsweise zulässig ist (c).

a) Die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO erfasst auch Freisprüche, die bereits vor ihrem Inkrafttreten am 30. Dezember 2021 in Rechtskraft erwachsen sind. Eine andere Auslegung der ohne Übergangsbestimmungen erlassenen Norm kommt angesichts des deutlich erkennbaren Willens des Gesetzgebers nicht in Betracht. Gerade den streitgegenständlichen Fall und die vom Vater des Opfers mit initiierte Petition an den Deutschen Bundestag nimmt die Gesetzesbegründung ausdrücklich in Bezug (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 10; siehe insoweit auch BVerfGE 162, 358 <374 f. Rn. 56>). Zudem sieht die Gesetzesbegründung insbesondere dann eine „unerträgliche“ Situation, deren Beseitigung das Gesetz bezweckt, wenn neue technische Ermittlungsmethoden die Überführung eines in der Vergangenheit Freigesprochenen ermöglichen würden (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 2, 10). Insbesondere auf den Nachweis von DNA-Spuren weist der Gesetzentwurf hin (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 1 f., 9 f.). Dies umfasst in erster Linie Verfahren, in denen der Freispruch zu einer Zeit erging, in der diese Analysemethoden noch nicht die heutige Qualität aufwiesen.

b) Die Erstreckung auf Freisprüche, die bereits vor Inkrafttreten des § 362 Nr. 5 StPO rechtskräftig geworden sind, stellt eine „echte“ Rückwirkung im Sinne einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen dar.

Das Prinzip der Rechtskraft dient gerade dazu, einer Entscheidung abschließenden Charakter zu verleihen und eine erneute Infragestellung zu verhindern. Insbesondere im Strafverfahren enthält ein Freispruch den abschließenden Aussagegehalt, dass sich der Tatverdacht, der dem Strafverfahren zugrunde lag, nicht bestätigt hat. Der geregelte Lebenssachverhalt, an den eine gesetzliche Neuregelung der Wiederaufnahme Rechtsfolgen knüpft, ist das Verfahren, nicht der zugrundeliegende, den Verfahrensgegenstand prägende tatsächliche Sachverhalt (vgl. BVerfGE 63, 343 <360>). Erfolgt die Wiederaufnahme aufgrund einer Norm, die erst nachträglich in Kraft tritt, ändert sie die Rechtsfolgen eines Freispruchs. Den zuvor bestehenden Vorbehalten, die in den bisherigen Wiederaufnahmegründen zum Ausdruck kommen, fügt die Neuregelung einen weiteren Vorbehalt hinzu (vgl. auch BVerfGE 2, 380 <403>; Kaspar, GA 2022, S. 21 <34>).

Zudem geht von dem Eintritt der Rechtskraft keine geringere Zäsurwirkung aus als von dem Eintritt der Verfolgungsverjährung. Bereits diese führt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Abschluss des betreffenden Vorgangs und begründet schutzwürdiges Vertrauen vor einer Strafverfolgung; rückwirkende Änderungen der Verjährungsvorschriften stellen daher eine „echte“ Rückwirkung dar (vgl. BVerfGE 156, 354 <403 f. Rn. 135 f.>; vgl. auch bereits BVerfGE 25, 269 <286 ff.>; 63, 343 <359 f.>). Dies gilt erst recht für den rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens.

c) Die mit der Neuregelung des § 362 Nr. 5 StPO einhergehende „echte“ Rückwirkung ist verfassungsrechtlich nicht ausnahmsweise zulässig. Die Voraussetzungen der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Ausnahmen liegen nicht vor. Freigesprochene dürfen auf die Rechtskraft des Urteils und die Begrenzung der Rechtskraftdurchbrechung nach alter Rechtslage vertrauen (aa). Auch zwingende Gründe des Gemeinwohls bestehen nicht; insbesondere sind die Maßgaben, die der Senat für die Beurteilung der rückwirkenden Regelung der Vermögensabschöpfung herangezogen hat (BVerfGE 156, 354), nicht auf die Einführung des neuen Wiederaufnahmegrundes zulasten des Angeklagten übertragbar (bb).

aa) Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der bisherigen Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an, und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.

§ 362 Nr. 5 StPO dient auch nicht dazu, rechtliche Zweifel zu klären. Im Gegenteil besteht über die Rechtskraft eines Freispruchs gerade im Fall neuer Tatsachen oder Beweismittel vollständige Klarheit. Auch die dem Gesetzgebungsverfahren vorangegangenen Reformbestrebungen legten dies als selbstverständlich zugrunde.

Die Unverjährbarkeit der von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Delikte gebietet keine andere Bewertung. Gerade für unverjährbare Delikte kann erst ein Freispruch die weitere Strafverfolgung ausschließen. Er trifft, anders als das Institut der Verjährung (vgl. BVerfGE 25, 269 <286 f.>; 156, 354 <413 Rn. 158 f.>), eine ausdrückliche staatliche Entscheidung darüber, dass die Voraussetzungen für die Bestrafung eines bestimmten Verhaltens nicht erfüllt sind, und knüpft hieran den Ausschluss erneuter Strafverfolgung. Daher entfaltet ein Freispruch eine noch stärkere Zäsurwirkung als der Eintritt der Verfolgungsverjährung (vgl. Gerson, StV 2022, S. 124 <128 f.>).

Unerheblich ist, ob der Betroffene zum Zeitpunkt seines Freispruchs wusste, dass das Urteil materiell-rechtlich falsch war. In Fortsetzung des Grundsatzes in dubio pro reo schützen der Grundsatz ne bis in idem und Art. 103 Abs. 3 GG den Freigesprochenen gerade unabhängig von dessen materiell-rechtlicher Schuld (vgl. Kaspar, GA 2022, S. 21 <35>). Angesichts der Selbstbelastungsfreiheit und des Rechts auf Schweigen darf dem Freigesprochenen nicht nachträglich angelastet werden, dass er ein unrichtiges, aber für ihn günstiges Urteil nicht korrigiert.

bb) Der Vertrauensschutz tritt hier auch nicht wegen zwingender Gründe des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen und eine rückwirkende Beseitigung erfordern, zurück.

Die vom Gesetzgeber mit der Regelung des § 362 Nr. 5 StPO insgesamt beabsichtigte Verwirklichung des Prinzips der materialen Gerechtigkeit verdrängt die zentrale Bedeutung der Rechtssicherheit für den Rechtsstaat nicht. Der Freispruch eines möglicherweise Schuldigen und der Fortbestand dieses Freispruchs trotz abnehmender Zweifel an der Schuld des Freigesprochenen sind unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls nicht „unerträglich“, sondern vielmehr Folgen einer rechtsstaatlichen Strafrechtsordnung, in der der Zweifelsgrundsatz eine zentrale Rolle spielt.

Die Maßstäbe der Entscheidung des Senats zur rückwirkenden Vermögensabschöpfung (BVerfGE 156, 354) können nicht auf die vorliegende Konstellation übertragen werden. Den zwingenden Gemeinwohlgrund, der eine „echte“ Rückwirkung rechtfertigen kann, sah der Senat dort in der Situation, dass der Staat mit der Verfolgungsverjährung darauf verzichtet, gegen den Straftäter mit den Mitteln des Strafrechts vorzugehen. Dies könne den für die Rechtstreue der Bevölkerung abträglichen Eindruck eines erheblichen Vollzugsdefizits begründen. Die Vermögensabschöpfung führe „in normbekräftigender Weise sowohl dem Straftäter als auch der Rechtsgemeinschaft vor Augen […], dass eine strafrechtswidrige Vermögensmehrung von der Rechtsordnung nicht anerkannt wird und deshalb keinen Bestand haben kann“ (BVerfGE 156, 354 <410 Rn. 151>). Raum für diese Ausnahme vom Rückwirkungsverbot eröffne erst der Umstand, dass die Vermögensabschöpfung keine dem Schuldgrundsatz unterliegende Nebenstrafe darstelle, sondern eine Maßnahme eigener Art mit kondiktionsähnlichem, präventiv-ordnendem Charakter. In diesem Fall stehe die Vertrauensschutzposition der Betroffenen zurück, weil sich die Bewertung eines bestimmten Verhaltens als Straftat durch den Eintritt der Verfolgungsverjährung nicht ändere und daher das Vertrauen in den Fortbestand unredlich erworbener Rechte grundsätzlich nicht schutzwürdig sei (vgl. BVerfGE 156, 354 <411 ff. Rn. 152, 155, 157, 161>).

Die Wiederaufnahme eines bereits mit Urteil abgeschlossenen Strafverfahrens unterscheidet sich hiervon grundlegend. Sie ist auf eine dem Schuldgrundsatz unterliegende Strafe gerichtet. Das Vertrauen gründet hier nicht in dem Eintritt der Verjährung, sondern in einem rechtskräftigen Urteil. Im Fall eines Freispruchs ist dies gerade nicht mit einem Unwerturteil verbunden, vielmehr ist das Vertrauen verfassungsrechtlich geschützt. Die Wiederaufnahme ist auf eine erneute Strafverfolgung gerichtet und stützt sich auf einen Verdacht, nicht aber auf die Feststellung einer rechtswidrigen Tat (vgl. § 73a StGB). Es lässt sich auch nicht feststellen, dass es zur gesellschaftlichen Normstabilisierung der Rückwirkung des § 362 Nr. 5 StPO bedarf. Insbesondere ist nicht zu erkennen, wie der Fortbestand eines Freispruchs, dem stets eine Hauptverhandlung vorausgegangen ist, den Eindruck eines Vollzugsdefizits erwecken könnte.

D.

I.

Gemäß § 95 Abs. 3 BVerfGG ist § 362 Nr. 5 StPO für nichtig zu erklären.

Die auf dieser Vorschrift beruhenden Beschlüsse des Oberlandesgerichts und des Landgerichts sind nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen.

II.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung der kostenrechtlich eigenständigen Verfahren über die Verfassungsbeschwerde sowie den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. BVerfGE 89, 91; 141, 56 <81 Rn. 65>) beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Die Auslagen sind dem Beschwerdeführer zu gleichen Teilen von dem Land Niedersachsen und der Bundesrepublik Deutschland zu erstatten, weil die aufgehobenen Entscheidungen von Gerichten des Landes Niedersachsen getroffen worden sind, der Grund der Aufhebung aber in der Verfassungswidrigkeit einer bundesrechtlichen Vorschrift liegt (vgl. BVerfGE 101, 106 <132>; 131, 239 <267>).

E.

Die Entscheidung ist zu C. I. mit 6 : 2 Stimmen, im Übrigen einstimmig ergangen.

Abweichende Meinung des Richters Müller und der Richterin Langenfeld

Der Auffassung der Senatsmehrheit, dass der Strafklageverbrauch nach Art. 103 Abs. 3 GG einer Ergänzung der bestehenden Wiederaufnahmegründe zuungunsten der betroffenen Person prinzipiell entgegensteht, können wir nicht folgen. Der Gewährleistungsinhalt des Art. 103 Abs. 3 GG ist für eine Abwägung mit entgegenstehenden Verfassungsgütern und in der Folge für eine Ergänzung der bestehenden Wiederaufnahmegründe grundsätzlich offen (1.). Als entgegenstehendes Verfassungsgut in die Abwägung eingestellt werden kann der im Rechtsstaatsprinzip verankerte staatliche Strafanspruch (2.). Ob die konkrete Ausgestaltung der streitgegenständlichen Norm des § 362 Nr. 5 StPO verhältnismäßig im engeren Sinne (3.a) und hinreichend bestimmt (3.b) ist, bedürfte näherer Prüfung. Unabhängig davon verstößt die Bestimmung gegen das Verbot der echten Rückwirkung aus Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 103 Abs. 3 GG (4.).

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Verfassungsmäßigkeit des § 362 Nr. 5 StPO, der bestimmt, dass ein erfolgter rechtskräftiger Freispruch wegen einer der dort bezeichneten Tatbestände der Möglichkeit einer Wiederaufnahme und damit potentiell einem erneuten Strafverfahren unterliegt. Zugelassen wird die Wiederaufnahme danach in jenen Fällen, in denen „neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) verurteilt wird“.

3. a) Nach dem Justizgrundrecht des Art. 103 Abs. 3 GG darf niemand wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden. Ungeachtet des Wortlauts der Norm ist in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, dass die Garantie nicht nur die mehrfache Bestrafung, sondern auch die mehrfache Verfolgung wegen einer Tat nach Freispruch untersagt (vgl. BVerfGE 12, 62 <66>; vgl. ausführlich dazu Rn. 59 ff.). Das Vorliegen einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Entscheidung stellt ein unmittelbar aus dem Grundgesetz folgendes strafprozessuales Verfahrenshindernis dar (vgl. BVerfGE 56, 22 <32>; 162, 358 <371 f. Rn. 46>; vgl. Rn. 71). Das Verbot der Mehrfachverfolgung richtet sich unmittelbar an die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte, aber auch an den Gesetzgeber.

b) Die Auffassung der Senatsmehrheit, wonach Art. 103 Abs. 3 GG eine absolute Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit trifft, mithin einer Relativierung durch Abwägung mit anderen Verfassungsgütern prinzipiell entgegensteht, teilen wir nicht. Richtig ist, dass der Verfassungsgeber mit Art. 103 Abs. 3 GG eine Grundentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit getroffen hat, die der Gesetzgeber nicht unterlaufen darf. Die Durchbrechung der Rechtskraft eines strafgerichtlichen Urteils im Wege der Wiederaufnahme zuungunsten des Betroffenen muss die Ausnahme bleiben und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Das Gewicht eines Wiederaufnahmegrundes muss derart sein, dass der grundsätzliche Bestand eines rechtskräftigen Freispruchs ausnahmsweise dahinter zurücksteht. Eine regelhafte oder beliebige Durchbrechung der Rechtskraft im Rahmen einer Wiederaufnahme zuungunsten des Betroffenen wäre mit Art. 103 Abs. 3 GG nicht vereinbar. Richtig ist aber auch, dass Art. 103 Abs. 3 GG keinen absoluten Schutz gegen Durchbrechungen der Rechtskraft gewährt. Wäre Art. 103 Abs. 3 GG uneingeschränkt abwägungsfest, wäre für jegliche Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen von vornherein kein Raum. Diese Konsequenz zieht die Senatsmehrheit indes nicht, sondern sieht die bestehenden Möglichkeiten einer Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen gemäß § 362 Nr. 1-4 StPO als verfassungsrechtlich unbedenklich an. Die von ihr hierfür vorgetragene Begründung überzeugt nicht (vgl. nachfolgend Rn. 10 ff.).

c) Nach unserer Überzeugung steht es dem Gesetzgeber offen, unter Beachtung der sich aus Art. 103 Abs. 3 GG ergebenden engen verfassungsrechtlichen Grenzen, die bestehenden Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Betroffenen zu ergänzen. Dabei enthält der Wortlaut des Art. 103 Abs. 3 GG keine ausdrücklichen Schrankenregelungen. Es handelt sich mithin um ein vorbehaltlos gewährleistetes grundrechtsgleiches Recht. Als solches unterliegt es nach den allgemeinen Regeln verfassungsimmanenten Schranken. Vollständig abwägungsfeste Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte sind eine sehr seltene Ausnahme und bedürfen der unmittelbaren Ableitbarkeit aus dem nicht abwägbaren Grundrecht auf Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Für Art. 103 Abs. 3 GG ist davon auszugehen, dass kollidierende verfassungsrechtliche Belange unter Beachtung des verfassungsrechtlich vorgegebenen grundsätzlichen Vorrangs der Rechtssicherheit zur Geltung und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in Ausgleich zueinander gebracht werden können.

d) Welche verfassungsrechtlichen Grenzen einer Ergänzung der Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Betroffenen im Rahmen der Abwägung mit anderen Verfassungsgütern - hier dem staatlichen Strafanspruch und dem dahinterstehenden Prinzip der materialen Gerechtigkeit - aus Art. 103 Abs. 3 GG zu ziehen sind, hat das Bundesverfassungsgericht bislang nicht bestimmt. Seiner bisherigen Rechtsprechung kann entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit (vgl. Rn. 90 ff.) eine Bestätigung der Abwägungsfestigkeit des Art. 103 Abs. 3 GG nicht entnommen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat Art. 103 Abs. 3 GG bislang nicht mit anderen Verfassungsgütern abgewogen und sich auch nicht dazu geäußert, ob das Schutzgut des Art. 103 Abs. 3 GG mit anderen Verfassungsgütern abgewogen werden könnte. Vielmehr befassen sich die zu dieser Verfassungsnorm ergangenen Entscheidungen mit der Bestimmung des Schutzbereichs des Art. 103 Abs. 3 GG. Ausgangspunkt hierfür ist das vorgefundene Gesamtbild des Strafprozessrechts (vgl. BVerfGE 3, 248 <252>; 9, 89 <96>; 12, 62 <66>; 65, 377 <384>); die Berücksichtigung strafrechtsdogmatischer Weiterentwicklungen wird hierbei nicht ausgeschlossen und waren Anlass für eine „Grenzkorrektur“ des Schutzgehalts des Art. 103 Abs. 3 GG in Bezug auf den Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG (vgl. BVerfGE 56, 22 <34>). Um eine solche strafrechtsdogmatisch gebotene Grenzkorrektur dürfte es sich bei dem neu geschaffenen § 362 Nr. 5 StPO indes nicht handeln, sondern um eine weitere Ausnahme vom Strafklageverbrauch im Fall des nachträglichen Auftretens von neuen Tatsachen und Beweismitteln, die als Einschränkung des Art. 103 Abs. 3 GG einer Rechtfertigung im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung bedarf.

e) Für eine uneingeschränkte Abwägungsfestigkeit des Art. 103 Abs. 3 GG gegenüber anderen Verfassungsgütern können weder Entstehungsgeschichte (aa) noch Systematik (bb) und Sinn und Zweck (cc) des Art. 103 Abs. 3 GG angeführt werden.

aa) Der Senatsmehrheit ist zuzustimmen, soweit sie davon ausgeht, dass der Entstehungsgeschichte keine eindeutigen Folgerungen zugunsten einer absoluten Abwägungsfestigkeit des Art. 103 Abs. 3 GG zu entnehmen sind (vgl. Rn. 81). Stattdessen spricht viel dafür, dass eine Beschränkung auf den abschließenden Katalog von Wiederaufnahmegründen zuungunsten der betroffenen Person, den der Verfassungsgeber im einfachen Recht vorgefunden hat, nicht erfolgt ist. Im Parlamentarischen Rat bestand Einigkeit, dass der vorgrundgesetzliche Besitzstand, so wie er bislang unter der Geltung der Reichsstrafprozessordnung praktiziert worden war, fortgeschrieben werden sollte. Klar war damit auch, dass die bestehenden einfachrechtlichen Wiederaufnahmegründe fortbestehen sollten. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu in einer frühen Entscheidung aus dem Jahr 1953 ausgeführt: „Die Entstehungsgeschichte des Art. 103 Abs. 3 GG bietet keine Anhaltspunkte dafür, dass der Rechtssatz ‚ne bis in idem' durch die Aufnahme in das Grundgesetz inhaltlich geändert und die durch die Rechtsprechung gezogenen Grenzen anders als bisher bestimmt werden sollten. Vielmehr sollte nur dem überlieferten Rechtssatz wegen seines grundrechtsähnlichen Charakters in dem Grundgesetz Ausdruck verliehen werden. (…) Der in Art. 103 Abs. 3 GG niedergelegte Rechtssatz nimmt daher auf den bei Inkrafttreten des Grundgesetzes geltenden Stand des Prozessrechts und seiner Auslegung durch die herrschende Rechtsprechung Bezug.“ (BVerfGE 3, 248 <252>; 12, 62 <66>). Hieran anknüpfend gehen Teile der Literatur davon aus, dass der Gewährleistungsgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG ausschließlich auf den Stand zu beschränken sei, der vor Inkrafttreten des Grundgesetzes von der Rechtsprechung zum ne bis in idem-Grundsatz gegeben gewesen sei. Das vorkonstitutionelle Prozessrecht sei daher als einzige immanente Schranke des vorbehaltlos gewährleisteten grundrechtsgleichen Rechts in Art. 103 Abs. 3 GG anzusehen, die der Verfassungsgeber habe festschreiben wollen. Einer weiteren Einschränkung durch das im Grundgesetz verankerte Rechtsstaatsprinzip sei Art. 103 Abs. 3 GG deshalb nicht zugänglich. Eine Ausweitung der in § 362 Nr. 1-4 StPO genannten Gründe für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zuungunsten des Betroffenen sei damit ausgeschlossen (vgl. Aust/Schmidt, ZRP 2020, S. 251; Conen, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung, Anlage zum Wortprotokoll der 160. Sitzung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages am 21. Juni 2021, Protokoll-Nr. 19/160, S. 36 <38 ff.>; a.A. Kubiciel, GA 2021, S. 380 <382 f.> m.w.N. zum Meinungsstand).

Für eine derart restriktive Auslegung des Art. 103 Abs. 3 GG bieten die Materialien zur Entstehungsgeschichte allerdings keinen Anhalt. Eine Debatte zu der Frage, ob der Bestand an Wiederaufnahmegründen von Verfassungs wegen abschließend zu verstehen sei, gab es - soweit ersichtlich - nicht. Die damals in der Reichsstrafprozessordnung bestehenden Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Betroffenen nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens wurden nicht näher diskutiert. Es ist sicher zutreffend, wie auch das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner frühen Rechtsprechung festgestellt hat, dass Art. 103 Abs. 3 GG auf den bei Inkrafttreten des Grundgesetzes geltenden Stand des Prozessrechts und seine Auslegung durch die herrschende Rechtsprechung Bezug nimmt (vgl. BVerfGE 3, 248 <252>; 12, 62 <66>). Hieraus kann indes nicht der Schluss gezogen werden, dass dieser Stand des Prozessrechts mit der Aufnahme des Art. 103 Abs. 3 GG in das Grundgesetz verfassungsrechtlich festgeschrieben werden und jegliche Ergänzung des § 362 StPO per se ausgeschlossen werden sollte.

bb) Der Rückgriff der Senatsmehrheit auf die Systematik des Art. 103 Abs. 3 GG (vgl. Rn. 82 ff.) zur Begründung der Abwägungsfestigkeit der Bestimmung überzeugt nicht.

(1) Art. 103 Abs. 3 GG stellt, wie der Senat zutreffend festhält, eine besondere Ausprägung des im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Vertrauensschutzes dar, die ausschließlich für das strafrechtliche Verfahren gilt. Dieses besondere Vertrauen, das über das allgemeine Vertrauen in eine rechtskräftige Entscheidung hinausgehe, beruhe darauf, dass ihm unbedingter Vorrang gegenüber etwaigen Korrekturinteressen des Gesetzgebers zukomme. Diese Feststellung setzt indes voraus, dass der Verfassungsgeber eine solche absolute Vorrangentscheidung der Rechtssicherheit vor dem ebenfalls verfassungsrechtlich verbürgten Prinzip der materialen Gerechtigkeit tatsächlich getroffen hat. Dies ist indes nach unserem Dafürhalten nicht der Fall. Vielmehr hat der Verfassungsgeber die von ihm damals im einfachen Recht vorgefundenen Wiederaufnahmetatbestände unangetastet gelassen. Bei diesen Wiederaufnahmetatbeständen zuungunsten des Betroffenen handelt es sich - wie auch der Senat im Anschluss an die bisherige Rechtsprechung feststellt (vgl. Rn. 118 unter Hinweis auf BVerfGE 3, 248 <252 f.>; 65, 377 <384>) - um verfassungsimmanente Beschränkungen des Art. 103 Abs. 3 GG. Es ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund der Gesetzgeber daran gehindert sein sollte, weitere Ausnahmen vom Grundsatz ne bis in idem vorzusehen, wenn sie den allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Zulässigkeit solcher Beschränkungen genügen und sich demgemäß als zulässige Konkretisierungen immanenter Schranken des Art. 103 Abs. 3 GG darstellen. Die von der Senatsmehrheit insoweit angeführten Unterschiede zwischen den bestehenden Wiederaufnahmegründen in § 362 Nr. 1-3 StPO (propter falsa), § 362 Nr. 4 StPO (glaubwürdiges Geständnis nach Freispruch) und der streitgegenständlichen Norm des § 362 Nr. 5 StPO (vgl. Rn. 117 ff.), die eine Wiederaufnahme wegen neuer Beweismittel und Tatsachen zulässt, sind nicht geeignet, eine derart kategoriale Differenzierung in Hinblick auf die Abwägungsfestigkeit zu tragen. Die Senatsmehrheit macht insoweit zunächst geltend, die bestehenden Wiederaufnahmeregelungen zielten nicht vorrangig auf die Änderung des materiellen Entscheidungsinhalts, sondern ermöglichten die Aufhebung eines Strafurteils aus anderen Gründen (vgl. Rn. 115, 117). Dem steht bereits entgegen, dass - worauf die Senatsmehrheit selbst hinweist (vgl. Rn. 119) - die Wiederaufnahme gemäß § 370 Abs. 1, 2. Alt. StPO entfällt, wenn ausgeschlossen ist, dass die in § 362 Nr. 1 und 2 StPO bezeichneten Handlungen Einfluss auf die Entscheidungen gehabt haben.

(2) Aus unserer Sicht bestätigen die bestehenden, auch von der Senatsmehrheit in Hinblick auf Art. 103 Abs. 3 GG als unbedenklich angesehenen Regelungen, dass eine Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen strafgerichtlichen Verfahrens zuungunsten des Betroffenen in Betracht kommen kann, wenn das Gewicht der Wiederaufnahmegründe und das dahinterstehende Anliegen einer materiell schuldangemessenen Sanktionierung als Ausdruck einer effektiven Strafrechtspflege den grundsätzlichen Bestand rechtskräftiger Entscheidungen ausnahmsweise überwiegt. Für die in § 362 Nr. 1-4 StPO normierten Tatbestände ist der Verfassungsgeber von einem solchen Überwiegen unstreitig ausgegangen. Eine Durchbrechung der Rechtskraft durch Wiederaufnahme ist danach dann zulässig, wenn das betreffende Strafverfahren unter schweren Verfahrensmängeln gelitten hat (§ 362 Nr. 1-3 StPO) und somit rechtsstaatlichen Grundanforderungen nicht genügt sowie im Fall eines glaubwürdigen Geständnisses des Freigesprochenen (§ 362 Nr. 4 StPO). Dies dokumentiert, dass es verfassungsrechtlich zulässige Fälle gibt, in denen der in Art. 103 Abs. 3 GG normierte Vorrang der Rechtssicherheit zurücktritt und eine absolute Abwägungsfestigkeit der Norm folglich nicht gegeben ist.

(a) In diese „überkommene Matrix des vorgrundgesetzlichen Wiederaufnahmerechts“ lässt sich der streitgegenständliche § 362 Nr. 5 StPO einordnen (vgl. Gärditz, Stellungnahme zum Entwurf eines „Gesetzes zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“, Anlage zum Wortprotokoll der 160. Sitzung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages am 21. Juni 2021, Protokoll-Nr. 19/160, S. 53 <56 f.>). Hierauf hebt auch die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 362 Nr. 5 StPO ausdrücklich ab (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 7 ff.). Ein Paradigmenwechsel ist mit dieser Bestimmung entgegen der Annahme der Senatsmehrheit (vgl. Rn. 114 ff.) nicht verbunden. Die überkommenen Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO sehen eine Wiederaufnahme bei schweren Verfahrensmängeln (§ 362 Nr. 1-3 StPO) vor. In diesen Fällen geht es um die Ermöglichung einer Korrektur einer qualifiziert defizitären Beweisführung, die keinen Bestand haben soll und in deren Gefolge eine erneute (und auch schwerere) Verurteilung zulässig ist. Hierbei liegen die Hürden mit einer Urkundenfälschung oder einer strafbaren Falschaussage, die nach herrschendem Verständnis nicht in der Sphäre des Angeklagten zu verorten sein muss (vgl. nur Singelnstein, in: Graf, BeckOK StPO, § 362 Rn. 4 <Jan. 2023>; Tiemann, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 362 Rn. 8), nicht einmal besonders hoch. Im Fall des § 362 Nr. 5 StPO geht es ebenfalls um die Korrektur eines Freispruches, der aufgrund von Beweismitteldefiziten in der ursprünglichen Hauptverhandlung, die allerdings erst im Nachhinein offenbar geworden sind, zustande gekommen ist (zu den Anforderungen an die Neuheit der Tatsachen und Beweismittel vgl. unten Rn. 37). Soweit die Senatsmehrheit auf Vorwirkungen der Wiederaufnahmemöglichkeit und die ratio legis des § 362 Nr. 1-3 StPO hinweist, wonach niemand die Früchte einer strafbaren Handlung genießen soll (vgl. Rn. 120), ändert dies nichts daran, dass der damit verbundenen Durchbrechung der Rechtskraft Art. 103 Abs. 3 GG nicht entgegensteht. Warum dies für den seltenen Ausnahmefall des Auftauchens schwerwiegender Tatsachen und Beweismittel für schwerste, unverjährbare Verbrechen anders und jegliche Abwägung im Rahmen des Art. 103 Abs. 3 GG von vornherein ausgeschlossen sein soll, erschließt sich nicht.

Dies gilt erst recht mit Blick auf § 362 Nr. 4 StPO. Im Fall des nachträglichen glaubwürdigen Geständnisses (§ 362 Nr. 4 StPO) ist die Beweislage zulasten des Freigesprochenen verändert mit der Folge, dass eine Wiederaufnahme möglich wird. Nicht anders verhält es sich bei § 362 Nr. 5 StPO, der voraussetzt, dass neue Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe für eine Verurteilung bilden. Für die Wiederaufnahmemöglichkeit im Fall des Geständnisses wird weiter angeführt, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung erschüttert würde, wenn sich ein Straftäter im Nachhinein seiner Straftat ohne Konsequenzen berühmen könnte (vgl. Tiemann, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 362 Rn. 1a). Auch die Senatsmehrheit macht geltend, Zweck der Norm sei es, ein Verhalten zu verhindern, das die Autorität des rechtsstaatlichen Strafverfahrens infrage stellen würde (vgl. Rn. 122). In vergleichbarer Weise begründet der Gesetzgeber die Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO mit einer nachhaltigen Störung des Rechtsfriedens, wenn der infolge des Auftauchens neuer qualifizierter Beweismittel einer der dort erfassten schwersten Verbrechen dringend Verdächtige endgültig straflos bleibt (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 9). Seine Einschätzung, dass in den Fällen des § 362 Nr. 5 StPO der Verzicht auf die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu einer Beeinträchtigung der Autorität des Rechtsstaates führen kann, dürfte verfassungsrechtlich nicht anders zu beurteilen sein wie in den Fällen nachträglicher Geständnisse gemäß § 362 Nr. 4 StPO.

(b) Abgesehen davon, dass mit der Auffassung der Senatsmehrheit, die den § 362 Nr. 5 StPO wegen der Absolutheit der Gewährleistung des Art. 103 Abs. 3 GG dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit unterwerfen, zugleich aber die Aufnahmetatbestände der § 362 Nr. 1-4 StPO als vom Verfassungsgeber in den Art. 103 Abs. 3 GG inkorporierte immanente Beschränkungen für verfassungskonform halten möchte, Zufälligkeiten einer vorkonstitutionellen Rechtslage verfassungsrechtlich versteinert würden (vgl. Hörnle, GA 2022, S. 184 <188>), sind mit dieser Sicht schwerlich auflösbare Wertungswidersprüche verbunden. Denn es ist kaum zu erklären, aus welchem Grunde ein Freigesprochener, der in einem Wirtschaftsstrafverfahren von einer gefälschten Urkunde profitiert hatte (die er noch nicht einmal selbst gefälscht haben muss), sich einer erneuten Anklage stellen muss, dagegen aber nicht jemand, der in einem Verfahren wegen Mordes durch ein molekulargenetisches Gutachten der Täterschaft überführt wird (Beispiele in Anlehnung an Hörnle, GA 2022, S. 184 <188>). Ebenso dürfte kaum vermittelbar sein, warum in einem Fall, in dem nach einem Freispruch ein Täter, der Kriegsverbrechen gesteht, erneut angeklagt werden darf, während sein ebenfalls freigesprochener Komplize, der kein Geständnis ablegt, auch im Gefolge des Auftauchens neuer erdrückender Beweise straflos bleibt. Zur Vermeidung derartiger Widersprüche fordern einzelne Stimmen in der Literatur sogar, § 362 Nr. 1-4 StPO insgesamt als verfassungswidrig einzuordnen, um dem Grundsatz der Rechtssicherheit ausnahmslos Geltung zu verschaffen (vgl. Dünnebier, in: Festgabe für Karl Peters, 1984, S. 333 <346>; Brade, AöR 146 <2021>, S. 130 <170 f.>; kritisch auch Hoven, JZ 2021, S. 1154 <1162>). Eine solche Lösung wäre konsequent, stünde allerdings im Widerspruch zum Willen des Verfassungsgebers (vgl. Rn. 8 f. der abweichenden Meinung m.w.N.), zur bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 3, 248 <252>; 12, 62 <66>; 56, 22 <34>; 65, 377 <384>) und zur Auffassung der Senatsmehrheit (vgl. Rn. 117 ff.).

cc) (1) Auch Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG erfordern - anders, als die Senatsmehrheit meint (vgl. Rn. 87 ff.) - nicht seine Abwägungsfestigkeit. Der Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG als Individualrecht besteht darin, den staatlichen Strafanspruch um der Rechtssicherheit des Einzelnen willen zu begrenzen. Deshalb unterliegt die Strafverfolgung einem geregelten Verfahren, nach dessen Abschluss eine erneute Strafverfolgung grundsätzlich ausscheidet. Art. 103 Abs. 3 GG beschränkt damit die Durchsetzung des Legalitätsprinzips (vgl. BVerfGE 56, 22 <31 f.>). Daneben dient Art. 103 Abs. 3 GG auch dem Rechtsfrieden. Diese Grundentscheidung wird durch eine Beschränkung des Art. 103 Abs. 3 GG, die im Ausnahmefall dem Strafanspruch des Staates zur Herstellung materialer Gerechtigkeit den Vorrang einräumt, indes nicht aufgehoben. In der Tat besteht ein vom Einzelnen unabhängiges Bedürfnis der Gesellschaft an einer endgültigen Feststellung der Rechtslage, um Rechtsfrieden herzustellen. Andererseits darf der Gesetzgeber berücksichtigen, dass der Rechtsfrieden auch Schaden erleiden kann, wenn im Falle schwerster Straftaten im Sinne von § 362 Nr. 5 StPO ein Betroffener trotz erdrückender Beweise straflos bleibt. Der Notwendigkeit möglichst lückenloser Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in solchen Fällen hat der Gesetzgeber durch die Anordnung der Unverjährbarkeit dieser Straftaten Rechnung getragen. Es erschließt sich uns nicht, dass die Berücksichtigung der dem zugrundeliegenden Wertung bei der Frage der Wiederaufnahme von vornherein ausgeschlossen sein soll.

(2) Das in der Literatur geäußerte Bedenken, mit einer Erweiterung der Wiederaufnahmetatbestände zuungunsten des Betroffenen propter nova werde Tor und Tür geöffnet hin zu einer faktischen Preisgabe des Mehrfachverfolgungsverbots (vgl. Frister/Müller, ZRP 2019, S. 101 <104>), entbehrt angesichts der hohen Hürden, die der Gesetzgeber für eine Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO errichtet hat, einer nachvollziehbaren Grundlage. § 362 Nr. 5 StPO markiert keine Aushebelung des durch Art. 103 Abs. 3 GG vorgegebenen Regel-Ausnahme-Verhältnisses, sondern eröffnet die Möglichkeit der Wiederaufnahme für einen eng begrenzten, extremen Ausnahmefall, der in einem hohen, über die bisher geregelten Ausnahmefälle hinausgehenden Maße geeignet ist, das Vertrauen in den Rechtsstaat zu erschüttern. Es ist nicht absehbar, dass die bestehenden anspruchsvollen verfassungsrechtlichen Sicherungen eine angeblich drohende Fehlentwicklung nicht verhindern könnten. Neben der Sache liegen deshalb auch der Hinweis auf die uferlose Durchbrechung des Prinzips der Rechtskraft unter der Herrschaft des Nationalsozialismus und die Behauptung, dass mit § 362 Nr. 5 StPO das „grundrechtsgleiche Recht aus Art. 103 III GG (…) ein zweites Mal nach 1933 ausgehöhlt“ werde (Frister/Müller, ZRP 2019, S. 101 <103>). In der Tat reagierte der Verfassungsgeber mit der Aufnahme des Art. 103 Abs. 3 in das Grundgesetz auf die vollständige Preisgabe des Grundsatzes ne bis in idem im nationalsozialistischen Recht (vgl. Rn. 64 m.w.N.; im Einzelnen dazu auch Hoven, JZ 2021, S. 1154 <1159 f.>). Abgesehen davon, dass eine solche Gefahr mit der Schaffung des eng gefassten § 362 Nr. 5 StPO offensichtlich nicht verbunden ist, steht die Norm heute in einem rechtsstaatlich abgesicherten Rahmen, der im Nationalsozialismus völlig abwesend war.

4. Der Strafklageverbrauch nach Art. 103 Abs. 3 GG steht demgemäß einer weiteren Einschränkung durch eine Ergänzung der Wiederaufnahmegründe durch § 362 Nr. 5 StPO nicht grundsätzlich entgegen. Der verfassungsrechtliche Belang, der in die gebotene Abwägung einzustellen ist, ist der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde staatliche Strafanspruch. Die Ermöglichung der Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO propter nova dient der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches bei wenigen besonders schweren Straftaten. Das dahinterstehende Ziel ist die Stabilisierung und Sicherung des Rechtsfriedens und die Durchsetzung von Normen zum Schutz höchstrangiger subjektiver Rechtsgüter (a und b) und von fundamentalen völkerrechtlichen Interessen (c).

a) Den Erfordernissen einer an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege weist das Grundgesetz einen hohen Rang zu (vgl. BVerfGE 80, 367 <375>). Ohne die rechtsstaatlich gebotene Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege kann der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222>; 122, 248 <272>; 130, 1 <26>). Hierzu zählt, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden (vgl. BVerfGE 33, 367 <383>; 46, 214 <222>; 122, 248 <272 f.>; 133, 168 <199 Rn. 57>). Zugleich dient die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches dem Rechtsgüterschutz. Verhaltensnormen, die grundlegende Freiheitsrechte wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit schützen, sind in besonderer Weise auf die Durchsetzung durch die staatlichen Organe angewiesen. Indem der Staat von Opfer und Angehörigen erwartet, dass sie nicht selbst Vergeltung üben und das staatliche Gewaltmonopol achten, muss er die Verantwortung für die Sanktionierung rechtsgüterverletzenden Verhaltens übernehmen (vgl. Hoven, JZ 2021, S. 1154 <1158>; Hörnle, Straftheorien, 2. Aufl. 2017, S. 36 <41>).

Die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches im Wege der schuldangemessenen Bestrafung schweren Unrechts auf der Grundlage einer zutreffenden Tatsachenermittlung ist das Kernanliegen des Strafrechts und damit ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit (vgl. BVerfGE 51, 324 <343 f.>; 107, 104 <118 f.>). Die Gesetzesbegründung zu § 362 Nr. 5 StPO formuliert als Anliegen die Herbeiführung einer materiell schuldangemessenen Bestrafung einer Straftat von erheblichem Gewicht. Damit solle dem Befriedungsanliegen, das hinter Art. 103 Abs. 3 GG stehe, gerade zur Wirkung verholfen werden (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 9). Dieses Anliegen des Gesetzgebers, der effektiven Strafverfolgung und der Durchsetzung des materiellen Strafrechts gegenüber der Rechtssicherheit im Fall schwerster Straftaten den Vorrang zu geben, ist legitim und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Freispruch eines Angeklagten, der die Tat tatsächlich begangen hat, mag das Ergebnis eines justizförmigen, rechtsstaatlich nicht zu beanstandenden Verfahrens sein; gleichwohl verfehlt es das wesentliche Anliegen des Strafrechts, nämlich die Ahndung von Unrecht und die damit verbundene Befriedungswirkung des Strafverfahrens. Dass der Staat Unrecht ahndet, ist indessen die berechtigte Erwartung der Bürger und Bürgerinnen und rechtsstaatlicher Auftrag. Je schwerer das Verbrechen ist, um das es im konkreten Fall geht, je erdrückender die neu aufgetauchten Tatsachen und Beweismittel sind, desto drängender stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von materialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Dieses Verhältnis hat der Gesetzgeber in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise vorliegend zugunsten der ausnahmsweisen Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches auch nach rechtskräftigem Freispruch aufgelöst.

b) In der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches verwirklichen sich schließlich die Belange von Opfern und deren Angehörigen. Nach der Kammerrechtsprechung des Zweiten Senats kann ein grundrechtlich radizierter Anspruch auf Strafverfolgung Dritter bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit der Person dort bestehen, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter abzuwehren, und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 10; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 11; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 20; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Januar 2020 - 2 BvR 1763/16 -, Rn. 35 f.). Die wirksame Verfolgung von Gewaltverbrechen und vergleichbaren Straftaten dieser Art stellt eine Konkretisierung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Sätze 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG dar und ist ein wesentlicher Auftrag des rechtsstaatlichen Gemeinwesens (vgl. BVerfGE 29, 183 <194>; 77, 65 <76>; 80, 367 <375>; 100, 313 <388 f.>; 107, 299 <316>; 122, 248 <272 f.>). Bei Kapitaldelikten kann ein Anspruch auf Strafverfolgung auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG auch nahen Angehörigen zustehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 20; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 2018 - 2 BvR 1550/17 -, Rn. 38; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Dezember 2022 - 2 BvR 378/20 -, Rn. 52).

Der in der Kammerrechtsprechung angenommene Anspruch auf effektive Strafverfolgung umfasst allerdings nur die Strafverfolgung als solche. Ein darüberhinausgehender Anspruch auf eine inhaltliche Korrektur eines Strafurteils im Rahmen einer Wiederaufnahme besteht nicht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 14; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2014 - 2 BvR 1568/12 -, Rn. 15; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Mai 2015 - 2 BvR 987/11 -, Rn. 24; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 15. Januar 2020 - 2 BvR 1763/16 -, Rn. 42; vgl. auch Rn. 135; a.A. Hörnle, GA 2022, S. 184 <190 ff.>). Dessen ungeachtet ist der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht daran gehindert, in Erfüllung und Konkretisierung der ihm obliegenden Schutzpflicht für Leib und Leben bei schwersten Gewaltverbrechen die Möglichkeit der Wiederaufnahme auch nach rechtskräftigem Freispruch und auch jenseits von bestehenden Ansprüchen auf Strafverfolgung zuzulassen, um eine effektive Strafverfolgung zu ermöglichen.

c) Die in § 362 Nr. 5 StPO vorgesehene Wiederaufnahme im Fall völkerrechtlicher Verbrechen effektuiert den staatlichen Strafanspruch im Sinne der Durchsetzung fundamentaler völkerrechtlicher Interessen.

aa) § 362 Nr. 5 StPO sieht die Wiederaufnahme für Mord (§ 211 Strafgesetzbuch) und drei völkerstrafrechtliche (Kern-)Verbrechen vor. Es handelt sich um die Straftatbestände des Völkermords (§ 6 Abs. 1 Völkerstrafgesetzbuch), bestimmter Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Völkerstrafgesetzbuch) und von Kriegsverbrechen gegen das Leben einer Person (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 Völkerstrafgesetzbuch). Diese Straftatbestände hat der deutsche Gesetzgeber im 2002 geschaffenen Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) zusammen mit anderen völkerstrafrechtlichen Tatbeständen geregelt (Völkerstrafgesetzbuch vom 26. Juni 2002 <BGBl I S. 2254>, geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 22. Dezember 2016 <BGBl I S. 3150>). Die im Völkerstrafgesetzbuch niedergelegten Verbrechenstatbestände (§§ 6-12 VStGB) unterliegen dem Weltrechtsprinzip (§ 1 VStGB), wonach die Verfolgung dieser Straftaten unabhängig vom Tatort und der Staatsangehörigkeit von Täter und Opfer ist (im Einzelnen dazu Kreicker, in: Eser/Sieber/Kreicker, Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Teilband 7 - Völkerstrafrecht im Ländervergleich, 2006, S. 191 ff.). Die zunehmende Akzeptanz des Weltrechtsprinzips im internationalen wie auch im nationalen Recht ist Teil eines umfassenden Strukturwandels des Völkerrechts, der mit der Anerkennung eines Korpus von Regeln als ius cogens einen Konstitutionalisierungsprozess des Völkerrechts eingeleitet hat und der souveränen staatlichen Handlungsfreiheit Grenzen setzt. Das als Geburtsstunde des modernen Völkerstrafrechts geltende Urteil des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg von 1946 führte zur raschen Akzeptanz der sogenannten Kernverbrechen (core crimes), die auch Gegenstand der §§ 6-13 VStGB sind (vgl. dazu Ambos, in: MünchKomm StGB, 4. Aufl. 2022, § 1 VStGB Rn. 1). An diese Entwicklung knüpfte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an, als er 1993 und 1994 auf der Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (Statut abgedruckt in: BTDrucks 13/57, dort auch deutsche Übersetzung) und den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda errichtete (Statut abgedruckt in: BTDrucks 13/7953, dort auch deutsche Übersetzung). Der Internationale Strafgerichtshof wurde sodann auf der Grundlage des Römischen Statuts am 17. Juli 1998 (BGBl II 2000 S. 1393) ins Leben gerufen, das am 1. Juli 2002 in Kraft trat.

Die Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen durch internationale Strafgerichte ist wegen deren begrenzter Zuständigkeiten und Kapazitäten jedoch immer noch unvollständig. Die Wirksamkeit des Völkerstrafrechts hängt damit entscheidend von seiner dezentralen Anwendung durch die nationalen Strafverfolgungsbehörden ab. Diese Auffassung liegt auch dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch zugrunde, wenn es in der dortigen Gesetzesbegründung heißt: „Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch spiegelt die Entwicklung des humanitären Völkerrechts und des Völkerstrafrechts wider und stellt eigenständige, auf die spezifische Rechtsmaterie zugeschnittene strafrechtliche Regelungen bereit. Hierin liegt rechtssystematisch und rechtspolitisch ein erheblicher Fortschritt gegenüber der bisherigen Praxis der Anwendung der allgemeinen deutschen Strafrechtsbestimmungen auf Kernverbrechen nach dem Völkerrecht und zugleich ein Beitrag zur Konsolidierung des Völkerstrafrechts“ (BTDrucks 14/8524, S. 12).

bb) Bei völkerrechtlichen Verbrechen geht es nicht nur um den Schutz individueller Interessen, sondern um fundamentale Belange der gesamten Völkerrechtsgemeinschaft. Jeder Staat ist durch völkerrechtliche Verbrechen betroffen; die Rechtsverletzung wirkt erga omnes, verletzt mithin die Rechte aller Staaten, die ein legitimes Interesse daran haben, dass der Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Menschheit nicht durch die Begehung völkerrechtlicher Verbrechen gefährdet werden (vgl. Ambos, in: MünchKomm StGB, 4. Aufl. 2022, § 1 VStGB Rn. 5 f.; Kreicker, in: Eser/Sieber/Kreicker, Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Teilband 7 - Völkerstrafrecht im Ländervergleich, 2006, S. 20 f. mit zahlreichen Nachweisen). Die Begehung völkerrechtlicher Verbrechen gehört daher ebenso wie die sonstiger schwerer Menschenrechtsverletzungen nicht zu den inneren Angelegenheiten eines Staates. Jedenfalls bei den Kernverbrechen des Völkerstrafrechts - dazu gehören Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gegen das Leben - dürfte jeder Staat als befugt anzusehen sein, diese Verbrechen nach dem Weltrechtsprinzip zu ahnden (vgl. näher dazu und zu den Notwendigkeiten einer entsprechenden transnationalen Koordinierung der Strafverfolgung Ambos, in: MünchKomm StGB, 4. Aufl. 2022, § 1 VStGB Rn. 14 f., 21 ff.).

cc) Darüber hinaus bestehen auch staatliche Pflichten zur Verfolgung völkerstrafrechtlicher Verbrechen, darunter auch derjenigen, die von § 362 Nr. 5 StPO erfasst werden. Sie folgen für die Bundesrepublik Deutschland aus völkerrechtlichen Verträgen, die sie ratifiziert hat (vgl. betreffend den Völkermord die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9. Dezember 1948 <BGBl II 1954 S. 730>; für Kriegsverbrechen sind die Genfer Abkommen I-IV vom 12. August 1949 <BGBl II 1954 S. 781, 783, 813, 838, 917> und das I. Zusatzprotokoll zu diesen Abkommen vom 8. Juni 1977 <BGBl II 1990 S. 1551> maßgeblich; vgl. im Einzelnen dazu Kreicker, in: Eser/Sieber/Kreicker, Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Teilband 7 - Völkerstrafrecht im Ländervergleich, 2006, S. 9 ff.). Daneben folgen Strafverfolgungspflichten für völkerrechtliche Verbrechen nach verbreiteter, wenn auch nicht unbestrittener Auffassung auch aus dem Völkergewohnheitsrecht, wenn auch beschränkt auf Taten eigener Staatsangehöriger und begrenzt auf den Tatort- und Aufenthaltsstaat des Beschuldigten (vgl. Kreicker, in: Eser/Sieber/Kreicker, Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Teilband 7 - Völkerstrafrecht im Ländervergleich, 2006, S. 12 ff. m.w.N. zum Meinungsstand). Das nationale Recht trägt diesen Verpflichtungen durch die Aufnahme entsprechender Straftatbestände in das Völkerstrafgesetzbuch Rechnung (§§ 6-8 VStGB). § 1 VStGB erstreckt die deutsche materielle Strafgewalt entsprechend dem Weltrechtsprinzip allerdings auch darüber hinaus auf völkerrechtliche Verbrechen unabhängig von Tatort und Staatsangehörigkeit von Opfer und Täter. Bei der Verfolgung völkerrechtlicher Verbrechen werden die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nicht nur im nationalen, sondern zugleich im Interesse der gesamten Staatengemeinschaft, als Teil eines Völkerstrafjustizsystems („international criminal justice system“, vgl. Ambos, in: MünchKomm StGB, 4. Aufl. 2022, § 1 VStGB Rn. 2) tätig. Das Völkerstrafrecht verlangt dabei, dass die Strafverfolgung effektiv und die verhängten Sanktionen gegen Beschuldigte tat- und schuldangemessen sind.

Die Möglichkeit der Wiederaufnahme nach rechtskräftigem Freispruch durch ein deutsches Gericht im Fall von Nova, die dringende Gründe dafür bieten, dass eine Verurteilung wegen einer der von § 362 Nr. 5 StPO erfassten völkerrechtlichen Kernverbrechen erfolgen wird, dient der Stärkung der strafrechtlichen Verfolgung dieser Taten und damit der Vermeidung der Straflosstellung der Täter. Letzteres ist - wie gezeigt - zentrales Anliegen des modernen Völkerstrafrechts. Gerade im Zusammenhang mit der typischerweise besonders schwierigen Aufklärung der von § 362 Nr. 5 StPO erfassten völkerrechtlichen Verbrechen, deren Begehung regelmäßig im Kontext von internationalen oder innerstaatlichen gewaltsamen Auseinandersetzungen steht, ist davon auszugehen, dass beweiskräftige Nova nicht selten erst Jahre nach den Taten verfügbar sind oder erst später entwickelte Software in gespeichertem Datenmaterial völkerstrafrechtliche Zusammenhänge sicher erkennen kann, die bis dahin verborgen geblieben sind (zur Bedeutung digitaler Beweismittel bei der Aufklärung derartiger Verbrechen vgl. Koenig, JICJ 2022, S. 829 ff.; D’Alessandra/Sutherland, JICJ 2021, S. 9 ff.; Freeman, JICJ 2021, S. 35 ff.). Auch vor diesem Hintergrund kann die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO als Ausdruck eines völkerrechtsfreundlichen Verständnisses des staatlichen Strafanspruches im Sinne von dessen weiterer Effektuierung verstanden werden.

dd) Das hier beschriebene Verständnis der Reichweite des staatlichen Strafanspruchs steht im Einklang mit dem geltenden Völkerstrafrecht, soweit dieses die innerstaatliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem (d.h. das Verbot der Mehrfachverfolgung durch innerstaatliche Gerichte) betrifft. Die transnationale Geltung des ne bis in idem-Grundsatzes ist nicht Gegenstand des Schutzgehalts von Art. 103 Abs. 3 GG. Die Möglichkeit, das Mehrfachverfolgungsverbot in begründeten Einzelfällen und unter engen Voraussetzungen innerhalb des nationalen Rechtsraums einzuschränken, ist in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR, BGBl II 1973 S. 1553) anerkannt. Das 7. Zusatzprotokoll zur EMRK (im Folgenden: 7. ZP-EMRK), das die Bundesrepublik Deutschland allerdings bislang nicht ratifiziert hat, trat im Jahr 1988 in Kraft und enthält im Wesentlichen Ergänzungen der Justiz- und Verfahrensgarantien der Art. 5-7 EMRK. Art. 4 Abs. 2 7. ZP-EMRK erlaubt die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten, wenn neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das Verfahren schwerwiegende Mängel aufwies. Eine derartige Einschränkung fehlt in Art. 14 Abs. 7 IPbpR, doch sollen auch nach dieser Bestimmung außergewöhnliche Umstände eine Wiederaufnahme rechtfertigen (vgl. Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG Konkordanzkommentar, 3. Aufl. 2022, Kap. 29 Rn. 36). Mit der Schaffung des § 362 Nr. 5 StPO zur Wiederaufnahme propter nova bewegt sich der Gesetzgeber in dem von Art. 4 Abs. 2 7. ZP-EMRK vorgegebenen Rahmen.

Auch der in Art. 50 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh) verankerte Grundsatz ne bis in idem, dessen Anwendbarkeit ohnehin nur in Betracht kommt, wenn es um die Anwendung und Durchführung von Unionsrecht geht, soll den üblichen Regeln zur Rechtfertigung von Eingriffen nach Art. 52 Abs. 1 GRCh unterliegen, also verhältnismäßigen Einschränkungen im Interesse überwiegender Gemeinwohlbelange zugänglich sein (vgl. Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG Konkordanzkommentar, 3. Aufl. 2022, Kap. 29 Rn. 40). Ein über Art. 103 Abs. 3 GG hinausgehender Schutz wird Art. 50 GRCh jedenfalls nicht entnommen. Dies gilt auch, soweit über Art. 52 Abs. 3 GRCh die Ausnahme des Art. 4 Abs. 2 7. ZP-EMRK herangezogen wird (vgl. Jarass, NStZ 2012, S. 611 <616>).

ee) Die Strafverfahrensordnungen zahlreicher europäischer Länder lassen die Wiederaufnahme propter nova zuungunsten der betroffenen Person zu. Eine rechtsvergleichende Analyse, die auf den Ergebnissen einer Anfrage des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des vorliegenden Verfahrens an die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) sowie auf den Ausarbeitungen der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages beruht (WD 7 - 3000 - 262/18 und WD 7 - 3000 - 007/22) und insgesamt 32 (im Wesentlichen europäische) Staaten in den Blick nimmt (vgl. Rn. 20 f. des Urteils), ergibt, dass eine Wiederaufnahme zuungunsten des Betroffenen in der Mehrheit der betrachteten Staaten möglich ist. In nur sieben Staaten ist die ungünstige Wiederaufnahme insgesamt unzulässig. In weiteren sieben Staaten ist eine ungünstige Wiederaufnahme eines Strafverfahrens beschränkt auf gefälschte Beweismittel, Falschaussagen oder andere Verfahrensfehler wie Korruption, Bestechung oder Amtsmissbrauch. In 17 der untersuchten Staaten ist dagegen, wenngleich mit Unterschieden in den Einzelheiten, eine ungünstige Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen und Beweismittel möglich.

5. Ob § 362 Nr. 5 StPO in seiner konkreten Ausgestaltung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne genügt (a) und sich als hinreichend bestimmt erweist (b), bedürfte näherer Betrachtung.

a) aa) Von der Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO geht eine erhebliche Beeinträchtigung der durch Art. 103 Abs. 3 GG gewährleisteten individuellen Rechtssicherheit des Freigesprochenen aus. Sie darf nicht zu unzumutbaren Risiken für die Betroffenen führen, ihr Leben lang unter dem Damoklesschwert eines erneuten Strafverfahrens leben zu müssen, ohne dass hierfür ein hinreichender Grund gegeben wäre, der vor der Verfassung Bestand hat. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erfordert es daher, dass an die Wiederaufnahme propter nova nach rechtskräftigem Freispruch sehr hohe Anforderungen gestellt werden, die Ausdruck des besonderen Gewichts sind, das der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in den erfassten Konstellationen zukommt. Dieser Anforderung ist zunächst dadurch genügt, dass eine Wiederaufnahme in § 362 Nr. 5 StPO nur bei schwersten Verbrechen vorgesehen ist. Betroffen sind nur Mord und völkerrechtliche Kernverbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gegen eine Person. Erfasst sind nur vollendete Taten und die täterschaftliche Begehung (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 10). Es handelt sich sämtlich um unverjährbare Straftaten, die besonders schweres Unrecht darstellen und durchweg mit der Höchststrafe, das heißt lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind. Wie bei § 362 Nr. 4 StPO ist auch bei § 362 Nr. 5 StPO Voraussetzung, dass der Beschuldigte im früheren Verfahren freigesprochen worden ist; bei einer lediglich zu milden Verurteilung ist eine Wiederaufnahme ausgeschlossen. Eine Wiederaufnahme kommt daher nicht in Betracht, wenn der Beschuldigte damals etwa wegen Totschlags verurteilt worden ist und nunmehr Beweise aufgetaucht sind, die dringende Gründe für einen Mordvorwurf bilden.

bb) Dem Ausnahmecharakter der Wiederaufnahme und der Notwendigkeit des Schutzes des Betroffenen wird auch durch das zweistufige Verfahren (§ 368 Abs. 1, § 370 Abs. 1 StPO) Rechnung getragen, in dessen Rahmen die neuen Tatsachen und Beweismittel im konkreten Einzelfall einer qualifizierten Überprüfung anhand der Anforderungen des § 362 Nr. 5 StPO unterzogen werden. Eine vorschnelle und übermäßige Inanspruchnahme dieses exzeptionellen Korrekturinstruments dürfte damit ausgeschlossen sein. Bei der Wiederaufnahme zuungunsten des Betroffenen nach § 362 Nr. 5 StPO kann der Antrag nur von der Staatsanwaltschaft, nicht etwa von Nebenklägern gestellt werden. Sowohl der Beschluss im Aditions- als auch im Probationsverfahren sind mit der Beschwerde anfechtbar (§ 372 i.V.m. § 311 Abs. 2 StPO).

cc) Die Angemessenheit des § 362 Nr. 5 StPO in Hinblick auf die Schwere der Beeinträchtigung der Rechte der Betroffenen setzt weiter voraus, dass Sicherungsmechanismen vorgesehen sind, die bestmöglich gewährleisten, dass ein Unschuldiger nicht ein zweites Mal einem Strafverfahren wegen derselben Tat unterworfen wird. Diese Anforderung dürfte nur dann erfüllt sein, wenn die neuen Beweismittel von einer solchen Qualität sind, dass eine Verurteilung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. Hörnle, GA 2022, S. 184 <193 f.>). Zu Recht wird an dieser Stelle verlangt, dass die neuen Tatsachen oder Beweismittel Sachverhaltskonstruktion oder Beweislage grundlegend ändern müssen. In der mündlichen Verhandlung hat die Sachverständige (…) in diesem Zusammenhang von „compelling evidence“, von einem „game changer“ gesprochen, der die Beweislage in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen müsse und damit eine Verurteilung als hoch wahrscheinlich erscheinen lasse (vgl. auch Hörnle, GA 2022, S. 184 <193 f.>). Zu prüfen wäre daher, ob der Wortlaut der Norm hinter diesem Erfordernis zurückbleibt, wenn es dort heißt, dass die neuen Beweismittel und Tatsachen dringende Gründe für die Annahme bilden (müssen), dass der Freigesprochene verurteilt wird. Das Oberlandesgericht Celle möchte an dieser Stelle eine ganz überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung genügen lassen (Beschluss vom 20. April 2022 - 2 Ws 62/22, 2 Ws 86/22 -, juris, Rn. 35; ebenso Gärditz, Stellungnahme zum Entwurf eines „Gesetzes zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“, Anlage zum Wortprotokoll der 160. Sitzung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages am 21. Juni 2021, Protokoll-Nr. 19/160, S. 53 <58>). In der Begründung zum Gesetzentwurf wird indes nur eine „große Wahrscheinlichkeit“ einer Verurteilung gefordert und zur Präzisierung auf den dringenden Tatverdacht nach den §§ 112, 112a StPO als Voraussetzung für den Erlass eines Haftbefehls verwiesen (vgl. BTDrucks 19/30399, S. 10). Ob vor diesem Hintergrund eine verfassungskonforme Auslegung des § 362 Nr. 5 StPO in Betracht kommt, die die Norm vor dem Verdikt der Unverhältnismäßigkeit im engeren Sinne bewahrt, bedürfte näherer Betrachtung, von der angesichts der Auffassung der Senatsmehrheit zur Verfassungswidrigkeit der Norm abgesehen wird.

dd) Dies gilt in Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Norm auch für die Frage nach einer Kompensation der mit der Durchführung eines zweiten Verfahrens verbundenen Belastung bei der Strafzumessung. Vorgeschlagen wird hier eine Anwendung der BGH-Rechtsprechung zur Strafmilderung bei außergewöhnlichen Umständen des Falles nach Maßgabe der sogenannten Rechtsfolgenlösung (BGHSt 30, 105; näher zu der Rechtsprechung des BGH und der Zulässigkeit einer solchen Rechtsfortbildung Schneider, in: MünchKomm StGB, 4. Aufl. 2021, § 211 Rn. 39 ff.). Im Fall der Wiederaufnahme soll nach allerdings umstrittener Ansicht ein Anwendungsfall für eine solche außergesetzliche Strafrahmenmilderung bei der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe vorliegen (in diesem Sinne Hörnle, GA 2022, S. 184 <193>). Ob unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten ein solches Vorgehen geboten und der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet wäre, dies im Normtext sicherzustellen, bleibt einer näheren Prüfung vorbehalten.

b) Zuletzt stellen sich Fragen in Hinblick auf die Bestimmtheit von § 362 Nr. 5 StPO. Die Norm stellt für die Wiederaufnahme auf „neue Tatsachen und Beweismittel (…), die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden“, dass eine Verurteilung wegen der dort erfassten Verbrechen erfolgen wird, ab. Mit dieser Formulierung greift der Gesetzgeber auf § 359 Nr. 5 StPO zurück, der die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten regelt und zu Recht geringe Anforderungen an die Neuheit der Beweismittel stellt. Danach gilt jedes Beweismittel als neu, das bei der ersten Entscheidung nicht berücksichtigt worden ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 14. September 2006 - 2 BvR 123/06 u.a. -, juris, Rn. 20). Dazu können auch Tatsachen gehören, die in der Hauptverhandlung Gegenstand der Erörterung waren, aber unter Verstoß gegen § 261 StPO in der Entscheidung nicht berücksichtigt worden sind (vgl. Hoven, JZ 2021, S. 1154 <1161> m.w.N. zur Rechtsprechung). Ein solches Verständnis von Nova würde eine Anwendung von § 362 Nr. 5 StPO in einem Umfang ermöglichen, die dem Ausnahmecharakter der Norm und dem Schutzgehalt des Art. 103 Abs. 3 GG nicht gerecht würde. Desgleichen dürften solche Beweismittel im Rahmen einer ungünstigen Wiederaufnahme ausscheiden, die zwar im früheren Verfahren schon verfügbar gewesen wären, aber aufgrund von Versäumnissen im Ermittlungsverfahren oder des Gerichts unberücksichtigt geblieben sind (vgl. in diesem Sinne Tiemann, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 362 Rn. 19a). Vor diesem Hintergrund bestehen Bedenken, ob § 362 Nr. 5 StPO dem verfassungsrechtlichen Gebot genügt, dass Grundrechtseingriffe durch den Gesetzgeber selbst entschieden werden müssen und nicht der Auslegung und Anwendung durch die Gerichte überlassen bleiben dürfen.

6. Unabhängig von bestehenden Zweifeln an der Vereinbarkeit der konkreten Ausgestaltung der streitgegenständlichen Norm mit den Grundsätzen von Verhältnismäßigkeit und Bestimmtheit liegt ein Verstoß gegen das Verbot der echten Rückwirkung aus Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 103 Abs. 3 GG vor. Der Argumentation des Senats, der wir uns anschließen, ist nur Folgendes hinzuzufügen. Auch nach unserer Ansicht ist nicht ersichtlich, dass es zur Vermeidung einer Beeinträchtigung der Rechtstreue der Bevölkerung und des Vertrauens in die Gerechtigkeit und Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung (vgl. BVerfGE 156, 354 <410 f. Rn. 151> - Vermögensabschöpfung) erforderlich wäre, die Wiederaufnahme propter nova auch auf in der Vergangenheit mit einem Freispruch rechtskräftig abgeschlossene Verfahren zu erstrecken. Diese Feststellung gewinnt aber nicht zuletzt dadurch an Überzeugungskraft, dass es dem Gesetzgeber nach unserer Ansicht für die Zukunft offensteht - im Rahmen der im Vorangegangenen aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen -, eine Ergänzung der bestehenden Wiederaufnahmetatbestände propter nova im Fall schwerster Verbrechen (vgl. Rn. 33 der abweichenden Meinung) vorzusehen und damit eine Regelung zu schaffen, die dem staatlichen Strafanspruch ausnahmsweise den Vorrang vor der Rechtssicherheit einräumt.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1243

Bearbeiter: Holger Mann