HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2023
24. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Die Meinungsfreiheit rechtfertigt keine Entscheidungsflucht

Zugl. Bespr. von BVerwG HRRS 2023 Nr. 1245

Von Prof. Dr. Erol Pohlreich, Frankfurt (Oder) [*]

A. Einleitung

Ein Wahlplakat spaltet die Rechtsprechung in zwei Lager. Anlässlich der Europawahl 2019 warb eine damals als NPD bekannte rechtsextreme Partei mit Plakaten, auf denen im rechten Drittel das Parteilogo mit Schriftzug "Widerstand – jetzt –" und im linken Zweidrittel im Hintergrund deutsche Städtenamen, je getrennt durch ein christliches Kreuz, zu sehen waren; im Vordergrund war der Slogan zu lesen: "Stoppt die Invasion:" (in Rot gedruckt) und "Migration tötet!" (in Weiß und in deutlich hervorstechender Schriftgröße). Ob dieses Wahlplakat den Straftatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 StGB erfüllt, ist Gegenstand zahlreicher, teils veröffentlichter, Gerichtsentscheidungen.[1] Überwiegend ging es dabei nicht um den staatlichen Strafanspruch, sondern um eine Strafbarkeitsprüfung als Vorfrage für das Vorliegen einer von den Plakaten ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit.

Die Ergebnisse dieser Entscheidungen könnten gegensätzlicher nicht sein, was umso bemerkenswerter ist, als stets dieselben verfassungsrechtlichen Maßstäbe zum Einsatz kamen: Während das Wahlplakat etwa in den Augen des OVG Bautzen "evident gegen den[…]Straftatbestand der Volksverhetzung" verstößt,[2] sieht das OVG Weimar hierin eine im Wahlkampf übliche und deshalb hinzunehmende Zuspitzung einer Parteiauffassung.[3] Wenn das BVerfG den Anspruch erhebt, dass seine Rechtsprechung zur Verhältnismäßigkeitsprüfung in Meinungsfreiheitsfällen die Rechtsfindung normativ zu leiten vermag und den Geboten der Berechenbarkeit des Rechts gerecht wird,[4] dürften solche Entscheidungsdivergenzen das normative Leitungsvermögen der Karlsruher Maßstäbe zumindest relativieren. Das hier besprochene und zur Veröffentlichung in der amtlichen Entscheidungssammlung vorgesehene Urteil des BVerwG, das im Gegensatz zur Münsteraner Vorinstanz die Voraussetzungen von § 130 StGB ablehnt, veranschaulicht dies.[5] Denn bemerkenswerterweise beruhen auch hier die unterschiedlichen Entscheidungsergebnisse nicht auf einer Uneinigkeit in den Maßstäben, sondern in den hieraus abzuleitenden Folgerungen für den Fall des Wahlplakats. Während das OVG Münster – wie zuvor bereits das VG Düsseldorf[6] – von der Strafbarkeit des Plakats

nach § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB ausgegangen war,[7] favorisiert das BVerwG eine zur Straflosigkeit führende Auslegung als "Kritik an der deutschen Migrationspolitik", die wohl nur der politisch Ahnungsloseste noch nachvollziehen kann.

B. Äußerungsinhalt ≠ Äußerungszweck

Damit blendet das BVerwG in erster Linie aus, dass die von ihm präferierte Deutung als "Kritik an der deutschen Migrationspolitik" nicht durch primär die Ehre der hieran beteiligten Politiker tangierende Äußerungen zum Ausdruck kommt, sondern ausschließlich auf dem Rücken derer geäußert wird, die durch Migration nach Deutschland gekommen sind. Die Meinungsfreiheit verbürgt jedoch keinen Anspruch von sich Äußernden auf eine inhaltsverdrehende, starr auf den Äußerungszweck festgelegte Auslegung.[8]

Dass es um Kritik an der Migrationspolitik geht, betrifft exklusiv den Äußerungszweck, nicht den Äußerungsinhalt. Letzterer ist aus den vom OVG Münster genannten Gründen eindeutig. Diese Gründe hätte das BVerwG von daher nicht im Wege einer revisionsrechtlich unstatthaften (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) eigenen Tatsachenwürdigung ersetzen oder ergänzen müssen. Allein mit Sicht auf einen hiermit unterstellten Äußerungszweck von einer Straflosigkeit unter dem Gesichtspunkt von § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB auszugehen, hieße aber im Ergebnis, dass im Wahlkampf jedes, wirklich jedes Mittel zulässig ist. Es muss doch aber ein Unterschied sein, ob die Bundesregierung mit schonungsloser Kritik überzogen wird oder ob die Regierungskritik durch gröbstes Verächtlichmachen allein von Bürgerinnen und Bürgern geäußert wird, ohne dass die Regierung auch nur ansatzweise in der Äußerung zur Sprache kommt.

Der Zweck einer Äußerung entspricht nicht zwingend ihrem Inhalt. Zwar hängt der grundrechtliche Schutz einer Meinungsäußerung nicht selten von dem mit ihr verfolgten Zweck ab.[9] Weil das Grundgesetz die Meinungsfreiheit um des "Kampfes der Meinungen"[10] willen verbürgt,[11] ergibt es Sinn, erst Äußerungen, die nur oder weit überwiegend der persönlichen Diffamierung dienen und ein möglicherweise zugleich verfolgtes Sachanliegen völlig in den Hintergrund drängen, im Sinne der Schmähkritik-Rechtsprechung des BVerfG[12] vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG auszunehmen. Unabhängig davon, ob man dieser Auffassung folgt oder – überzeugender – in diesen Fällen der Kundgabe ein so geringes Gewicht beimisst, dass jedenfalls das Persönlichkeitsrecht des Äußerungsbetroffenen sich durchsetzt,[13] reichen die Folgen für den sich Äußernden weit, weshalb bei der Bejahung von Schmähkritik Zurückhaltung angezeigt ist. Insofern ist es der Rechtsanwendung versagt, den Blick auf den Äußerungswortlaut zu fixieren und nur deshalb auf das Vorliegen von Schmähkritik zu schließen, sondern hat sie den Äußerungsanlass und -kontext mit zu berücksichtigen.[14] Wenn aber nun einmal die Regierung auf dem Wahlplakat der NPD textlich und auch sonst nirgends auftaucht, vermag der schlanke Hinweis des Leipziger Senats auf einen gerade nicht zur Sprache kommenden Äußerungszweck die Suche nach dem Äußerungsinhalt nicht zu ersetzen. Beim Wort genommen liefe der Beschluss des BVerwG darauf hinaus, dass Gerichte bei Äußerungen im Wahlkampf wie auf einem Wahlplakat nur einen Äußerungszweck benennen müssten, ohne dass sie diesen an den Äußerungswortlaut oder eine bildliche Darstellung anzubinden hätten; da die Suche nach einem solchen Zweck jedenfalls in Wahlkampfzeiten gewiss keine Herausforderung darstellen dürfte, wäre in solchen Zeiten das Entscheidungsergebnis stets dasselbe: kein Fall von § 130 StGB. Dann wäre aber alles sagbar, das Ergebnis also vorgezeichnet und eine interpretatorische Auseinandersetzung mit dem Äußerungswortlaut ausnahmslos sinnlos.

Wenn das BVerwG dem OVG Münster weiter entgegenhält, auf die Besonderheiten des Wahlkampfkontextes, in dem politische Parteien ihren Standpunkt überspitzt und polemisch äußern dürften, nicht näher eingegangen zu sein (Rn. 32), blendet es übrigens aus, dass das OVG sich durchaus mit der "gesellschaftlichen und politischen Diskussion" über "die hohe Zahl der in das Bundesgebiet einreisenden Ausländer insbesondere im Jahr 2015" auseinandergesetzt und letztlich eine Auslegung des Wahlplakats als Kritik an der Migrationspolitik deshalb verneint hat, weil das Plakat Einzelfälle von Tötungsdelikten generalisierend auf "die Gruppe der gesamten Migranten" bezieht.[15]

C. Parteiprogramm als auslegungserheblicher Kontext

Die Art und Weise, mit der das BVerwG die Berücksichtigungsfähigkeit des Parteiprogramms bei der Auslegung des Plakats bestreitet, ist entscheidungsflüchtig. Das OVG Münster hatte unter Rekurs auf den Kern des Parteiprogramms sein Auslegungsergebnis abgesichert[16] und zwei Kammerentscheidungen, mit denen das BVerfG begründungslos die Auslegungsrelevanz von Parteiprogrammen

ausgeschlossen habe,[17] gewichtige Argumente entgegengehalten, mit denen sich das BVerwG offenbar nicht inhaltlich auseinandersetzen will.

Dabei hatte das OVG Münster zwar durchaus anerkannt, dass unbefangenen Betrachtern keine vertieften Kenntnisse des Parteiprogramms der NPD zu unterstellen sei; allerdings sei der dauerhafte Kern ihres Parteiprogramms dem Wahlbürger als Adressaten so präsent, "dass er die Aussage auch unter Berücksichtigung dieses Wissens auslegen und verstehen muss" – jedenfalls wenn das BVerfG selbst die Verfassungswidrigkeit einer Partei durch Urteil festgestellt und dies auch damit begründet habe, diese positioniere sich in die Menschenwürde verletzender Art und Weise gegenüber Ausländern, was dem unbefangenen Betrachter auch bekannt sein müsse.[18] Die rassistische Positionierung der NPD gehöre, so der Münsteraner Senat – nach den Feststellungen des BVerfG zum "fortlaufenden und beständigen ‚Markenkern‘ der NPD, also die zentrale Aussage, mit der sie fortlaufend in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird."[19]

I. Publizität von Parteiverbots-entscheidungen

Dass diese Ausnahme eng, also auf den "Markenkern" der NPD begrenzt, zu verstehen ist, hat das BVerwG offensichtlich nicht begriffen, denn es hält dem OVG Münster einen "Rückgriff auf das Parteiprogramm" beziehungsweise die "parteiliche Programmatik" vor (Rn. 36), den das OVG in dieser Pauschalität überhaupt nicht vorgenommen hat.[20] In den engen vom OVG Münster gezogenen Grenzen überzeugt die Ausnahme und rechtfertigt sie entgegen der Auffassung des BVerwG, beim Rezipienten eine Kenntnis dieses Markenkerns als präsent zu unterstellen, zumal das BVerfG die zitierten Feststellungen im zweiten NPD-Parteiverbotsverfahren getroffen hat. Weil in jedem Parteiverbotsverfahren, sobald der Antrag weder unzulässig noch nicht hinreichend begründet ist, gemäß § 45 BVerfGG eine mündliche Verhandlung zwingend durchzuführen ist,[21] hatte das BVerfG im zweiten NPD-Parteiverbotsverfahren eine solche mündliche Verhandlung durchgeführt. Dass das BVerfG nach einer mündlichen Verhandlung gemäß § 30 Abs. 1 S. 3 BVerfGG seine das Verfahren abschließende Entscheidung "unter Mitteilung der wesentlichen Entscheidungsründe" öffentlich verkünden muss, ohne – anders als nach § 172 GVG – die Öffentlichkeit auch nur bei der Verkündung der Gründe ausschließen zu dürfen,[22] unterstreicht die besondere Publizität bundesverfassungsgerichtlicher Judikate in Parteiverbotsverfahren und erklärt, warum man bei verständigen Personen die Kenntnis der Kernaussagen solcher Entscheidungen, auf die sich das OVG stützte, durchaus als präsent voraussetzen darf. Selbst wenn man es anders sieht, bleibt die vom OVG Münster gebildete Ausnahme von der grundsätzlichen Auslegungsirrelevanz von Parteiprogrammen zumindest diskutabel. Ob sie im Schlossbezirk überzeugt, wird man freilich nicht erfahren, weil das BVerwG sich der Diskussion verschließt, indem es den Rekurs auf das Parteiprogramm mangels Präsenz in den Köpfen der Rezipienten apodiktisch ablehnt. Dem BVerfG nimmt es damit eine geeignete Gelegenheit, seine bisherige Haltung zu hinterfragen. Von gründlicherer Auseinandersetzung mit den fundierten Argumenten aus Münster sieht sich der Senat offenbar dadurch entlastet, dass das BVerfG in einer Eilentscheidung "auch in Bezug auf die NPD ausdrücklich ausgeschlossen[habe], die Parteiprogrammatik zur Bestimmung des Bedeutungsinhalts (eines Wahlwerbespots) heranzuziehen" (Rn. 36). Ein inhaltliches Argument, warum dieser Ausschluss des Parteiprogramms aus dem Kreis des auslegungsrelevanten Kontextes ungeachtet der vom OVG Münster genannten Argumente richtig ist, sucht man vergebens.

II. Selektive Wahrnehmung von Karlsruher Judikaten

Dass das BVerfG in dem maßgeblich in Bezug genommenen Eilbeschluss gerade keine Entscheidung über die Einordnung des gleichen Wahlplakats getroffen hat, erfährt der Leser nicht. Mit diesem Eilbeschluss lehnte das BVerfG einen Eilantrag der NPD ab, die Stadt Zittau zu verpflichten, drei Wahlplakate mit derselben Gestaltung wie in dem vom BVerwG entschiedenen Fall unverzüglich wieder an ihren alten Standorten aufzuhängen. Den Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens in der Hauptsache erachtete die Kammer ausdrücklich für offen,[23] sodass ihr Eilbeschluss gerade keine Entscheidung darüber beinhaltete, ob der Einsatz des Wahlplakats im Wahlkampf gegen § 130 StGB verstieß oder nicht. Soweit sich das BVerfG in diesem Eilbeschluss überhaupt zu dieser Frage verhielt, ging es allein darum, inwieweit die Fachgerichte im Ausgangsverfahren die Plakate mit tragfähiger Begründung als Volksverhetzung eingeordnet hatten. Im Ausgangsverfahren hatte das VG Dresden seine Einordnung auf zwei Annahmen gestützt: Erstens vermittele alleine der Wortlaut des Slogans "Migration tötet!" dem unbefangenen Betrachter den Eindruck, sämtliche in der Bundesrepublik lebende Ausländer oder Migranten seien als potentielle Straftäter von Tötungsdelikten anzusehen.[24] Und zweitens sei "Widerstand – jetzt" als Aufforderung an die Bevölkerung zum tatsächlichen Widerstand zu verstehen.[25] Das BVerfG hielt der ersten Annahme entgegen, dass sie außer Acht lasse, dass der Satz "Migration

tötet!" im "Kontext eines Wahlkampfes steht und in abstrakter Weise auf vermeintliche Folgen der Migration aufmerksam machen will und insoweit auf einzelne Straftaten – die freilich als grundsätzliches Phänomen gedeutet werden – hinweist." Auch der zweiten Annahme hielt das BVerfG entgegen, dass sie den Wahlkampfkontext außer Acht lasse.[26]

Schon weil das BVerfG selbst indessen eine Unzulässigkeit des Plakats mit anderer Begründung nicht ausschloss und sich die Begründungen des VG Dresden einerseits und des OVG Münster andererseits im Ansatz wie in der Begründungstiefe deutlich voneinander unterscheiden, überzeugt es nicht, wenn das BVerwG sich einer selbst begründeten Positionierung unberechtigterweise dadurch entzieht, dass es auf einen BVerfG-Beschluss verweist, der sich zu den vom OVG Münster angesprochenen weiteren Aspekten nicht verhält. Überhaupt macht der Leipziger Blick auf die Karlsruher Rechtsprechung einen doch sehr selektiven Eindruck, wenn etwa ein Kammerbeschluss des BVerfG aus dem Jahr 2021 nicht einmal Erwähnung findet, in dem das BVerfG die Frage ausdrücklich offenließ, ob der von der NPD verwendete Slogan den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt.[27]

III. Leider kein Einzelfall

Da tröstet es wenig, dass auch andere mit dem Wahlplakat befasste Gerichte den Beschluss des BVerfG als taugliche Rechtfertigung ihrer Entscheidungsflucht missverstanden haben. So hat beispielsweise das LG Potsdam – ebenso wie anscheinend auch andere Strafgerichte[28] – hinsichtlich des gleichen Wahlplakats den Anfangsverdacht einer Straftat nach § 130 Abs. 1 StGB verneint, ohne das Plakat rechtlich selbst zu beurteilen; stattdessen verwies das LG Potsdam in grober Verkennung des Regelungsgehaltes von § 31 Abs. 1 BVerfGG auf die Bindungswirkung von den in seinen Entscheidungen vom 15.5.2019 und vom 24.5.2019 getroffenen "Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts", denen sich die Kammer "im Ergebnis" anschloss.[29] Abgesehen davon, dass die zweite Entscheidung nicht das Plakat, sondern einen Wahlwerbespot und damit einen völlig anderen Gegenstand betraf und der dürre Hinweis auf sie dem Landgericht schon allein deshalb keine rechtliche Befassung mit dem Plakat ersparen kann,[30] legt der Hinweis auf § 31 Abs. 1 BVerfGG Zeugnis ab von bemerkenswert mangelndem Sinn dafür, inwieweit Verfassungsgerichtsentscheidungen die Fachgerichtsbarkeit überhaupt binden können. Wer an einem deutschen Gericht rechtliche Entscheidungen zu treffen hat, sollte über die Reichweite der Bindungswirkung bundesverfassungsgerichtlicher Judikate nicht mehr belehrt werden müssen. Weil es nun aber kein Einzelfall ist und eine solche Belehrung offenbar vonnöten ist: Zwar trifft es im Ausgangspunkt zu, dass § 31 Abs. 1 BVerfGG auch eine Bindungswirkung in Parallelfällen in dem Sinne begründet, dass die staatlichen Hoheitsträger gehalten sind, in mit dem entschiedenen Fall vergleichbar gelagerten Fällen die vom BVerfG vorgegebenen verfassungsrechtlichen Maßgaben zu beachten.[31] An dieser Bindungswirkung nimmt aber – abgesehen von der Entscheidungsformel – nach herrschender wie zutreffender Auffassung nur jeder tragende Entscheidungsgrund teil,[32] also jeder Rechtssatz, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfiele. Unstreitig nicht von der Bindungswirkung erfasst sind demgegenüber obiter dicta, also bei Gelegenheit einer Entscheidung gemachte Rechtsausführungen, die außerhalb des Begründungszusammenhangs zwischen genereller Rechtsregel und konkreter Entscheidung stehen.[33] Zweifelhaft ist bereits, ob die Ausführungen des BVerfG betreffend die Einordnung des Wahlplakats als Volksverhetzung durch die Verwaltungsgerichte überhaupt Rechtssätze darstellen. Vor allem waren es aber keine tragenden, weil das BVerfG die Erfolgsaussichten in der Hauptsache, insbesondere die – möglicherweise anders tragfähig begründbare – verfassungsrechtliche Unzulässigkeit des Plakats ausdrücklich offenließ.[34] Bei dem vom BVerfG allein zum Ausdruck gebrachten Zweifel an der Tragfähigkeit der verwaltungsgerichtlichen Annahme, das Plakat sei als Volksverhetzung zu beurteilen, geht es darüber hinaus um einen rechtlichen Zweifel, den sich die Organe der Strafrechtspflege bei der Beurteilung des Anfangsverdachts nicht leisten dürfen: Rechtsfragen müssen sie vor der Bejahung eines Anfangsverdachts lösen.[35] Auch wenn die genaue strafrechtliche Einordnung für den Anfangsverdacht noch nicht feststehen muss, muss die Einordnung des mutmaßlichen Verhaltens als strafbar geklärt sein.[36]

D. Fazit

Solange nicht feststeht, wie weit in Meinungsfreiheitsfällen der auslegungsrelevante Kontext reicht und inwieweit bei der Bestimmung des Äußerungsinhalts der Äußerungszweck zu berücksichtigen ist, auch wenn er in der Äußerung selbst nicht zum Ausdruck kommt, und solange die Fachgerichte sich über die Reichweite der Bindungswirkung von Karlsruher Judikaten nicht im Klaren sind, haben rechte Parteien bei der Verbreitung ihrer Ideologie in Deutschland ein leichtes Spiel. Klarheit in der ersten Frage kann aber nur gewonnen werden, wenn alle Fachgerichte ernsthaft in eine Diskussion eintreten, das heißt sich weder ihrer Entscheidungspflicht entziehen noch klärende Entscheidungen höherer Gerichte, wo diese am Platz wären, hindern.


[*] Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Sanktionenrecht und Menschenrechte an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).

[1] BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24.5.2019 – 1 BvQ 45/19 –, juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 21.5.2019 – 20 L 1449/19 –, juris, und Urteil vom 29.4.2020 – 20 K 3926/19 –, juris; OVG Münster, Urteil vom 22.6.2021 – 5 A 1386/20 –, NWVBl 2022, 171; VG Gelsenkirchen, Gerichtsbescheid vom 16.7.2020 – 16 K 3211/19 –, juris; OVG Weimar, Beschluss vom 22.10.2019 – 3 EO 715/19 –, juris; LG Potsdam, Beschluss vom 20.12.2019 – 23 Qs 56/19 –, juris; VG Gießen, Urteil vom 9.8.2019 – 4 K 2279/19.GI –, juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 24.5.2019 – 11 ME 189/19 –, NordÖR 2019, 441; OVG Bautzen, Beschlüsse vom 23.5.2019 – 3 B 155/19 –, juris, und vom 21.5.2019 – 3 B 151/19 –, SächsVBl 2019, 234; VG Dresden, Beschluss vom 20.5.2019 – 6 L 385/19 –, juris.

[2] OVG Bautzen, Beschluss vom 23.5.2019 – 3 B 155/19 –, juris, Rn. 9.

[3] OVG Weimar, Beschluss vom 22.10.2019 – 3 EO 715/19 – juris, Rn. 6 ff.

[4] Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 5 Rn. 161, unter Hinweis auf BVerfGE 66, 116 (138).

[5] A.A. Enders JZ 2023, 872 (874).

[6] VG Düsseldorf, Urteil vom 29.4.2020 – 20 K 3926/19 –, juris.

[7] OVG Münster, Urteil vom 22.6.2021 – 5 A 1386/20 –, NWVBl 2022, 171. Mit Sicht darauf, dass es sich beim Plakat zugleich um ein Druckwerk, das dauerhaft einen gedanklichen Inhalt verkörpert, und damit um eine Schrift im Sinne von § 130 Abs. 2 i.V.m. § 11 Abs. 3 StGB handelt (Stein, in: SK-StGB, Bd. 3, 9.Aufl. 2019, § 130 Rn. 30, 40), könnte man (auch) an eine Strafbarkeit nach dem Vorbereitungstatbestand denken (diesen als "evident" vorrangig bejahend: OVG Bautzen, Beschluss vom 23.5.2019 – 3 B 155/19 –, juris, Rn. 9), der allerdings im Wege der Gesetzeskonkurrenz hinter Abs. 1 zurücktritt, weil die Tat durch Verbreiten von Schriften begangen wurde (Stein, in: SK-StGB, Bd. 3, 9.Aufl. 2019, § 130 Rn. 62).

[8] Fischer/Gärditz StV 2018, 491 (494).

[9] von der Decken, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, GG, 15. Aufl. 2022, Art. 5 Rn. 9.

[10] BVerfGE 7, 198 (208).

[11] BVerfGE 82, 272 (281).

[12] BVerfGE 93, 266 (294).

[13] Pohlreich JA 2020, 744 (746).

[14] BVerfGE 93, 266 (303).

[15] OVG Münster, Urteil vom 22.6.2021 – 5 A 1386/20 –, NWVBl 2022, 171 (176).

[16] OVG Münster, Urteil vom 22.6.2021 – 5 A 1386/20 –, NWVBl 2022, 171 (176); zust. Kalscheuer, NVwZ 2023, 1171.

[17] BVerfG, Beschlüsse v. 7.7.2020 – 1 BvR 479/20 –, juris, Rn. 15 = HRRS 2020 Nr. 842, Rn. 17, und v. 15.05.2019 – 1 BvQ 43/19 – juris, Rn. 12.

[18] OVG Münster, Urteil vom 22.6.2021 – 5 A 1386/20 –, NWVBl 2022, 171 (177), unter Hinweis auf BVerfGE 144, 20 (247 ff., 252 f., 311 ff.).

[19] OVG Münster, Urteil vom 22.6.2021 – 5 A 1386/20 –, NWVBl 2022, 171 (177).

[20] Das scheint auch Enders zu übersehen, wenn er von einem Verbot der Bezugnahme "auf einen allgemeinen ideologischen Hintergrund" ausgeht und hierauf gestützt dem BVerwG zustimmt, JZ 2023, 872 (875).

[21] Lenz/Hansel, BVerfGG, 3. Aufl. 2020, § 45 Rn. 9.

[22] Klein/Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 30 Rn. 23 (Dezember 1993).

[23] BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24.5.2019 – 1 BvQ 45/19 –, juris, Rn. 15.

[24] VG Dresden, Beschluss vom 20.5.2019 – 6 L 385/19 –, juris, Rn. 11.

[25] VG Dresden, Beschluss vom 20.5.2019 – 6 L 385/19 –, juris, Rn. 15.

[26] BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24.5.2019 – 1 BvQ 45/19 –, juris, Rn. 14.

[27] Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1.7.2021 – 2 BvR 890/20 –, NJW 2021, 2955 (2956), Rn. 17.

[28] Vgl. AG Garmisch-Partenkirchen, Beschluss vom 13.8.2019 – 2 Ds 12 Js 22133/19 –, unveröffentlicht, und LG München II, Beschluss vom 19.9.2019 – 1 Qs 23/19 –, unveröffentlicht. Diese Entscheidungen lagen dem Verfasser nicht vor, allerdings klingt ihre inhaltliche Wiedergabe in einer Entscheidung des OVG Weimar (Beschluss vom 22.10.2019 – 3 EO 715/19 –, juris), dem sie offenbar vorgelegen haben, so, als hätten das AG Garmisch-Partenkirchen und das LG München II es sich mit der Verneinung des hinreichenden Tatverdachts einer Straftat nach § 130 StGB mit ähnlicher Begründung leicht gemacht wie das LG Potsdam (vgl. OVG Weimar, a.a.O. Rn. 8).

[29] LG Potsdam, Beschluss vom 20.12.2019 – 23 QS 56/19 –, juris, Rn. 7 ff. und 14.

[30] In diesem Beschluss (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15.5.2019 – 1 BvQ 43/19 –, NVwZ 2019, 963) ging es freilich nicht um ein Wahlplakat, sondern um einen Wahlwerbespot der NPD.

[31] von Ungern-Sternberg, in: BeckOK BVerfGG, § 31 Rn. 31 (Juni 2023); Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 31 Rn. 75 (Februar 2019); Wieland, in: Dreier, GG, Bdl. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 94 Rn. 26 ff.

[32] Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 31 Rn. 96 (Februar 2019) m.w.N.

[33] von Ungern-Sternberg, in: BeckOK BVerfGG, § 31 Rn. 30 (Juni 2023).

[34] BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24.5.2019 – 1 BvQ 45/19 –, juris, Rn. 9, 10 und 15.

[35] Vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 152 Rn. 4c; Diemer, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl. 2023, § 152 Rn. 13; Peters, in: Münchener Kommentar, StPO, 2016, § 152 Rn. 50 und 67 m.w.N.; Beukelmann, in: BeckOK, StPO, § 152 Rn. 7 (Juli 2023).

[36] Scheinfeld/Willenbacher NJW 2019, 1357 (1358) m.w.N.