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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1241

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 1 BvR 2219/20, Beschluss v. 25.09.2023, HRRS 2023 Nr. 1241


BVerfG 1 BvR 2219/20 (1. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 25. September 2023 (OLG München)

Durchsuchung eines Universitätslehrstuhls zum Auffinden von Forschungsunterlagen (Forschungsprojekt zur „Islamistischen Radikalisierung im Justizvollzug“; Interview mit einem Strafgefangenen; Ermittlungsverfahren gegen den Gefangenen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland; Wissenschaftsfreiheit; Forschungsfreiheit; Vertraulichkeit von Daten im Rahmen wissenschaftlicher Forschungsprojekte; Abwägung mit den Belangen einer effektiven und funktionstüchtigen Strafrechtspflege; Bedeutung der Forschung für die Kriminalprävention); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Darlegungslast in Zweifelsfällen auch hinsichtlich der Wahrung der Monatsfrist).

Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; § 35 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StPO; § 103 StPO; § 105 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Anordnung der Durchsuchung eines Universitätslehrstuhls zum Auffinden der Protokolle eines Interviews, das der Lehrstuhlinhaber im Rahmen eines Forschungsprojekts zur „Islamistischen Radikalisierung im Justizvollzug“ mit einem Strafgefangenen geführt hatte, gegen den zwischenzeitlich wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland ermittelt wird, berücksichtigt das Gewicht und die Reichweite der Forschungsfreiheit nicht in angemessenem Maße, wenn das Gericht verkennt, dass der Eingriff die Forschung über das konkrete Interview hinaus beeinträchtigt und dass die betroffene Forschung von besonderer Bedeutung für die Kriminalprävention ist.

2. Die Forschungsfreiheit umfasst auch die Erhebung und Vertraulichkeit von Daten im Rahmen wissenschaftlicher Forschungsprojekte. Die staatlich erzwungene Preisgabe von Forschungsdaten hebt die Vertraulichkeit auf und erschwert oder verunmöglicht Forschungen, die auf vertrauliche Datenerhebungen angewiesen sind, wie dies in besonderem Maße bei kriminologischen Forschungen über Dunkelfelder oder Kontexte strafbarer Verhaltensweisen der Fall ist. Staatliche Zugriffe erschweren insoweit nicht nur die Fortführung des konkreten Projekts, sondern verschlechtern auch die Bedingungen für zukünftige Forschungsvorhaben.

3. Wie andere vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte kann die Wissenschaftsfreiheit aufgrund von kollidierendem Verfassungsrecht beschränkt werden. Hierzu gehören auch die Belange einer effektiven und funktionstüchtigen Strafrechtspflege als Zweck von Verfassungsrang. Bei der Abwägung der gegenläufigen Belange kommt der Wissenschaftsfreiheit umso höheres Gewicht zu, je stärker die Forschung auf die Vertraulichkeit bei Datenerhebungen und -verarbeitungen angewiesen ist. Dies gilt umso mehr, wenn die konkret betroffene Forschung der Gewinnung von Erkenntnissen über Dunkelfelder und kriminalitätsfördernde Dynamiken und damit letztlich gerade auch der effektiven Verhinderung von Straftaten dient.

4. Das Erfordernis einer ausreichenden Begründung der Verfassungsbeschwerde umfasst auch die Sachentscheidungsvoraussetzungen - wie etwa die Einhaltung der Frist nach § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG -, soweit nicht aus sich heraus erkennbar ist, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind. Dies erfordert bei formlos mitgeteilten letztinstanzlichen strafprozessualen (Beschwerde-)Entscheidungen insbesondere dann eine über die bloße Mitteilung des Bekanntgabezeitpunkts hinausgehende Darlegung zum Zugang der angegriffenen Entscheidung, wenn die Verfassungsbeschwerde erst mehr als einen Monat nach dem Datum der Entscheidung erhoben wird.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer, ein Universitätsprofessor, ist Inhaber eines Lehrstuhls an einem Institut für Psychologie. Er forscht in Projekten der empirischen Sozialforschung.

Im Rahmen eines Forschungsprojekts zur „Islamistischen Radikalisierung im Justizvollzug“ wurden im Justizvollzug Inhaftierte interviewt. Vorab wurden die Interviewpartner informiert, und es wurde ihnen Vertraulichkeit zugesichert. Im Informationsschreiben heißt es:

„Vorab möchten wir Sie wissen lassen, dass das, was sie uns erzählen, keine Folgen auf Ihre Strafe oder Ihre Zeit im Gefängnis hat. Sie werden deswegen keine Probleme bekommen. Wir haben Schweigepflicht und dürfen der Gefängnisleitung oder anderen Bediensteten nichts von dem erzählen, was sie uns sagen. Nur wenn Sie uns von einer geplanten Straftat erzählen, müssen wir das melden.“

Zu den mit den Inhaftierten einer Justizvollzugsanstalt (JVA) durchgeführten Interviews existierten - jeweils (noch) nicht anonymisiert beziehungsweise re-anonymisierbar - ein schriftliches Protokoll und ein elektronisch gesicherter Audiofile.

Die zuständige Ermittlungsrichterin am Oberlandesgericht ordnete mit einem Beschluss eine Durchsuchung der Räumlichkeiten des Lehrstuhls des Beschwerdeführers nach Tonbandaufnahmen, schriftlichen Unterlagen, Computer- beziehungsweise Speicheranlagen sowie sonstigen Gegenständen, insbesondere einem Gesprächsprotokoll, mit Bezug zu einem Interviewten und dem zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossenen Forschungsprojekt an. Zudem wurde die Beschlagnahme der Gegenstände angeordnet, sofern keine freiwillige Herausgabe erfolge. Begründet wurde der Beschluss damit, dass gegen eine im Rahmen des Projekts interviewte Person der Verdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland bestünde. Ihr wird vorgeworfen, sich an einer Vereinigung im Ausland, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet seien, Mord und Totschlag zu begehen, als Mitglied beteiligt zu haben.

Hiergegen erhob der Beschwerdeführer eine Beschwerde. Die Ermittlungsrichterin half der Beschwerde nicht ab. Mit Beschluss wies das Oberlandesgericht die Beschwerde als unbegründet zurück. Zur Begründung führte der Senat in der Beschwerdeentscheidung aus, dass dem Beschwerdeführer weder ein einfachgesetzliches noch ein unmittelbar aus der Verfassung abgeleitetes Zeugnisverweigerungsrecht zustehe. Wissenschaftliche Tätigkeiten fielen nicht unter das Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StPO. Dies ergebe sich insbesondere aus dem der Gesetzesbegründung zu entnehmenden gesetzgeberischen Willen und aus teleologischen Gründen. So wäre etwa der Quellenschutz, auf den die Medien angewiesen seien, für die Wissenschaft angesichts des dort geltenden Transparenzgebots nicht gleichermaßen bedeutsam. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gebiete weder eine andere Auslegung noch folge hieraus ein strafprozessuales Durchsuchungs- und Beschlagnahmeverbot. Die Maßnahme rechtfertigendes kollidierendes Verfassungsrecht sei vorliegend die Verpflichtung des Staates zu einer funktionierenden Strafrechtspflege und zur Verfolgung schwerer Straftaten. Eine Ausweitung der strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechte sei Sache des Gesetzgebers und erfolge grundsätzlich nicht durch eine erweiternde Auslegung oder eine analoge Anwendung der einschlägigen Vorschriften. Selbst wenn dennoch eine Abwägung zwischen der Forschungsfreiheit einerseits und dem Strafverfolgungsauftrag andererseits geboten sein sollte, fiele die Abwägung zu Lasten der Forschungsfreiheit aus. Auf der Seite der Strafverfolgung stehe der Tatvorwurf eines Verbrechentatbestands. Auf Seiten des Beschwerdeführers sei zwar die Forschungsfreiheit zu berücksichtigen. Jedoch sei das Interview mit dem Beschuldigten bereits abgeschlossen gewesen, sodass die Forschungstätigkeit nicht behindert worden sei. Zum anderen seien allenfalls zukünftige, bisher nicht konkretisierte Projekte mit gleichartiger Forschungsmethodik gefährdet, falls potenzielle Interviewpartner nun ihre Teilnahme verweigerten. Dies stelle jedoch eine bloße nicht konkretisierte Erwartung dar. Die Forschungsfreiheit sei somit nur unerheblich beeinträchtigt worden und trete hinter dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse zurück. Zudem sei der Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss auch verhältnismäßig gewesen.

II.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG durch die Entscheidungen des Oberlandesgerichts. Durch die angeordnete Durchsuchung und Beschlagnahme sei zumindest mittelbar und faktisch in relevanter Weise in die Forschungsfreiheit des Beschwerdeführers eingegriffen worden. Das Forschungsprojekt beziehungsweise zukünftige, gleichgelagerte Projekte seien gefährdet. Interviewpartner könnten ihre Teilnahme aufkündigen beziehungsweise aus Angst davor verweigern, dass auch ihre Interviews beschlagnahmt werden könnten. Der Eingriff sei auch nicht gerechtfertigt. Die Wissenschaftsfreiheit sei schrankenlos gewährleistet. Die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege, die dem Rechtsstaatsprinzip zuzuordnen sei, sei nicht ohne Weiteres und voraussetzungslos geeignet, ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht einzuschränken. Der Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit erweise sich als unverhältnismäßig. Das Oberlandesgericht gehe von falschen Wertungen aus, indem einerseits auf die „Schwere der Tat und die Stärke des Tatverdachts“ abgestellt werde, während andererseits die Forschungsfreiheit „lediglich unerheblich beeinträchtigt“ sei. Eine Fernwirkung des Eingriffs für vergleichbar forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sei auch zu berücksichtigen.

III.

Dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat, dem Bundeskanzleramt, dem Bundesministerium des Innern und für Heimat, dem Bundesministerium der Justiz, der Bayerischen Staatskanzlei, dem Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration, dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst sowie dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz wurden Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Gelegenheit zur Stellungnahme wurde auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem Wissenschaftsrat, der Kriminologischen Gesellschaft e.V. (KrimG), der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ) sowie dem Max-Planck-Institut als sachkundigen Dritten gegeben. Der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, das Bundeskanzleramt und das Bundesministerium des Innern und für Heimat haben jeweils keine Stellungnahme abgegeben. Die übrigen Äußerungsberechtigten haben eine Stellungnahme abgegeben. Die eingegangenen Stellungnahmen und Fehlanzeigen sind dem Bevollmächtigten des Beschwerdeführers übermittelt worden.

Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen vor.

IV.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 BVerfGG), weil sie unzulässig ist. Die Verfassungsbeschwerde genügt nicht den aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgenden Begründungsanforderungen hinsichtlich der Fristwahrung.

1. a) Die Begründungsanforderungen aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG verlangen, dass eine beschwerdeführende Person innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zu den Sachentscheidungsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde vorträgt, soweit deren Vorliegen nicht aus sich heraus erkennbar ist. Hierzu gehört im Zweifelsfall auch die schlüssige Darlegung, dass die Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG eingehalten ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. September 2019 - 1 BvR 1700/19 -, Rn. 3; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. April 2022 - 2 BvR 1705/20 -, Rn. 1; jeweils m.w.N.). Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass die beschwerdeführende Person bereits vor dem angegebenen Zeitpunkt Kenntnis von dem Inhalt der angegriffenen Entscheidung erhalten hat, ist ein Vortrag erforderlich, der über die Mitteilung des Bekanntgabezeitpunkts hinausgeht (vgl. BVerfGK 14, 468 <469>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. September 2012 - 2 BvR 1586/12 -).

b) Der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers hat die Verfassungsbeschwerde mehr als einen Monat nach dem Datum der Beschwerdeentscheidung, durch deren Zugang oder formloser Mitteilung die Verfassungsbeschwerdefrist in Gang gesetzt wurde (vgl. § 93 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG), erhoben. Im Strafprozess erfolgt die Bekanntmachung von Entscheidungen von Amts wegen wahlweise durch Zustellung oder formlose Mitteilung, wenn die Entscheidung - wie hier - nicht in Anwesenheit der betroffenen Person ergeht und keine strafprozessuale Frist in Gang setzt (vgl. § 35 Abs. 2 Satz 2 StPO). Vorliegend ergibt sich weder aus den vorgelegten Unterlagen noch aus dem Beschwerdevorbringen ohne Weiteres, wann die letztinstanzliche Entscheidung zugegangen ist. Der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers verweist zur Darlegung des Zugangszeitpunktes auf einen Eingangsstempel seiner Kanzlei, der jedoch auf der vorgelegten Ausfertigung der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts nicht zu finden ist.

2. In der Sache bestehen jedoch erhebliche Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Entscheidungen. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass bei jeder strafprozessualen Eingriffsmaßnahme im Einzelfall der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein muss (vgl. zur Zeugenvernehmung BVerfGE 33, 367 <374 f.>; 38, 312 <325>; zur Beschlagnahme BVerfGE 34, 238 <248 ff.>; 44, 353 <372 ff.>; zur Wohnungsdurchsuchung BVerfGE 96, 44 <51>; 113, 29 <52 ff.>; 115, 166 <197 ff.>; 124, 43 <66 f.>; zu körperlichen Untersuchungen BVerfGE 16, 194 <201 f.>; 17, 108 <117>; 27, 211 <219>; zur Auskunft über Telekommunikationsverkehrsdaten BVerfGE 107, 299 <323 f.>; zur Kombination verschiedener verdeckter Ermittlungsmaßnahmen BVerfGE 112, 304 <321>; zur präventiv-polizeilichen Wohnraumüberwachung BVerfGE 130, 1 <37 f.>). Zwar erkennt zumindest das Beschwerdegericht, dass die Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) zu berücksichtigen und mit der verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten, in Ausgleich zu bringen ist (vgl. zur präventiv-polizeilichen Wohnraumüberwachung BVerfGE 130, 1 <26, 37 f.> m.w.N.). Jedoch werden Gewicht und Reichweite der Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) nicht angemessen berücksichtigt. Wenngleich die Bewertung der befassten Gerichte zur Verhältnismäßigkeit der Eingriffsmaßnahme nicht zur vollständigen Überprüfung des Bundesverfassungsgerichts steht, können aber ein vollständiges Unterlassen jedweder Erwägungen (vgl. BVerfGE 30, 173 <197>; 59, 231 <270>; 97, 391 <406>; 106, 28 <50>), grobe Fehleinschätzungen (vgl. BVerfGE 30, 173 <197>) oder eine Verkennung des Grundrechtseinflusses, auf der die Entscheidung beruht (vgl. BVerfGE 95, 28 <37>; 97, 391 <401>), durch das Bundesverfassungsgericht beanstandet werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Februar 2008 - 2 BvR 583/07 -, Rn. 2).

a) Die Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) umfasst auch die Erhebung und Vertraulichkeit von Daten im Rahmen wissenschaftlicher Forschungsprojekte als Bestandteil der Prozesse und Verhaltensweisen bei der Suche nach Erkenntnissen (vgl. BVerfGE 35, 79 <112>; 47, 327 <367>; 90, 1 <11 f.>; 111, 333 <354>; hierzu auch Gärditz, StV 2020, S. 716 <719>). Gerade empirische Forschung ist regelmäßig auf die Erhebung von Daten angewiesen und insbesondere aussagefähige sensible Daten können von den Betroffenen oftmals nur unter der Bedingung von Vertraulichkeit erhoben werden. Soweit es, wie hier, um kriminologische Forschungen über Dunkelfelder oder Kontexte strafbarer Verhaltensweisen geht, ist dies offenkundig. Die vertrauliche Datenerhebung gehört zur geschützten wissenschaftlichen Methode. Die staatlich erzwungene Preisgabe von Forschungsdaten hebt die Vertraulichkeit auf und erschwert oder verunmöglicht insbesondere Forschungen, die, wie das hier betroffene Forschungsprojekt, auf vertrauliche Datenerhebungen angewiesen sind. Bei laufenden Forschungsprojekten betrifft dies schon die Fortführung der konkreten Projekte. Darüber hinaus verschlechtern alle staatlichen Zugriffsrechte auch die Bedingungen für zukünftige Forschungen, die auf vertrauliche Datenerhebungen angewiesen sind.

b) Die Wissenschaftsfreiheit kann, wie andere vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte, aufgrund von kollidierendem Verfassungsrecht beschränkt werden (vgl. BVerfGE 47, 327 <369>; 57, 70 <99>; 122, 89 <107>), wobei es grundsätzlich auch insoweit einer gesetzlichen Grundlage bedarf (vgl. BVerfGE 83, 130 <142>; 107, 104 <120>; 122, 89 <107>). Ein Konflikt zwischen verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten ist unter Rückgriff auf weitere einschlägige verfassungsrechtliche Bestimmungen und Prinzipien sowie auf den Grundsatz der praktischen Konkordanz durch Verfassungsauslegung zu lösen (vgl. BVerfGE 47, 327 <369>; 122, 89 <107>).

c) Soweit das Beschwerdegericht davon ausgeht, die Forschungsfreiheit sei vorliegend nur unerheblich beeinträchtigt worden, erfasst es die Auswirkungen auf das konkrete Forschungsprojekt, aber auch die Folgen für die Wissenschaftsfreiheit darüber hinaus nicht angemessen. Es verkennt, dass die Daten weder aus Gründen der Wissenschaft auf Veröffentlichung angelegt waren, noch primär die Eingriffswirkung auf das konkrete Interview hätte beschränkt werden dürfen. Vielmehr kommt der Wissenschaftsfreiheit bei der Abwägung ein umso höheres Gewicht zu, je stärker das konkrete Forschungsvorhaben und bestimmte Forschungsbereiche auf die Vertraulichkeit bei Datenerhebungen und -verarbeitungen angewiesen sind. Auch hätte gerade der Zusammenhang zwischen der konkret betroffenen Forschung und dem gegenläufigen Belang der Strafrechtspflege berücksichtigt werden müssen. Die effektive und funktionstüchtige Strafrechtspflege ist zwar ein Zweck von Verfassungsrang (vgl. zur präventiv-polizeilichen Wohnraumüberwachung BVerfGE 130, 1 <26, 36 f.> m.w.N.). Für das Gewicht dieses Zwecks ist vorliegend aber zu berücksichtigen, dass die betroffene Forschung auch für die Rechtsstaatlichkeit von besonderer Bedeutung ist. Eine rationale Kriminalprävention ist in hohem Maße auf Erkenntnisse über Dunkelfelder und kriminalitätsfördernde Dynamiken angewiesen. Eine effektive Verhinderung von Straftaten setzt deshalb genau jene Forschung voraus, die durch den Zugriff auf ihre Daten zum Zwecke der konkreten Strafverfolgung erheblich erschwert oder verunmöglicht wird.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1241

Bearbeiter: Holger Mann