Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Aug./Sept. 2016
17. Jahrgang
PDF-Download
1. Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff „Haftbefehl“ dahin zu verstehen ist, dass er einen nationalen Haftbefehl bezeichnet, der nicht mit dem Europäischen Haftbefehl identisch ist. (EuGH)
2. Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die voll-
streckende Justizbehörde einen Europäischen Haftbefehl, der auf dem Vorliegen eines „Haftbefehls“ im Sinne dieser Bestimmung gestützt ist, jedoch keine Angabe über das Vorliegen eines nationalen Haftbefehls enthält, nicht vollstrecken darf, wenn sie unter Berücksichtigung der gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in geänderter Fassung vorgelegten Informationen sowie aller anderen ihr zur Verfügung stehenden Informationen feststellt, das [sic!] der Europäische Haftbefehl nicht gültig ist, weil er ausgestellt wurde, ohne dass tatsächlich ein nationaler Haftbefehl ausgestellt worden war, der nicht mit dem Europäischen Haftbefehl identisch ist. (EuGH)
3. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist, wie sich aus ihrem Art. 51 Abs. 1 ergibt, von den Mitgliedstaaten und damit von ihren Gerichten bei der Durchführung des Unionsrechts anzuwenden; dies ist der Fall, wenn die ausstellende Justizbehörde und die vollstreckende Justizbehörde die zur Umsetzung des RBEuHB ergangenen nationalen Bestimmungen anwenden. (Bearbeiter)
4. Der Beachtung des in Art. 8 Abs. 1 Buchst. c RBEuHB aufgestellten Erfordernisses, dass dem Europäischen ein nationaler Haftbefehl zugrunde liegt, kommt besondere Bedeutung zu, weil es impliziert, dass, wenn der Europäische Haftbefehl im Hinblick auf die Festnahme und Übergabe einer zum Zweck der Strafverfolgung gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat ausgestellt wird, diese Person bereits in einem ersten Stadium des Verfahrens in den Genuss der Verfahrens- und Grundrechte kommen konnte, deren Schutz die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats nach dem anzuwendenden nationalen Recht, insbesondere im Hinblick auf den Erlass eines nationalen Haftbefehls, zu gewährleisten hat. (Bearbeiter)
5. Das System des Europäischen Haftbefehls enthält aufgrund dieses in Art. 8 Abs. 1 Buchst. c RBEuHB aufgestellten Erfordernisses einen zweistufigen Schutz der Verfahrens- und Grundrechte, der der gesuchten Person zugutekommen muss, da zu dem gerichtlichen Schutz auf der ersten Stufe beim Erlass einer nationalen justiziellen Entscheidung wie eines nationalen Haftbefehls der Schutz hinzukommt, der auf der zweiten Stufe bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls, zu der es gegebenenfalls kurze Zeit nach dem Erlass dieser nationalen justiziellen Entscheidung kommen kann, zu gewährleisten ist. An diesem zweistufigen gerichtlichen Schutz fehlt es grundsätzlich in einem Fall, in dem ein sogenanntes „vereinfachtes“ Verfahren zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zur Anwendung kommt, in dem ein Europäischer zugleich als Inlandshaftbefehl erlassen wird, weil dieses impliziert, dass vor der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls keine durch eine nationale Justizbehörde getroffene Entscheidung – etwa der Erlass eines nationalen Haftbefehls –, auf die sich der Europäische Haftbefehl stützt, ergangen ist. (Bearbeiter)
6. Grundsätzlich ist die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde nur in den abschließend aufgezählten Fällen möglich, in denen sie nach Art. 3 RBEuHB abzulehnen ist oder nach den Art. 4 und 4a RBEuHB abgelehnt werden kann. Außerdem kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nur an eine der in Art. 5 RBEuHB erschöpfend aufgeführten Bedingungen geknüpft werden. (Bearbeiter)
7. Werden aber die Anforderungen an die Ordnungsmäßigkeit eines Europäischen Haftbefehls nicht erfüllt, muss die Nichterfüllung dieser Anforderung grundsätzlich dazu führen, dass die vollstreckende Justizbehörde diesen Haftbefehl nicht vollstreckt, da die Gründe der Nichtvollstreckung (Art. 3, 4, 4a, 5 RBEuHB) auf der Annahme beruhen, dass die vorgesehenen Anforderungen an die Ordnungsmäßigkeit erfüllt sind. (Bearbeiter)
8. Vor dem Erlass einer Nichtvollstreckungsentscheidung wegen der möglichen fehlenden Ordnungsmäßigkeit eines Europäischen Haftbefehls, die schon ihrer Natur nach im Rahmen der Anwendung des von diesem Rahmenbeschluss eingeführten Systems, das auf den Grundsätzen der Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens beruht, die Ausnahme bleiben muss, muss die Vollstreckungsbehörde nach Art. 15 Abs. 2 RBEuHB die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen bitten, um die Ordnungsmäßigkeit des Europäischen Haftbefehl prüfen zu können. (Bearbeiter)
1. Unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen Werturteile sowie Tatsachenbehauptungen, soweit diese zur Bildung von Meinungen beitragen. Geschützt sind nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen; vielmehr darf gerade Kritik auch pointiert, polemisch und überspitzt geäußert werden.
2. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit findet seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch die Strafvorschriften der §§ 185, 193 StGB gehören. Bei deren Auslegung und Anwendung haben die Fachgerichte den wertsetzenden Gehalt des Grundrechts interpretationsleitend zu berücksichtigen. Dies verlangt grundsätzlich eine auf den Einzelfall bezogene Abwägung zwischen dem Gewicht der Persönlichkeitsbeeinträchtigung einerseits und der Einschränkung der Meinungsfreiheit andererseits.
3. Eine Abwägung ist allerdings regelmäßig entbehrlich, soweit es um herabsetzende Äußerungen geht, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähkritik darstellen. Hiervon darf wegen der für die Meinungsfreiheit ein-
schneidenden Folgen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen ausgegangen werden. Auch eine überzogene oder sogar ausfällige Kritik macht eine Äußerung erst dann zur Schmähung, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht.
4. Bezeichnet der Verteidiger in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren die zuständige Staatsanwältin gegenüber einem Journalisten ausfallend scharf und in einer ihre Ehre beeinträchtigenden Weise, so kann darauf eine Verurteilung wegen Beleidigung ohne Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht nur gestützt werden, wenn unter Ausschluss anderer Deutungsmöglichkeiten ein fehlender Verfahrensbezug der Äußerungen dargelegt wird.
5. Allerdings ist ein Anwalt grundsätzlich nicht berechtigt, aus Verärgerung über von ihm als falsch angesehene Maßnahmen eines Staatsanwalts diesen – insbesondere gegenüber der Presse – mit Beschimpfungen zu überziehen. Insoweit muss sich im Rahmen der Abwägung grundsätzlich das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen durchsetzen.
1. Bei der Frage, ob eine Äußerung ihrem Schwerpunkt nach als Meinungsäußerung oder als Tatsachenbehauptung anzusehen ist, sind nicht die Äußerungsteile isoliert zu betrachten, sondern ist die Äußerung in ihrem Gesamtzusammenhang zu bewerten. Soweit eine Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile einer Äußerung nicht ohne Verfälschung ihres Sinns möglich ist, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden.
2. Ein Strafgericht verkennt Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit, wenn es eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung einstuft, mit der Folge, dass sie dann nicht in demselben Maß am Grundrechtsschutz teilnimmt wie eine Äußerung, die als Werturteil anzusehen ist.
3. Bezeichnet ein Betroffener einen Polizeibeamten, der ihn in der Vergangenheit mehrmals anlasslos kontrolliert hat und von dem er sich beobachtet fühlt, in einem Eintrag auf seiner Facebook-Seite als „Spanner“, so handelt es sich nicht um eine dem Beweis zugängliche Tatsachenbehauptung, sondern um eine vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erfasste Meinung. Inwieweit eine solche Äußerung gerechtfertigt ist, haben die Fachgerichte nach Maßgabe einer Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht zu entscheiden.
1. Das Rechtsschutzbedürfnis für die (verfassungsgerichtliche) Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch dann fort, wenn die angegriffene Entscheidung nicht mehr die aktuelle Grundlage der Unterbringung bildet, weil zwischenzeitlich eine erneute Fortdauerentscheidung ergangen ist.
2. Die von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person, die unter den Grundrechten einen hohen Rang einnimmt, darf nur aus besonders gewichtigen Gründen eingeschränkt werden, zu denen in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts – einschließlich der Unterbringung eines nicht oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters im psychiatrischen Krankenhaus – zählen.
3. Bei der Prüfung der Aussetzungsreife einer Maßregel ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen, indem die Sicherungsbelange der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Betroffenen einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und gegeneinander abgewogen werden. Dabei ist die von dem Täter ausgehende Gefahr zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen.
4. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.
5. Zu verlangen ist eine einzelfallbezogene Konkretisierung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen. Dabei ist auf das frühere Verhalten des Untergebrachten, die von ihm bislang begangenen Taten, die seit Anordnung der Maßregel eingetretenen Umstän-
de, den Zustand des Untergebrachten sowie seine künftig zu erwartenden Lebensumstände abzustellen.
6. Ein Fortdauerbeschluss genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, wenn er bereits den der Verhältnismäßigkeitsprüfung zugrunde gelegten Maßstab nicht erkennen lässt und insbesondere nicht erörtert, welche Konsequenzen sich daraus ergeben, dass der Betroffene sich bereits seit über 20 Jahren im Maßregelvollzug befindet.
7. Die von einem Untergebrachten ausgehende Gefahr ist nicht hinreichend konkretisiert, wenn die Strafvollstreckungskammer lediglich ausführt, es seien „Sexualstraftaten zum Nachteil von Mädchen beziehungsweise Frauen“ zu erwarten, ohne diese näher zu konkretisieren und darzulegen, ob etwa eine Gewaltanwendung zu befürchten ist. In einem solchen Fall lässt sich die Erwartung hinreichend schwerer Sexualdelikte auch nicht auf sexuell motivierte Telefonanrufe des Untergebrachten bei Frauen und Kindern stützen, die mehrere Jahre zurückliegen und denen überwiegend keine strafrechtliche Relevanz zukam.
8. Eine Fortdauerentscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen auch dann nicht, wenn sie sich nicht damit auseinandersetzt, dass bei dem Untergebrachten durchgreifende Behandlungserfolge bezüglich seines Störungsbildes kaum noch zu erwarten sind. Wenngleich im Rahmen einer Maßregel nach § 63 StGB der Zweck der Besserung hinter dem der Sicherung zurücktreten kann, darf die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus nicht einer nicht angeordneten – und qualitativ andersartigen – Sicherungsverwahrung gleichkommen.
1. Ein Beschwerdegericht verletzt den Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör, wenn es ihm vor der Entscheidung über seine Beschwerde gegen einen Durchsuchungsbeschluss die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft nicht zur Kenntnis gibt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Stellungnahme im konkreten Fall Einfluss auf das Entscheidungsergebnis gewinnen kann oder nicht.
2. Der Gehörsverstoß wird jedoch durch die Entscheidung über eine Anhörungsrüge des Beschuldigten geheilt, wenn das Beschwerdegericht dabei dessen weiteres Vorbringen berücksichtigt. Die Fortführung des Beschwerdeverfahrens kann allerdings geboten sein, wenn der Gehörsverstoß durch bloß ergänzende Erwägungen zum Vorbringen in der Anhörungsrüge nicht zu heilen ist, wie etwa beim Übergehen eines erheblichen Beweisantrags.
1. Eine Verurteilung wegen der Nichtbefolgung einer Auflage bei einer Versammlung erfordert eine umfassende Prüfung der Rechtmäßigkeit der Auflage durch die Strafgerichte. Dabei ist auch die Verhältnismäßigkeit der Auflage in den Blick zu nehmen.
2. Insbesondere bei Großdemonstrationen dürfen die Versammlungsbehörden nicht schematisch und ohne Rücksicht auf die Möglichkeiten des Veranstalters eine feste Relation von Ordnern und Versammlungsteilnehmern vorgeben; denn eine versammlungsrechtliche Auflage darf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht leerlaufen lassen.
3. Eine Auflage darf jedoch als rechtmäßig beurteilt werden, wenn weder substantiiert vorgetragen noch sonst für die Versammlungsbehörde erkennbar ist, dass die Erfüllung der Auflage für den Veranstalter im Einzelfall unzumutbar ist.
1. Um den mit einer Durchsuchung verbundenen schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte räumliche Lebenssphäre des Einzelnen messbar und kontrollierbar zu gestalten, muss der Durchsuchungsbeschluss den Tatvorwurf und die konkreten Beweismittel so beschreiben, dass der äußere Rahmen für die Durchsuchung abgesteckt wird. Der Richter muss die aufzuklärende Straftat, wenn auch kurz, doch so genau umschreiben, wie es nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist.
2. Ein Durchsuchungsbeschluss genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, wenn konkrete Angaben zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt und zu der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat vollständig fehlen, obwohl sie nach dem Ergebnis der Ermittlungen ohne Weiteres möglich und den Zwecken der Strafverfolgung auch nicht abträglich gewesen wären.
3. Im Beschwerdeverfahren sind Mängel bei der Umschreibung des Tatvorwurfs und der zu suchenden Be-
weismittel nicht mehr heilbar. Andernfalls würde die Funktion des Richtervorbehalts unterlaufen, eine vorbeugende Kontrolle der Durchsuchung durch eine unabhängige und neutrale Instanz zu gewährleisten und durch die Beschreibung des Tatvorwurfs eine Begrenzung der Maßnahme zu erreichen.